Sema tawy, übersetzt die „Vereinigung der beiden Länder“, ist ein zentrales, wenn auch oft übersehenes Gestaltungselement der altägyptischen Kultur und Kunst.

Oft sind wir ja ins ehrwürdige alte ägyptische Museum gewandert, dem jetzt das neue Grand Egyptian Museum den Rang abzulaufen droht. Wir trafen uns im Vorgarten am Teich; die Papyrus- und Lotuspflanzen haben wir natürlich gesehen, aber wohl nicht geahnt, was an Symbolik in ihnen verborgen ist. Waren wir dann eingetreten und hatten unseren Weg wie üblich nach links genommen, an der Treppe vorbei in den Seitengang, so standen wir gleich im ersten Raum vor der wunderbaren Statue des Königs Chefren, des Erbauers der mittleren Pyramide von Gizah. Schauten wir von der Seite, so haben wir natürlich den Horusfalken bemerkt, der hinter dem Kopf des Königs die Schwingen breitet und ihn zu inspirieren scheint. Vielleicht haben wir auch den Blick flüchtig nach unten gewendet, aber wer hat schon genauer auf das geachtet, was da zu sehen war? Wer hat schon die beiden verschlungenen Pflanzen an den Thronwangen eines genaueren Blickes gewürdigt und in ihnen Lotus und Papyrus wiedererkannt, die uns schon draußen am Teich begrüßt hatten?

Damit sind wir also beim sema tawy, dem Symbol, das als Thema mit Variationen tausendfach an Tempeln und Bildwerken des Alten Ägypten zu finden ist. Am Thron des Chefren ist das Bild auf seine wichtigsten Elemente reduziert: Lotus und Papyrus sind um ein merkwürdiges Gebilde verschlungen, eine senkrechte Mittelachse, die aus zwei Flügeln aufsteigt. Gehen wir zwei Räume weiter, so erweitert sich das Bild: wir sehen eine Gruppe von lebensgroßen Sitzstatuen des Königs Sesostris I, und hier ist das Gebilde an den Thronwangen in mehrfach abgewandelter Form zu bemerken. Die beiden Pflanzen werden von den zwei Gottheiten Seth und Horus um die mittlere Achse verknüpft – oder, in einer weiteren Abwandlung, vom Nilgott Hapi in doppelter Gestalt als Nil von Ober- und Unterägypten.

Wie alles im Alten Ägypten ist auch dies eine Hieroglyphe, ein Bild mit einer symbolischen Bedeutung: Die Mittelachse ist das Zeichen für die menschliche Lunge mit der Luftröhre; es hat auch die Bedeutung ›vereinigen‹. Die beiden Pflanzen stehen für Ober- und Unterägypten; Seth und Horus vereinigen also die beiden Landesteile, und diese Reichseinigung markiert um 3000 v. Chr. den Beginn der ägyptischen Hochkultur. 

Welche Rolle spielt dabei aber das Lungenzeichen, und warum sind es gerade Seth und Horus, die die beiden Länder vereinigen? Damit tauchen wir in die ägyptische Mythologie ein, in die Urzeit, da Ägypten „noch von Göttern regiert wurde“. Die gesamte ägyptische Kultur verstand sich als Wirken göttlicher Kräfte, die als Ptah und Thot, als Hathor und Chnum menschliches Wissen und menschliche Technik vermittelt hätten, und sogar die geographische Konfiguration des Landes wurde als Schöpfung solcher Götterwesen aufgefasst. So bildeten das zu beiden Seiten von kahler Wüste eingefasste Niltal und das grüne wasserreiche Delta im damaligem Bewusstsein zwei gegensätzliche Länder, die im Schlichtungsprozess des Osiris-Mythos den beiden genannten, aber zunächst verfeindeten Gottheiten zugesprochen wurden: Seth erhielt den Wüstenteil, Horus das Delta. Keiner der beiden Teile war jedoch allein lebensfähig, und so wurden Horus und Seth zur Zusammenarbeit verpflichtet. Wie auch immer diese Reichseinigung historisch abgelaufen sein mag, sie blieb über dreitausend Jahre Grundlage der ägyptischen Kultur. In dieser Auffassung ist aber Ägypten nicht einfach ein geographisches Gebilde, sondern eine wesenhafte Gestalt, in deren Physiologie die Kräfte von Horus und Seth wirken – eine aufstrebende Wachstums- und Entwicklungskraft und eine verfestigende Bewahrungskraft, die wie in einem Atmungsprozess zusammenwirken müssen unter der Ma‘at, dem kosmischen Ordnungsprinzip. So kann man in der Lungenhieroglyphe und den beiden Wappenpflanzen mit ihrer Bedeutung „die Beiden Länder vereinigen“ ein Bild dieser Vorstellung erkennen. Als Abbildung am Thron der Könige erscheint es wie eine Mahnung, den Lebensatem des Landes zu gewährleisten.

Dieses sema tawy ist damit Grundlage und zentraler Begriff der ägyptischen Königsherrschaft, und es gibt keinen ägyptischen Tempel, in dem es nicht zu sehen ist; es zeigt sich aber nicht nur in der Form, die wir nun kennen gelernt haben, sondern in mannigfachen Formen, in denen man nicht immer gleich den sema-tawy-Bezug erkennen wird.  Bei einem Rundgang auf dem thebanischen Westufer können wir einige Variationen der umfassenden Polarität des Motivs aufsuchen, vielleicht als Anregung, beim nächsten Besuch in Luxor, Karnak oder Edfu selbst auf Entdeckungsreise zu gehen.

Terrassentempel der Hatschepsut in Luxor © Bruno Sandkühler

Wir beginnen am Terrassentempel der Königin Hatschepsut. Schon die Gesamtanlage ist polar gegliedert, und in der Tempelsymbolik entspricht die Achse dem Nil, wie in der Hieroglyphe der Luftröhre. Am Eingang der Kultkapelle auf der oberen Terrasse steht zu beiden Seiten der König. Im Süden, als Regent von Oberägypten, trägt er die kegelförmige weiße Krone, im Norden als Regent von Unterägypten die rote Krone mit der sich entwickelnden Spirale. Auch am Türsturz darüber ist die Kronen-Polarität zu sehen.

Obere Terrasse des Hatschepsuttempels © Bruno Sandkühler

Früher sind wir dann immer über den Berg ins Tal der Könige gegangen. Eines der seltener besuchten Gräber ist Nr. 14, das Grab des Sethnacht und der Tausret. Auch hier begrüßt uns die sema- tawy - Polarität am Eingang, diesmal in der Gestalt der Maat, der Weltordnung, in ihrer zweifachen Gestalt für Unter- und Oberägypten auf Papyrus und Lotus.

Tal der Könige: Grab Nr. 14, das Grab des Sethnacht und der Tausret © Bruno Sandkühler

Nun könnten wir auch in den anderen Königsgräbern auf die Suche gehen, wir würden überall fündig, sei es in Form von Horus und Seth, von Papyrus und Lotus oder in der Polarität der Kronen, überall zeigt sich das Motiv der beiden Länder in ihrer Vereinigung. Auf dem Rückweg zum Nilufer können wir mit einem Blick in den Tempel von Medinet Habu den Eindruck abrunden: Hoch oben über dem Durchgang zu den Innenräumen thront Gott Amun, auch er in zweifacher Gestalt. Und von Süden läuft König Ramses mit der weißen, von Norden mit der roten Krone auf ihn zu, damit die Vereinigung der Beiden Länder rituell vollziehen. Weiter innen, in einer Kammer der Südseite, entdecken wir sodann wieder das von den Thronwangen vertraute sema-tawy-Bild und zusätzlich den König mit den verschiedenen Kronen von Süd und Nord.

Medinet Habu: Eingang zu einer Kammer der Südseite © Bruno Sandkühler

Wer sich nun selbst auf die Suche macht, sollte auch auf Geier und Schlange, oder auf Afrikaner und Asiaten achten, denn auch die nördlichen und südlichen Nachbarn gehören zu dieser Symbolik. Wir finden sie insbesondere auf den Sockeln von Kolossalstatuen vor den Tempeln. Auch die Nil- und Tempelwesen, die man besonders ausdrucksvoll im Freilichtmuseum in Karnak an der „Chapelle rouge“, dem Barkenschrein für den Gott Amun-Re, sehen kann, sind stets nach Nord- und Südseite geordnet und durch Papyrus und Lotus gekennzeichnet. So kann uns dieses interessante Motiv eine besondere Entdeckerfreude bescheren.

Buchhinweis: Bruno Sandkühler, Lotus und Papyrus. Verlag am Goetheanum. Dornach 2017

Englisch: Bruno Sandkühler, Sema Tawy - Cosmic and Earthly Polarity in Ancient Egypt. edition esefeld & traub. Stuttgart 2021