Das ägyptische Kino ist nur noch ein Schatten seines einst glamourösen Lichtspiels.

Es war einmal in Hollywood Ost. Glamour, Gesang und Tanz; Beduinen, Küsse in der Wüste, Omar Sharif. Alle Ägypter liebten das Kino und Ägyptens Kino wurde von allen geliebt. Mitte des 20. Jahrhunderts war die ägyptische Filmindustrie nicht nur die wichtigste des Nahen Ostens, sondern gehörte zu den grössten weltweit. Sie bereicherte das Land: kulturell und wirtschaftlich. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war Film der zweiteinträglichste Industriezweig nach den Textilien. Baumwolle war weisses Gold, Zelluloid war silber. Es wurden rund 48 inländische Filme pro Jahr produziert; die Bevölkerungszahl betrug damals gegen 19 Millionen Menschen.

Der berühmte Schauspieler Youssef Wahby (1898-1982) begann seine Karriere im Goldenen Zeitalter des ägyptischen Films. Hier mit Nour al Hoda im Film Berlanti © public domain

Heute im Studio Misr. Im berühmtesten und ältesten kompletten Filmstudio Ägyptens gehen sämtliche Bildschirme aus. Ein Stromausfall. „Ich hasse mich“, sagt die Produzentin Mona Assaad. Die letzten vier Tage hätten sie überhaupt keinen Strom gehabt. Die Wahrheit ist seltsamer als die Fiktion, vor allem in Ägypten; ein besseres Bild für den Zustand der Filmindustrie hätte nicht einmal ein Relotius erfinden können. Wobei die Toilettenschüsseln in der Auslage des Sanitärgeschäfts unmittelbar neben dem Eingang zum Studiokomplex zu noch hämischeren Metaphern verleiten lassen.

Eingang zum Studio Misr © Susanna Petrin

Studio Misr war schon immer ein Synonym für den ägyptischen Film, Hunderte sind hier entstanden. Ein Freiluft-Filmset auf dem Gelände sieht aus wie ein Stadtteil Kairos. Doch seit einigen Jahren würden immer seltener Spielfilme hier gedreht, sagt Mona Assaad, vielmehr Fernsehserien und Werbefilme. Man sei froh, wenn der Verleih des Tonstudios und des Sets etwas Geld einbringe. Eigenproduktionen beschränkten sich auf ein Minimum. Eher noch kümmere man sich um die Postproduktion der Filme anderer.

Die Zahl der ägyptischen Filme ist in diesem Jahr auf 21 geschrumpft, die Bevölkerung dagegen auf 100 Millionen angewachsen. Statt fünf Mal mehr, kommen 50 Prozent weniger Filme heraus als noch vor 70 Jahren. Seit der 125-jährigen Filmgeschichte des Landes ist 2019 so ziemlich das schwächste Jahr. „Der ägyptische Film liegt im Sterben“, sagt die  junge Filmemacherin Dana Enani, deren Kurzfilm im Mai in Oberhausen lief. Sie habe ihn mit Papas Geld finanziert. Sie hoffe, sie werde von ihrem Heimatland als Filmemacherin nicht so behandelt, dass sie gezwungen sein werde, zu emigrieren. Viele der Besten haben das Land bereits verlassen.

Das ist das Hauptproblem der hiesigen Kinoindustrie: Es gibt kein Geld. Keine direkten Subventionen vom Staat. Kaum private Fördergelder. Schon seit 2009 geht es der Wirtschaft schlecht, während der Revolutionsjahre kam vieles ganz zum Stillstand. Die Baisse widerspiegelt sich in der Produktion ebenso wie im Konsum. Immer weniger Menschen können sich die teurer gewordenen Kinotickets leisten. Auf der anderen Seite kann kaum jemand im Filmbusiness von seinem Beruf allein leben, fast alle müssen sich mit Brotjobs etwas dazuverdienen. Das verlangsamt das gesamte Filmschaffen. Weltweite Probleme - Netflix, Streaming, Piraterie - treten noch stärker zu Tage. Hinzu kommen hohe Steuern auf technische Geräte, Bürokratie und Zensur.

Studio Misr - ein Bild des Niedergangs © Susanna Petrin

Die gesamte politisch repressive Umgebung ist der Kreativität nicht eben bekömmlich, sagt der Filmkritiker Adham Youssef, es gebe viel Angst und Selbstzensur. Für Wagemut bleibt kaum Raum. Bei den wenigen Filmen, die überhaupt noch herauskommen, versuchen deren Macher meist auf Nummer sicher zu gehen: mit Actionfilmen oder Komödien nach bekannten Mustern.

Wo es schon der Mainstream schwer hat, da ist die Lage für Independent-Filme fast hoffnungslos. Weil es in Ägypten für unabhängige Filmschaffende kaum etwas zu holen gibt, beantragen diese Fördergelder im Ausland. Doch das führe zu einer Art Umkehrproblem der Zensur, wie Adham Youssef beobachtet: „Filmemacher wissen, dass ein eingereichtes Skript bei den europäischen Institutionen bessere Chancen hat, je mehr es deren Erwartungen entspricht.“ LGBT-Themen und soziale Diskriminierung etwa kämen gut an. „Nichts gegen diese Themen! Aber so entsteht ein einseitig verzerrtes Bild Ägyptens basierend auf einem Aussenblick.“

Der nichtkommerzielle Sektor betrage noch 5 Prozent, sagt die Ökonomin Shrouk el Shennawy, die eine Doktorarbeit über Ägyptens Filmindustrie verfasst hat und nun an der Universität Oxford weiter recherchiert. Sie ist die Spezialistin für Zahlen, die ansonsten schwer herauszufinden sind. Ihre aktuelle Statistik bestätigt die schlimmsten Ahnungen: 30 Millionen ägyptische Pfund haben Ticketeinnahmen 2005 eingebracht, 2018 waren es nur noch 13 Millionen. 50 Prozent des Profits an den Kinokassen rührten 2018 von ausländischen, vor allem amerikanischen, Filmen her. Noch vor 15 Jahren habe das Verhältnis 80 zu 20 für den ägyptischen Film betragen, sagt Shrouk el Shennawy. Ein grosses Problem sei, dass die inländischen Firmen kaum Marketing und keine Publikumsforschung betrieben. „Sie wissen nicht, wer ihr Publikum ist, was es sehen will und wieviel es dafür zu zahlen bereit ist.“

In den USA dagegen werde enorm viel in die Erforschung des Publikums investiert, in aufstrebenden jungen Filmländern wie Korea ein geniales Marketing aufgezogen. Andere kleine Filmnationen, etwa Jordanien, böten ausländischen Filmschaffenden attraktive Bedingungen an, in ihrem Land zu filmen. Das fördere wiederum den Austausch und den Tourismus. All das sollte Ägypten sich gemäss der jungen Forscherin zum Vorbild nehmen. Nicht zuletzt lägen 90 Prozent der rund 450 Kinosäle in Kairo. Es gäbe Distrikte in Ägypten mit nur 1, 2 Kinos. Auch das sollte sich ändern.

Dabei gehörte Ägypten am Anfang noch zu den ersten und besten. Nur wenige Monate nach der ersten Filmvorführung der Welt in Paris wurden die Filme der Brüder Lumière auch in Alexandria gezeigt. Der Film stiess hierzulande auf fruchtbaren Boden, eine internationale, offene Gesellschaft entwickelte diese Industrie rasch weiter. Zwischen 1940 und 1960 hatte sie ihre Hochphase erreicht. Dann kam die Verstaatlichung unter Nasser, dann gab Sadat Gegensteuer und es kam die Privatisierung. Doch auch die Muslimbrüder wurden stärker, Kino hielten viele von ihnen für Sünde. Dann kamen die 80er Jahre. Noch gab es einzelne Höhepunkte, noch brachte das Land immer wieder Ausnahmetalente hervor, die von Ausnahmetalenten aus der guten Zeit ausgebildet worden waren.

Neuer Kinosaal im Filminstitut mit Regisseur und Dozent Sherif Amasha © Susanna Petrin

Die Gesichter von Filmstars aus besseren Zeiten schmücken die Mauer rund um das Higher Institute of Cinema an der Pyramids Road. Es ist die älteste Filmschule des Nahen Ostens, etabliert im Jahr 1959. Rund 750 junge Frauen und Männer studieren hier in einer der sieben Abteilungen von Regie bis Ton. „Ich lehre meinen Studenten, dass sie in starke Geschichten vertrauen sollen“, sagt Sherif Amasha, Filmregisseur und Lehrer: „Aber ich weiss gerade nicht, ob es für das, was ich ihnen beibringe, einen Platz geben wird.“

Soad Hosny gehörte zu den großen Stars des ägyptischen Kinos - ihr Profil an der Mauer des Filminstituts © Susanna Petrin

Von den Wänden des Instituts blättert die Farbe ab, das Mobiliar stammt noch aus den 50ern. Das Filminstitut sieht aus wie so viele öffentliche Gebäude im Land. Doch in einem rosa Kasten gleich nebendran werden neue Unterrichtsräume, neue Studios und ein grosser Kinosaal mit neuster Technik gebaut. „Studios und Saal sind komplett schalldicht“, sagt Sherif Amasha bei einer Führung durch die Baustelle. Der Saal ist bereits bezugsbereit. Stolz macht ein Techniker die Beleuchtung an: Die Sessel sind modern und bequem. Seit sehr vielen Jahren wartet man auf einen Neubau, „seit Generationen“, sagt Amasha, und nun soll bis in einem Monat der neue Standort tatsächlich fertig sein, nächstes Semester soll die Schule einziehen können. „Das ist eine grosse Sache, das Budget war enorm hoch“, erklärt der Lehrer. Bezahlt hat das Kulturministerium, die Filmschule ist staatlich. Sie gehört zu den grössten Beiträgen der Regierung an das Filmschaffen.

Modernes Studio im Filminstitut © Susanna Petrin

Dazu finanziert der Staat verschiedene Filmfestivals. Das grösste und älteste, das internationale Filmfestival Kairo, lief bis 29. November. Es war ein Lichtblick. 150 Filme aus aller Welt wurden gezeigt, rund 400 prominente Gäste waren zugegen. Diese 41. Ausgabe, sagen viele aus der Branche, schien das bisher beste: professioneller, besser organisiert, mit mehr Möglichkeiten für Austausch und Promotion. Das sei vor allem dem neuen Direktor Mohamed Hefzy zu verdanken, der das Festival vor einem Jahr übernommen hat. Er konnte die Qualität nicht zuletzt darum verbessern, weil er zahlreiche private Sponsoren gewinnen konnten - sie deckten inzwischen 50 Prozent der Kosten.

Im Hauptwettbewerb konkurrierte ein einziger ägyptischer Film um die goldene Pyramide. Ein Dokumentarfilm von Marianne Khoury, einer bekannten Regisseurin, Produzentin und Mitbesitzerin des Kinos Zawya, das einzige Arthouse-Kino Kairos. Wie hat sie diesen Film finanziert? „Mit meinem eigenen Geld“, antwortet sie. Trotzdem mag sie die Situation nicht allzu schwarz sehen: „Es war nie einfach, Filme zu machen“, sagt sie, „aber wenn man wirklich will, gibt es immer einen Weg.“ Sie sehe viele interessierte junge Menschen hier. Und es gebe da etwas, an das sie glaube: „Das ägyptische Wunder“.

Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Let's Talk": Regisseurin und Produzentin Marianne Khoury im Gespräch mit Tochter Sara © Marianne Khoury

Auf ein solches Wunder hofft auch Mona Abbaas im Studio Misr. Der Name ist im Grunde nur noch ein Aushängeschild: Im Jahr 2000 hat ein enthusiastisches Filmteam der Firma Elixir Gelände und Gebäude von der Besitzerin, dem Staat, auf 20 Jahre gemietet und auf eigene Kosten total saniert - mit der Aussicht, Studio Misr danach kaufen zu können. Diese Zeit läuft im April ab. Doch zur Zeit ist weder klar, ob der Staat verkauft, noch, ob er den Mietvertrag verlängert. Ausserdem soll wegen Strassenarbeiten die Mauer samt einer historischen Villa niedergerissen werden. „Wir wurden erst kürzlich informiert“, sagt Mona Abbaas. Ein massives Sicherheitsproblem stehe an. Mit ägyptischer Duldsamkeit, als ob nicht ein Lebenswerk, sondern eine Bagatelle auf dem Spiel stünde, sagt sie zum Abschied noch: „Es gibt immer Aufs und Abs. Machen Sie jetzt noch ein Photo, das sie morgen schon nicht mehr machen können.“