Über Jahrhunderte bot die ägyptische Halboase Fayoum nur ein paar Bauerndörfern ein karges Auskommen. In den letzten Jahrzehnten aber hat sich das dortige Dorf Tunis zum angesagten Kulturort gemausert.

Fayoum war schon vor 42 Millionen Jahren eine spezielle Gegend. Monströse Wale mit Beinchen schwammen in einer Bucht des Urmeeres Tethys herum – davon zeugen zahlreiche Fossilien in diesem Teil der heutigen westlichen Wüste. Im Alten Reich rangen die Pharaonen hier dem Nil die ersten künstlichen Kanäle und Seen ab. Und um das erste Jahrhundert herum entstanden die Fayoum-Porträts: Naturalistisch gemalte Abbildungen von Verstorbenen, die auf deren Sarkophagen festgemacht wurden. In Europa brauchten Künstler gut 1500 Jahre länger, um ein solches Niveau realistischer Malkunst zu erreichen.


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Danach tat sich jahrhundertelang nichts Besonderes in der Halboase Fayoum. In kleinen Dörfern lebten Bauern ärmlich am Wüstenrand. Ohne Elektrizität, ohne fliessendes Wasser. Bis 1989 die Schweizerin Evelyne Porrer wieder eine Evolution in Gang setzte, eine kulturelle. Als erste Ausländerin überhaupt zog sie ins Fayoumer Dorf Tunis, rund hundert Kilometer südwestlich von Kairo, um hier eine Töpferschule zu eröffnen. Heute bieten Dutzende ihrer Schülerinnen und Schüler eigene Keramikkreationen in ihren Läden an. 2006 schliesslich eröffnete Mohamed Abla, einer der bekanntesten bildenden Künstler Ägyptens, im gedeihenden Dorf ein Zentrum mit Zimmern und Ateliers für Künstler. 2009 ergänzte er es mit einem Karikaturenmuseum, dem einzigen Afrikas.

In Fayoum lässt der Zufall seit über vierzig Millionen Jahren regelmässig das Unwahrscheinliche entstehen. Tunis ist heute Bauern-, Töpfer- und Künstlerdorf – und eine Touristenattraktion. Es ist vermutlich das einzige Kaff Ägyptens, das ein Luxushotel aufweist. Auf seinen Staubstrassen kreuzen sich Eselskarren und BMW, treffen verschleierte Frauen auf bärtige Hipster. Die Arbeitslosigkeit ist gesunken, die Landpreise sind in die Höhe geschnellt.

In Ablas Zentrum ist derzeit die britische Künstlerin Georgina Sleap zu Gast. Ursprünglich wollte sie acht Monate bleiben, doch der Ort sagt ihr derart zu, dass sie nun auf ein ganzes Jahr verlängert. Sie liebt die unaufgeregte Alltagsroutine: Katzen füttern, ins Dorf gehen, mit den Menschen sprechen, neue Sätze auf Arabisch lernen. Am Nachmittag geht sie ins Atelier, um dort Papierfetzen auf ihre Skulpturen zu pappen. Stundenlang. Dann lässt sie diese an der Wüstenluft trocknen. Das billige Zeitungspapier dürfte die Saharasonne bald giftgelb verfärben.

Umarmung - Georgina Sleap mit ihrer Skulptur © Susanna Petrin

Ihre Gebilde sind genau so gross, dass Georgina Sleap sie gerade noch umarmen kann. Später will sie diese «Umarmungen» in der Wüste aufstellen, weit voneinander entfernt. «Einen grösseren Ausstellungsraum hatte ich noch nie», sagt die 31-Jährige. «Ich weiss, was ich hier tue, ist ein wenig verrückt. Aber ich habe das Gefühl, diese Skulpturen müssen gemacht werden, und ich bin nur die Person, die das ausführt.»

Bis Weihnachten bot Georgina Sleap der Franzose Mathieu Dufois Gesellschaft. Er ist vom Centre de Création Contemporain Olivier Debré (CCCOD) in Tours hergeschickt worden. Der Künstler bringt Zeichnung, Skulptur, Film, Theater und bald auch Tanz in seinen komplexen Arbeiten zusammen. Dufois interessiert sich für Spiegelungen, Schatten, Erinnerungen. Ein Mensch kann tot sein, doch auf einem Foto ist er noch da. Auch ein Walfossil ist in Dufois’ Augen ein solch vergegenwärtigendes Abbild, ebenso die Fayoum-Porträts; beides soll im Herbst in seine nächste Ausstellung eingehen. Dufois skizziert mit seinem Schwarzsteinstift traumartige Mises en Scènes, baut daraus kleine Filmsets, die er perfekt ausleuchtet und abfotografiert. Das Resultat mutet wie die Aufnahme einer realen Szene an. Meist sind es dunkle, abgründige, abgewrackte Orte; die Stimmung erinnert an Tarkowskis «Stalker». Man meint, schon einmal dort gewesen zu sein, glaubt, die Menschen auf den Bildern zu kennen. «Ich spiele gerne mit kollektiven und persönlichen Erinnerungen», sagt der 34-jährige Künstler. «Der Betrachter vervollständigt das Bild.»

Mathieu Dufois spielt mit Erinnerungen und setzt sie in seine Arbeit um © Susanna Petrin

Jeden Januar füllen sich für rund sechs Wochen sämtliche Zimmer im Künstlerzentrum. Dann beginnt jeweils die Winterakademie. Teilnehmer aus Ägypten und dem Ausland tauschen sich hier über neue Techniken und Trends der zeitgenössischen Kunst aus. Lehrerinnen und Lehrer geben Workshops in Fotografie, Videokunst oder Performance – Disziplinen, die an den traditionell geprägten Kunstschulen des Landes kaum gelehrt werden. Die Plätze werden alljährlich ausgeschrieben. Der avantgardistische Geist der Fayoum-Bilder wird wieder belebt.

Die Idee für diese Winterakademie kam dem Gründer Mohamed Abla an der Sommerakademie in Salzburg, wo er einige Jahre unterrichtete. In Ägypten brauche man einen solchen Ort noch viel dringender, sagt er: «Viele ägyptische Künstler haben nicht die Möglichkeit zu reisen. Wir organisieren Auslandsaufenthalte, vermitteln Kontakte oder bringen sie eben hier in Fayoum mit anderen zusammen.»

Das Zentrum ist finanziell völlig unabhängig. Die Lehrer bekommen Kost und Logis, unterrichten dafür unbezahlt. Die Schüler bekommen gratis Unterricht, bezahlen aber für Kost und Logis. Das Museum und ein kleines Café bringen minimale Einnahmen, und manchmal übernachten im Zentrum durchs Jahr auch Touristen. Für den Rest kommt Mohamed Abla selber auf.

Etwa hundert Meter vom Kunstzentrum entfernt lebt Mohamed Ablas Sohn Ibrahim mit seiner Frau und zwei kleinen Töchtern. Er entwickelt das Werk seines Vaters weiter: Der gelernte Filmregisseur hat ein kleines Open-Air-Kino eingerichtet, seine Frau einen Kunstraum eigens für Kinder. Die kleine Bibliothek soll zu einem Recherche-Zentrum ausgeweitet werden, das Karikaturenmuseum wird gerade fürs Zehn-Jahr-Jubiläum restauriert. Die Sammlung besteht aus 500 Originalzeichnungen aus den letzten hundert Jahren, sämtliche wichtigen Karikaturisten Ägyptens sind darin vertreten. Oft brennt bis zwei Uhr nachts das Licht in Ibrahim Ablas kleinem Büroraum. Tagsüber findet man ihn meist auf dem Gelände, stets entweder das Telefon oder eine brennende Zigarette in der rechten Hand.

Ibrahim Abla wünscht sich noch mehr Schweizer Künstler © Susanna Petrin

Mohamed Ablas Frau ist Schweizerin, Ibrahim Ablas Frau ebenso; alle Familienmitglieder haben länger in Zürich gelebt, und Tochter Noura Abla studiert da Kulturmanagement. Auf die Frage, warum sie zurück nach Ägypten gekommen seien, geben Vater und Sohn unabhängig voneinander dieselbe Antwort: «Die Schweiz ist gesättigt», sagt Mohamed. «Das Land braucht jemanden wie mich eigentlich nicht», sagt Ibrahim. «Hier in Ägypten kann man noch etwas bewirken als Einzelner», sagen beide Ablas.

Sie wünschen sich aber mehr Schweizer Künstler in Ägypten. Nun kommt nächsten Oktober der Bündner Künstler Mirko Baselgia für einige Wochen nach Tunis; er ist bekannt dafür, dass er aus Natur Kunst macht. In Aussicht hat das Kunstzentrum zudem einen regelmässigen Austausch mit dem Atelierhaus Salzamt der aktuellen Kulturstadt Linz: Einmal im Jahr wird ein ägyptischer Künstler nach Linz reisen, handkehrum werden jährlich zwei Künstler aus Österreich nach Tunis kommen. Das Programm soll schon im Herbst beginnen. Und auch das CCCOD aus Tours will nächsten Winter wieder eine Künstlerin oder einen Künstler in die Wüste schicken.

So kommt in Tunis, diesem Experimentierlabor der Evolution, wieder einmal alles mit allem zusammen. Wo vor Urzeiten Wale Füsse hatten, macht der Ort der zeitgenössischen Kunstszene Ägyptens nun Beine.