Das koloniale Architekturerbe des Landes ist so grandios wie ungeliebt – und am Verschwinden.

Diesen Frühling wurde noch der letzte Ägypter zum Patrioten. Zweiundzwanzig königliche Mumien wurden in einer pompösen Parade durch die Stadt Kairo in ihr neues Museum gerollt – zu Orchestermusik und Lichteffekten, gepackt in goldene Panzerwagen und umgeben von tanzenden Kleopatras. Das Land liess sich die live ausgestrahlte Show mehrere Millionen kosten. Auf Facebook hefteten sich die meisten Ägypter wochenlang das Label «Golden Mummy Parade» an die Profile. In den mumifizierten Pharaoninnen und Pharaonen sehen sie ihre Urgrossmütter und -väter.

Was vergessen geht

Viel schneller als die bis zu 4700 Jahre alten Mumien, Grabstätten, Statuen und Tempel zerfallen in Ägypten allerdings erst rund hundert Jahre junge Gebäude. So stolz die grosse Mehrheit auf das antike Vermächtnis des Landes ist, so verächtlich wird das koloniale Erbe von weiten Teilen ignoriert. In den Städten zerbröckeln die Paläste der Belle Époque. Port Said, Alexandria, Luxor und vor allem Kairo sind reich an europäischer Architektur – von Neobarock bis Art déco. Vielmehr: Sie waren es. Die Vergangenheitsform trifft immer mehr zu.

Als Xenia Nikolskaya, eine russisch-schwedische Künstlerin, Fotografin und Kunsthistorikerin, 2003 zum ersten Mal Ägypten besuchte, hatte auch sie zunächst nur die antiken Stätten im Sinn. Sie begleitete ein russisches Archäologenteam. Doch die Pyramiden sollten sie eher kaltlassen.

Auf ihren Streifzügen durch Kairo stiess Xenia Nikolskaya zufällig auf ein verlassenes Gebäude, das ihr interessanter erschien. Der Hauswart öffnete ihr die Tür. In dem Moment musste sie sich ein wenig gefühlt haben wie Charles Dickens’ Pip, als er Miss Havishams Villa betrat. Ihre grossen Erwartungen wurden übertroffen: schwere rote Samtvorhänge, beschlagene Spiegel, mottenzerfressene Perserteppiche, Kronleuchter, Tische, Stühle, ein Tennisracket auf einer Truhe. Alles schlief unter einer feinen Schicht Staub. Sie schwankte zwischen Überwältigung und Gruseln. Sie fotografierte und fotografierte.

Xenia Nikolskaya befand sich im Serageldin-Palast, 1902 als Residenz für Kaiser Wilhelm II. erbaut. Er erinnerte sie an ihre Heimatstadt, Sankt Petersburg. Dort wollte der Fotografin niemand glauben, dass diese Aufnahmen in Ägypten entstanden waren: «Die Leute kennen die Pyramiden und Tempel, manche dazu die islamische und die koptische Kunst», sagt sie, «aber diese europäische Epoche der ägyptischen Architekturgeschichte ist im Ausland komplett unbekannt.»

Immer wieder besuchte Xenia Nikolskaya von da an Ägypten; 2010 verlegte sie ihren Wohnsitz ganz nach Kairo, in eine Wohnung neben dem Serageldin-Palast. Sie war besessen von den vergessenen Häusern. Ganz kurz vor dem Ausbruch der jüngsten Revolution, also Anfang Januar 2011, beendete sie ihr Fotobuch «Dust» ­– Staub. 70 Bilder aus 30 Orten in ganz Ägypten. Villen, Paläste, Wohnungen, Hotels, Kaufhäuser, Kinos; aus der Zeit von 1869, dem Jahr der Suezkanal-Eröffnung, bis zur Revolution von 1952, als die Armee den König stürzte und sich auch der früheren Kolonialmacht Grossbritannien entledigte.

Die europäische Epoche der ägyptischen Architekturgeschichte ist im Ausland nahezu unbekannt. Wie der Bagous Palast in Kairo, 2011 © Xenia Nikolskaya

«Mein Interesse gilt weniger der Architektur, vielmehr ihrer kinematografischen Qualität. Ich fühle mich in diesen Häusern wie in einem Film von Hitchcock oder David Lynch», sagt die Fotografin. Oder wie beim Betreten eines Tatorts: «Du siehst, wie alles zurückgelassen worden ist, und du verspürst ein wenig Angst. Was ist da geschehen oder wird gleich geschehen? Es ist phantastisch und aufregend.» In der seit langem unbewohnten Villa L’Atelier in Alexandria steht eine leere Kaffeetasse auf einem Tischchen. Als ob da einer nur kurz Zigaretten hatte holen wollen, doch dann für immer wegblieb.

Sie werden noch bewacht

Die Gebäude werden aus verschiedenen Gründen nicht genutzt: weil die Erben sich streiten, weil sie kein Geld für die Renovation haben oder weil die Häuser verstaatlicht, umgenutzt und später verlassen worden sind. Meistens bewache jemand das Haus. Manchmal bediene sich diese Person daraus, manchmal nicht. «Aber es gibt hier diese Zeitkapseln, die noch genau so sind, wie sie vor Jahrzehnten zurückgelassen worden sind», sagt Xenia Nikolskaya, «das ist einzigartig.» Oder wie eine Freundin einmal zu ihr gesagt habe: «Die Häuser symbolisieren den Limbus, den unsicheren Zwischenstand, in dem das Land sich gerade befindet. Es geht nicht vorwärts, es geht nicht zurück. Man wartet.»

Vor allem Kairo ist reich an verkümmernden Beaux-Arts-Prachtbauten. Denn das Schönheitsideal des einstigen Vizekönigs Ismael Pasha, der 1863 an die Macht kam, war Paris. Er liess mitten in Kairo einen ganzen Stadtteil nach dem Vorbild seiner Lieblingsstadt bauen, die heutige Downtown. Ein Paris am Nil.

Am 26. Januar 1952, dem Schwarzen Samstag, setzten Aufständische das Opernhaus in Kairo in Brand. Rund 750 weitere Gebäude wurden ebenfalls verbrannt, beschädigt oder ausgeraubt. Ein «Krieg den Palästen» nahm seinen Anfang. Die Ausländer und alles, was sie mitgebracht hatten, waren nicht mehr willkommen.

Seither wurden unzählige weitere Gebäude aus jener Zeit zerstört. Manche Häuser sind mittlerweile zwar offiziell geschützt, lassen sich aber nicht lukrativ vermieten oder verkaufen. Besitzer, die wegen eines veralteten Gesetzes die Mietpreise seit Jahrzehnten nicht erhöhen können, warten auf den Verfall historischer Gebäude. Oder sie helfen ein wenig nach: Nachts kommen dann die schweren Jungs und reissen alles ab.

Vor allem Kairo ist reich an verkümmernden Beaux-Arts-Prachtbauten. Blaues Zimmer im Sakakini Palast, Kairo 2007 © Xenia Nikolskaya

Verkitschte Erhaltung

Rund 30 Prozent der von ihr fotografierten Gebäude gebe es bereits nicht mehr, schätzt Xenia Nikolskaya. «Die Ägypter sehen sie nicht als ägyptisch an. Sie schätzen sie nicht, weil sie vom Ausland beeinflusst oder forciert worden sind.» Dazu komme die mangelnde Bildung im Land. Doch in Europa sei es vielen Gebäuden lange nicht viel besser ergangen, fügt sie hinzu, sie sei sich auch der Problematik des kolonialen Blicks bewusst.

Private und staatliche Unternehmen haben vor ein paar Jahren begonnen, einige Kolonialzeit-Bauten zu restaurieren. Oft werden sie gemäss Nikolskaya eher neu interpretiert als renoviert. Das heisst: umgebaut, übermalt, verkitscht. Doch Xenia Nikolskayas Buch sowie die zahlreichen Ausstellungen dazu – von der Eremitage in Sankt Petersburg bis zum Institut du monde arabe in Paris – haben auch das Interesse vieler Ägypter an diesem Teil ihres Erbes geweckt. Die 48-jährige Künstlerin glaubt, dass der Wert dieser Architektur schon bald anerkannt wird. Sie hofft, dass die Häuser neu genutzt werden: «Als Kulturzentren, Boutique-Hotels – Hauptsache, etwas.»

Nach der Bucherscheinung war Xenia Nikolskaya erschöpft. Es war immer schwieriger geworden, die Häuser zu betreten. Zu Beginn habe sie noch die Karte der verrückten Künstlerin ausspielen können oder gesagt, sie suche einen Drehort für eine Filmserie. Doch nach der Revolution von 2011 machte sich im eigentlich gastfreundlichen Ägypten eine gewisse Paranoia gegenüber Ausländern breit. Mehr als einmal jagte ein aufgebrachter Anwohner sie fort. Trotzdem gelinge es ihr nicht, ganz mit den Hausbesuchen aufzuhören, sagt Xenia Nikolskaya: «Menschen sprechen mich an und sagen Sätze wie: ‹Du musst dir das Haus meiner Grosseltern ansehen.› Ich suche die Häuser nicht mehr, aber die Häuser finden mich.»

"Dust: Egypt's Forgotten Architecture" von Xenia Nikolskaya erscheint Anfang 2022 als überarbeitete und erweiterte Ausgabe bei AUC Press.

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