Einen Platz in den Zeiten oder: Was vom Nathan übrig bleibt?
Diese anspruchsvolle Frage machte sich das Schultheater an der Deutschen Schule der Borromäerinnen (DSB) zum Thema und bot eine Auseinandersetzung mit den Gedanken und Werken von Gotthold Ephraim Lessing, der 1729-1781 lebte, und neben Goethe und Schiller als einer der herausragenden literarischen und philosophischen Größen Deutschlands gilt. Er hat das Theater revolutioniert, ist berühmt für seine richtungsweisenden aufklärerischen Ideen zu Toleranz und zur Rolle der Vernunft. Heutzutage gehören seine Bühnenwerke zu den am häufigsten inszenierten, in Schulen stehen sie, allen voran „Nathan der Weise“, ganz oben auf der Liste der Pflichtlektüren.
Das Theaterstück beginnt mitten im Set für Dreharbeiten zu Lessings „Emilia Galotti“. Die von Schauspielern und Regisseur geäußerte Kritik an Lessings Frauenbild und seinen erzieherischen Besserwissereien ruft den Autor persönlich auf die Bühne.
Ausschnitt: Was von Nathan übrig bleibt?
Im folgenden Disput erfahren die Zuschauer nicht nur etwas über Lessings Leben und seine Suche nach menschlichem Glück; sehr schnell landen die Disputanten bei seinem berühmtesten Stück „Nathan der Weise“. Weil der Regisseur sich von diesem Stoff einen gelungen Film verspricht, geht es in einer Zeitreise zurück in das Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge. Recha, Nathans Pflegetochter, wird von dem christlichen Tempelherrn aus den Flammen gerettet. Er verliebt sich in die junge Frau, doch als er um ihre Hand anhält, weigert sich Nathan. Bald offenbart sich die Wahrheit, dass sie ein christliches Findelkind ist, das der Jude Nathan aus Mitgefühl vor dem sicheren Tod rettete und erzog. Für den Patriarchen von Jerusalem stellt dies Apostasie, eine Todsünde, dar und Nathan gerät in Lebensgefahr. Schlussendlich stellt sich heraus, dass der Tempelherr und Recha Geschwister sind und zudem aus der moslemischen Herrscherfamilie Saladins stammen. Berühmt ist die zentrale Szene des Stücks, die Ringparabel: Auf die Frage nach der wahren Religion erzählt Nathan die Geschichte von einem Vater, der einen äußerst kostbaren, über Generationen an den jeweils würdigsten Nachfolger vererbten, Ring besitzt. Er hat jedoch drei Söhne, die er alle gleichermaßen liebt und schätzt. Weil er sich für keinen Sohn entscheiden kann, lässt er zwei Ringe anfertigen, die dem Original zum Verwechseln ähnlich sind. Jedem Sohn übergibt er einen Ring als Original. Nach seinem Tode ziehen die Söhne vor Gericht um den Besitz des wahren Ringes zu klären. Der weise Richter verweist jedoch darauf, dass die besonderen Eigenschaften des wahren Ringes darin liegen, den Träger bei allen Menschen beliebt zu machen und gibt den Rat, dass jeder durch sein Verhalten gegenüber den Mitmenschen zeigen solle, ob er den wahren Ring besitze.
Dem DSB-Theater gelang Bemerkenswertes
Nathans bzw. Lessings zentrale Aussage, dass alle Religionen vor Gott gleich und eng verwandt sind, wird auf der Bühne, sozusagen auf Metaebene, von den Figuren, dem Regisseur und Lessing heftig diskutiert. Hat Nathan angesichts von religiös begründetem Fanatismus und Terrorismus überhaupt noch einen Platz in unserer Zeit oder erscheint er als gescheiterter Märchenonkel, der richtig analysiert aber falsch gehofft hat? Wenn Mörder und Diktatoren die Fakten darstellen, ist Toleranz lediglich Papier! Terroristen kann man nicht zur Gewalt erziehen! Diesen kritischen Vorwürfen wird entgegen gehalten, dass es keine Alternative zu Lessings Idealen gibt; Nathan vertritt die Wahrheit, auch wenn man diese nicht immer umsetzen kann. Deshalb hat er einen Platz in den Zeiten, nicht immer, nicht überall, aber er bietet die einzige Alternative, ein Licht im Dunkeln, wenn Religionen missbraucht werden.
Eine bemerkenswerte, nahezu Gänsehaut erzeugende Koinzidenz ergab sich durch den zeitgleichen Besuch des Papstes Franziskus in Kairo und seine Teilnahme an der Friedenskonferenz an der Al Azhar-Universität. Hier erinnerten der Papst und der Großimam angesichts des aktuellen Fanatismus und religiös begründeten Terrorismus die Gläubigen an ihre religiösen Grundwerte und Friedenspflichten ganz im Sinne Lessings.
Das Besondere an der Aufführung war auch die geschickte Zweisprachigkeit: Deutsch und Arabisch waren so miteinander verwoben, dass, egal in welcher Sprache, das Wesentliche für die Zuschauer verständlich wurde. Für die Aufführung hatte der Leiter der Theatergruppe, Martin Schnackenberg, Originaltexte und -szenen von Lessing in einer eigenen Handlung zusammengesetzt und dann gemeinsam mit den Schülerinnen in die deutsch-arabische Bühnenfassung gebracht. Die Verbundenheit der jungen Schauspierinnen mit ihrem Stück wurde deutlich in den gelungenen und sehr überzeugenden Darstellungen.