Wo fuhr das „Sonnenboot“ des Königs Cheops? Schipperte die Barke jemals auf dem irdischen Fluss oder ist sie nur das Symbol einer göttlichen Reise?
„Ägypten ist ein Geschenk des Nil.“ Nicht besser als mit diesem Ausspruch des griechischen Geschichtsschreibers Herodot (um 485 bis um 425 v. Chr.) lässt sich die Bedeutung des Flusses beschreiben. Wir erzählen kleine Geschichten rund um den längsten Fluss der Erde. Heute:Wo fuhr das „Sonnenboot“ des Königs Cheops?
Neben der großartigen Pyramide des Cheops und den sie umgebenden Grabanlagen von Mitgliedern der königlichen Familie und von hohen Beamten gestattet auch das kleine, südlich der Pyramide des Cheops errichtete Museum einen Blick in die Lebenswelt des Cheops vor etwa viereinhalbtausend Jahren. Zu sehen ist darin ein „Sonnenboot“ des Königs.
Das Sonnenboot-Museum an der Südseite der Cheopspyramide © Jürgen Sorge
Es ist faszinierend, wie im Denken der Alten Ägypter Vorgänge in der realen Welt mit ihren Vorstellungen von einer jenseitigen göttlichen Welt changieren. Für sie ist der Nil, der das Land von Süden nach Norden durchfließt, zum einen die Lebensader schlechthin. Er ist der Trinkwasserlieferant und wichtigster Transportweg, für alle Güter – von den Nahrungsmitteln bis hin zu mächtigen Gesteinsblöcken, die für den Bau der Pyramiden und Tempel über mitunter sehr weite Strecken transportiert werden.
Himmlischer Weg für den Sonnengott Re
Zu dem irdischen Fluss denken sich die Menschen des Alten Ägypten aber auch einen „himmlischen Nil“. Auf diesem fährt Re mit den ihn begleitenden Göttern in seiner Sonnenbarke tagtäglich von Osten nach Westen und schenkt Ägypten Licht, Wärme und damit Leben.
Die Sonnenbarke vom Heck aus gesehen © Jürgen Sorge
In der Zeit der vierten Herrscherdynastie wächst die Bedeutung des Sonnengottes Re immer mehr. Statt als Inkarnation des Horus verstehen sich die Herrscher nun immer mehr als Sohn des Sonnengottes. Greifbar wird das in Dedefre, einem Sohn des Cheops. Bei ihm ist der Namen des Sonnengottes ein Bestandteil seines eigenen Namens. Dedefre bedeutet: „Er, Re, ist dauerhaft“. Zudem führt er als erster König den Titel „Sohn des Re“.
Der Sonnenkult
Zu dem Sonnenkult gehört auch die religiöse Vorstellung, nach der der König nach seinem Tod in den Himmel aufsteigt, um in der Sonnenbarke an der Seite des Re Platz zu nehmen. Die Fahrt in der Sonnenbarke bedeutet in der Vorstellung der Alten Ägypter für den Verstorbenen nicht nur, in der Gegenwart des Gottes weiterhin zu existieren. Sobald die Sonne im Westen versinkt – in den Bereich des Todes eintaucht – verkehren sich Raum und Zeit. Die „Bootsbesatzung“ besiegt während der Nachtzeit nicht nur die bösen Mächte des Jenseits, sondern tritt am Morgen verjüngt ihren steten Weg am Himmel der diesseitigen Welt an. Es ist ein Vorgang, den die altägyptischen Theologen unter anderem in der morgendlichen Geburt des Sonnengottes durch die Himmelsgöttin Nut und in dem Gott Chepre, der die Morgensonne repräsentiert, fassen.
Die Barke des Re wurde 1954 entdeckt
Das „Sonnenboot“, das seit 1982 in dem eigens dafür errichteten Museum für die Öffentlichkeit zugänglich ist, entdeckte im Jahr 1954 Kamal el-Mallak bei Aufräumungsarbeiten auf der Südseite der Cheops-Pyramide. Es lag – in Einzelteile zerlegt – in einer 31 Meter langen und sechs Meter tiefen Grube an der Südseite der Pyramide. Der Bug zeigte nach Westen - Richtung Sonnenuntergang. Die Grube war mit Sandsteinblöcken luft- und wasserdicht verschlossen. Nur dadurch konnten die 1224 Teile unversehrt die Zeit überdauern.
Ein Blick von Westen auf die Cheops-Pyramide © Jürgen Sorge
Unter Leitung von Ahmed Youssef, dem Chefrestaurator des Begräbnismobiliars der Mutter des Cheops, Hetep-heres, wurde das Boot nach viereinhalbtausend Jahren wieder zusammengesetzt. Bug und Heck der 43,3 Meter langen Barke sind in Form von Papyrusstängel gestaltet. Die Aufbauten des Bootes werden geprägt durch die große königliche Kabine und einen kleinen Baldachin, der wahrscheinlich für den Kapitän der Barke gedacht war. Für die Fortbewegung dienen fünf Ruderpaare sowie ein Steuerruderpaar am Heck des Schiffes.
Welchem Zweck diente das Boot?
Ist das tatsächlich die Sonnenbarke, mit der der König im Jenseits neben Re durch den Himmel reisen wollte? Die Ausrichtung des Bootes in der Grube mit dem Bug nach Westen legt diesen Gedanken nahe. Es gibt jedoch auch gewichtige Gründe, die dagegen sprechen. Eine Feuchtigkeitsanalyse des Holzes hat ergeben, dass die Barke wahrscheinlich auf dem Nil gefahren ist. Der Ägyptologe Mark Lehner hält es für möglich, dass Cheops mit dem Boot zu seiner letzten Ruhestätte gebracht wurde. Lehner verweist darauf, dass Dinge, die mit der Bestattung zu tun hatten, den Alten Ägyptern als „spannungsgeladen“ galten. Um diese zu neutralisieren, wurden sie in ihre Einzelteile zerlegt. Und sie wurden nahe, aber außerhalb des Begräbnisbezirks – was für den Fundort der Bootsgrube offenbar zutrifft – beigesetzt.
Die drei großen Pyramiden von Giza vom Südwesten aus gesehen. Von links: die Cheops-, die Chephren- und die Mykerinos-Pyramide © Jürgen Sorge
Naheliegend ist aber auch – wenn wir unsere gewohnten Entweder/oder-Kategorien mal beiseite lassen und uns stattdessen in die Gedankenwelt der Alten Ägypter versetzen, die ein sowohl als auch bevorzugen – dass die Barke beides war. Das Boot, das im Diesseits den Nil befuhr, mag in der Vorstellungswelt der Menschen im Alten Ägypten dem verstorbenen König auch in der jenseitigen Welt gute Dienste erwiesen haben.