Bei vielen gilt es als das schönste Kleid der Welt: aus 25 Metern burgunderroter Pariser Seide wurden 85 Stoffbahnen von 374 Stickerinnen und einigen Stickern aus 50 Ländern mit 100 Millionen von Stichen verziert. “The Red Dress” ist jedoch noch viel mehr als ein Kleid: es ist ein einzigartiges Kunstwerk, ein Friedensprojekt, eine Textil-Skulptur, welche unzählige Geschichten, Traditionen und Stile aus aller Welt vereint.
Beduinenfrauen vom Sinai bestickten das Rote Kleid
Der größte Beitrag für das Kleid wurde 2015 von Beduinenfrauen in Ägypten ausgeführt. Sie arbeiten für „FanSina“ –übersetzt „Kunst des Sinais“. Dieses Projekt wurde von Selema Gabaly gegründet, die mit ihrer Familie aus dem Stamm der Jabaliya in dem kleinen Gebirgsdorf St. Catherine’s am Mosesberg/Sinai lebt. Durch die wunderschönen Stickereien, die heute weltweit verkauft werden, soll das kulturelle Erbe der Beduinen erhalten und armen Beduinenfrauen ein Einkommen, Unterstützung und Sicherheit geboten werden. Das Projekt hat eine sehr entscheidende Veränderung in dem Leben dieser Gemeinschaft bewirkt.
Insgesamt arbeiteten 50 Frauen einen Monat lang an einer 4x2m großen Stickerei für das Rote Kleid. Die Jajableya-Frauen sind die einzigen Beduinen, die mit nicht-geometrischen Mustern arbeiten, und sie bestickten den Stoff mit Pflanzenmotiven aus ihrer Umgebung.
Das Rote Kleid am 24./26. September 2022 in Kairo©Roshanak Zangeneh
Am 20./21. September 2022 wurde das Kleid bei Fansina auf dem Sinai ausgestellt, anschließend am 24. September im Cairo Institute of Liberal Arts and Sciences (CILAS) und am 26. September 2022 in der Britischen Botschaft in Zusammenarbeit mit der ägyptischen Organisation für Mode und Design ausgestellt anlässlich der Ehrung der Gewinnerinnen des ägyptischen Modepreises.
Das Rote Kleid in Deutschland – Freiheit durch Sticken
In Kairo fotografierte die Fotografin und Kuratorin Roshanak Zangeneh das Rote Kleid und dabei entstand die Idee, das Projekt im Namen ihres gemeinnützigen Vereins "Contemporary Middle East" (www.conmidea) nach Deutschland zu holen. „Das Kleid verbindet Menschen auf der ganzen Welt“, sagt die Kuratorin. „Es ist eine kollaborative, dreidimensionale Skulptur, ein Geschichtenbuch und zugleich ein Archiv, das bedrohte Techniken und Stickmuster vor dem Vergessen bewahrt.“ Mit Fördermitteln des Landes NRW konnte in Köln vom 19. bis 26. April 2023 eine Ausstellung organisiert werden und wurde dort von der ersten deutschen Künstlerin bestickt: Mit einem Motiv der erst 2020 verstorbenen Eva Mols setzte ihre Tochter Helga Mols ein Andenken an ihre Mutter, die am 19. April 95 Jahre alt geworden wäre.
Helga Mols stickte ein Motive ihrer Mutter auf das Rote Kleid©Roshanak Zangeneh
Eva Mols gehörte zu einer Generation von Frauen, die während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit nur wenige Möglichkeiten einer künstlerischen Verwirklichung fanden. 1928 in Aachen geboren, erlernte sie das Sticken als praktische häusliche Tätigkeit für Frauen. „In Eva Mols Kindheit hat ihre Familie nicht verstanden, dass das Sticken für sie mehr als eine übliche, praktische Tätigkeit war, die Töchter aus gutem Hause auszuüben pflegen. Ihre Leidenschaft wurde nicht gesehen, erkannt oder als solche verstanden”, sagt ihre jüngste Tochter Helga Mols rückblickend. Handarbeit galt lange als Frauensache und als künstlerisch nicht besonders wertvoll. Ein bestenfalls nützliches Hobby, das sich daheim zwischen Herd und Kinderzimmern abzuspielen hatte.
Nach dem Besuch der Modeklasse an der Werkkunstschule Aachen wurde die junge Eva Mols Schneidermeisterin. Sie lebte von 1957-1966 in Südamerika, wo sie neue Sticktechniken wie die Schwarzstickerei erlernte und mit eigenen Sticktechniken kombinierte.
Eva Mols war 70 Jahre alt, als sie es wagte, ihre Leidenschaft - die Handarbeit - als Berufung ernst zu nehmen, und ihrer Kreativität Priorität einzuräumen. Die gelernte Schneidermeisterin war längst befreit von ihren Pflichten als Hausfrau und Mutter dreier Töchter, eine davon körperlich behindert. Sie steht für ein typisches Frauenschicksal der deutschen Nachkriegszeit.
„In einer Vielzahl ihrer Arbeiten geht es um das Erarbeiten und Befreien von einengenden Denkmustern und Schemata, was in ihren Bildern durch farbige und phantasievolle Fadenkompositionen dargestellt wird“, beschreibt ihre Tochter das spätere Werk ihrer Mutter, das Lebenslinien und ein Stück persönliche Geschichte präsentiert.
Ausstellung des Vereins " Contemporary Middle East" in Köln©Roshanak Zangeneh
Nach Köln soll das Kleid nur noch ausgestellt, nicht mehr bearbeitet werden, sagt die Initiatorin Macleod. Ob tatsächlich der letzte Stich auf das Kleid in Köln gesetzt wurde, bleibt noch abzuwarten. Bald ist eine einjährige US-Tournee für das Rote Kleid geplant.
Nadelstiche für Menschenwürde und ein friedliches Zusammenkommen
2009 hat die britische Künstlerin Kirstie Macleod das Projekt “The Red Dress” ins Leben gerufen. Durch dieses Kunstprojekt sollte zwischen Menschen aus aller Welt ein Dialog entstehen, bei dem durch Stickerei die eigene Identität zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Stickerei ist für die Initiatorin eine universelle Sprache, an der Frauen an jedem Ort miteinander in Verbindung treten können. Ihr „Red Dress“ ist ein Medium, das ihre Sehnsucht nach einem friedlichen, grenzenlosen Zusammenkommen erfüllt.
Seither über 14 Jahren reist das Kleid um die Welt und wird von Land zu Land und Frau zu Frau, jeweils um ein Stickmotiv bereichert. Über all die Jahre hinweg ist das Kleid zu einer Plattform geworden, auf der Menschen sich ausdrücken und ihre Stimmen verstärkt und vernommen werden können.
Viele der Stickerinnen sind professionelle Stickkünstlerinnen, aber einige Stücke wurden auch von Frauen geschaffen, die zum ersten Mal sticken. Die Künstlerlinnen wurden ermutig, ihre eigene Identität zum Ausdruck zu bringen zusammen mit ihren eigenen kulturellen und traditionellen Erfahrungen. Einige nutzten dazu spezielle Sticktechniken und-stile, die seit Hunderten von Jahren in ihren Familien, Dörfern und ihrer Umgebung praktiziert werden, während andere ganz einfache Stickmuster wählten, um bedeutsame Ereignisse aus ihrem Leben darzustellen. Einige Frauen können sich ein neues Leben aufbauen, indem sie mit ihren Fertigkeiten oder durch Erlernen des Stickens ein Einkommen für ein würdiges Leben schaffen.
Die meisten dieser Frauen sind Opfer von Krieg und Gewalt oder leben in Armut. Frauen aus Syrien, der Ukraine, Ruanda, dem Kongo, Afghanistan, Kosovo, dem Iran, Palästina und vielen anderen Gegenden sind vertreten, sie verarbeiten Traumata und Zerstörung. Trotzdem drückt das Kleid nicht Verzweiflung aus, sondern Lebensfreude. Die Stickerinnen haben sich oft auch in der schwierigsten Situation für ein fröhliches Motiv entschieden. Außer Flüchtlingen, Verfolgten und Armen lieferten auch renommierte Stickstudios aus Indien und Saudi-Arabien Beiträge für dieses wertvolle Gesamtkunstwerk.
Jede Stoffbahn ist mit 10.000 bis 100.000 Nadelstichen besetzt. Mindestens Hundertmillionen Stiche dürften das Kleid inzwischen insgesamt zieren, schätzt Kirstie Macleod. Jeder Stich gibt dem Kleid noch ein wenig mehr Gewicht. 6,8 Kilo schwer ist es derzeit, sein eigentliches Gewicht erhält das Werk vor allem durch die darin eingearbeiteten Schicksale, Erfahrungen und Traditionen.
„The Red Dress” ist auch ein feministisches Projekt. Es würdigt ein Handwerk, das lange Zeit als weiblich und künstlerisch wenig wertvoll galt. Es zeigt, dass Sticken viel mehr sein kann als nützliche Hausarbeit. Und es gibt in den Worten der Initiatorin Kirstie Macleod den beteiligten Frauen Würde und Selbstermächtigung. Den von Armut, Krieg oder Flucht betroffenen Stickerinnen bietet diese Kunstinstallation nicht zuletzt eine wichtige Einkommensquelle. Sämtliche Mitwirkenden sind für ihre Arbeit bezahlt worden, alle von Armut Betroffenen erhalten weiterhin 50 Prozent aller Erlöse, die “The Red Dress” bei seinen vielen Ausstellungen einbringt.
“Das Kleid ist jetzt komplett.” Kirstie Macleod hat diesen Satz seit 2020 schon oft gesagt - und wieder zurückgenommen. Für eine wichtige Ergänzung. Vor kurzem hat eine anonyme Iranerin das Zeichen der dortigen Frauenbewegung hinzugestickt. Zuletzt haben zwei ukrainische Flüchtlinge sich darauf ausgedrückt — die Näherin Maria hat ein Motiv der vierjährigen Adele darauf umgesetzt.
Das Rote Kleid wurde weltweit in verschiedenen Galerien und Museen wie der Gallery Maeght Paris, Art Dubai, Museo Des Arte Popular in Mexico City, National Library of Kosovo, National Waterfront Museum in Wales, Fashion and Textile Museum in der Royal Academy in London ausgestellt und gewann 2015 einen ersten Preis beim Premio Valcellina Textiles Award im italienischen Maniago. Praktische und logistische Unterstützung erfährt das Projekt, das nach Wunsch seiner Initiatorin möglichst vielen Menschen in aller Welt zugänglich gemacht werden soll, durch unzählige Selbsthilfeprojekte, Wohltätigkeitsorganisationen sowie private und staatliche Initiativen.