Karima Mansour hat die erste zeitgenössische Tanzschule Afrikas und des Nahen Ostens aufgebaut - sämtlichen Widerständen zum Trotz.

Wie führt man in einem Klima, in der sinnliche Körperlichkeit schnell mal als unsittlich gilt, eine Tanzschule? Karima Mansour, die Gründerin und Direktorin des Cairo Contemporary Dance Center (CCDC), winkt ab. Man könne unmöglich 100 Millionen Ägypterinnen und Ägypter über denselben Kamm scheren. Der Tanz gehöre zur ägyptischen Geschichte: Bereits pharaonische Wandmalereien zeugen von ausgelassenen Tanzfesten. Bis heute gibt es keine Hochzeit, kein Fest ohne Tanz. „Es gibt hier auch Männer, die finden, dass Frauen keine Ärztinnen oder Pilotinnen sein dürfen“, sagt Karima Mansour: „Handkehrum hatten die Ägypterinnen lange vor den Schweizerinnen das Recht, abzustimmen. Die Geschichte des Tanzes in Ägypten ist lang, die Sache komplex.“

Überhaupt kämpfe sie im Alltag mit anderen, ganz konkreten Problemen: Es fehle an Geld und Räumen, und somit an Unterstützung und Auftrittsmöglichkeiten. Eine staatliche Subvention nichtstaatlicher Kulturinstitutionen kennt man in Ägypten generell nicht. Und seit einigen Monaten erschwert ein neues Gesetz die Finanzierung hiesiger Projekte mit Hilfe ausländischer Gelder. Doch 90 Prozent all ihrer Tanz-Studentinnen und Studenten seien abhängig von Stipendien, sagt die Direktorin: „An der Schule wird für die Langzeitausbildung aufgenommen nicht wer Geld, sondern wer Talent hat. Allein das Können zählt.“

Karima Mansour hat mit fünf Jahren zu tanzen begonnen. Für eine Ausbildung als Profitänzerin musste die Ägypterin allerdings ins Ausland, nach England an die London Contemporary Dance School. Auch Weiterbildungs- und Auftrittsmöglichkeiten gab es in der Heimat kaum. So gastierte sie 2011 gerade in Bern, als in Kairo die Revolution ausbrach. Die Plakate hingen schon, als Karima Mansour wenige Tage vor der Premiere überstürzt zurück nach Hause flog. Sie musste dabei sein. Die Leiter der Dampfzentrale hätten dafür jedoch grosses Verständnis gezeigt.

Karima Mansour © Cairo Contemporary Dance Center

In der Heimat schien plötzlich alles möglich, stand alles zur Debatte — auch die Rolle der freien Kulturszene. Karima Mansour beteiligte sich an den Protesten, an den Diskussionen. Und sie hoffte, dass sie nun ihren seit Jahren gehegten Traum in Realität würde umsetzen können: Eine professionelle Tanzschule in Ägypten. Sie nutzte die narrenfreie Zeit zwischen den beiden Revolutionen; schon 2012 fand die Eröffnung ihres Cairo Contemporary Dance Center statt. Es ist gemäss Karima Mansour bis heute die erste und einzige zeitgenössische Tanzschule auf dem afrikanischen Kontinent und im arabischen Raum; jedenfalls die einzige, die mehr als nur maximal dreimonatige Workshops anbiete, nämlich eine dreijährige Ausbildung. 

Doch 2013, nach dem Sturz des Interimsregimes der Muslimbrüder, musste Karima Mansour die Schule temporär schliessen, um neue Räumlichkeiten zu suchen. Als sie nach einem halben Jahr am jetzigen Standort in Mohandessin wieder eröffnete, kamen sämtliche Studentinnen und Studenten wieder zurück. „Ich war überwältigt. Sie haben alle an dieses Projekt geglaubt.“

An der CCDC werden Praxis und Theorie gelehrt: die Fächer reichen von Ballett bis Kampfkunst, von Anatomie bis Choreographie. Sechs Stunden täglich. Die Studierenden müssten dafür viel Engagement und Disziplin mitbringen. Eine Studentin erzählt, dass ihre Eltern zunächst skeptisch gewesen sei. „Aber als sie merkten, wie das Studium meine Persönlichkeit und meinen Lebenswandel festigt, hatte ich ihre Unterstützung.“ So ergehe es den meisten hier. 

Die erste Generation in Ägypten ausgebildeter Tänzerinnen und Tänzer hat 2016 am CCDC abgeschlossen. Sechs dieser 15 Ex-Schüler unterrichten nun selber an der Schule, weitere sind in ausländischen Compagnien untergekommen, zwei haben eine in Ägypten gegründet, wie Karima Mansour erzählt. 

Noch ist die zeitgenössische Tanzszene in Ägypten sehr klein. Doch wer dabei ist, hat die einmalige Chance, eine hier ganz junge Kunstform zu prägen. „Unsere Recherche hat erst gerade begonnen. Wir sind noch daran, unsere eigene Bewegungssprache zu finden“, sagt Karima Mansour: „Wir dürfen dabei nicht andere kopieren, sollten aber genauso wenig in die Folklorefalle tappen.“ Eine Zuschauerin in der Schweiz habe einmal zu ihr gesagt: „Ich war sehr enttäuscht von ihrer Aufführung, ich hatte Bauchtanz erwartet.“ Das sei ein kolonialer Blick, findet Karima Mansour: „Wir sollten nicht versuchen, stereotype Erwartungen von Aussen zu erfüllen.“ Auch Nationalismus habe im Tanz nichts verloren:  „Zeitgenössischer Tanz ist eine universale Sprache. Doch je nach Umgebung setzt man den eigenen Kontext künstlerisch um. Das versuchen wir hier zu lehren.“

Die beiden preisgekrönten Choreographen der Genfer Tanzcompagnie 7273, Laurence Yadi and Nicolas Cantillon, wollen die jungen Ägypter dabei unterstützen. Via der Vermittlung der von 7273 selbstkreierten Tanzform “Multi Styles FuittFuitt” sollen die hiesigen Tänzer einen sehr variablen zeitgenössischen Stil lernen und darüber hinaus eine Idee davon bekommen, wie sie zu ihrer eigenen Tanzsprache finden könnten. Die Bewegungen des FuittFuitt wirken so wellenförmig und leicht wie streng in den Raum gerichtet zugleich; die Technik basiert auf den Vierteltönen der orientalischen Makam-Musik. Noch bis nächsten Sommer geben die Choreographen regelmässig am CCDC Workshops. Dieser Austausch wird von Pro Helvetia gefördert, das Zentrum als Ganzes wird zu einem grossen Teil von der in Zürich ansässigen Drosos-Stiftung finanziert. 

An einem Tag der offenen Türe gibt Nicolas Cantillon einen Fuitt Fuitt Workshop. Männer, Frauen und Frauen im Kopftuch tanzen im selben Raum. Cantillon berührt eine Frau, um etwas zu demonstrieren. Nach dem Workshop die Frage an eine Tänzerin mit Kopftuch: Ist das alles kein Problem? „Jede Frau kann doch gute Berührungen von schlechten unterscheiden“, sagt sie. „Dieser Workshop ist sehr professionell; sich zu berühren ist in diesem Kontext kein Problem.“

Den laufenden zweiten Studiengang hat Karima Mansour am Anfang finanziell gesichert. Seither hätten sich die Finanzierungsbedingungen aber weiter erschwert. „Ich weiss nicht, was morgen passiert.“ Im Dokumentarfilm „Laila, Hala und Karima – Ein Jahr im revolutionären Kairo“ von 2011 sah man noch eine hoffnungsvolle Karima, die von einem offenen Ägypten träumt. Jetzt hat sie ihre Schule, aber das Land ist wieder enger. So hatte sie sich das sicher nicht vorgestellt. Sagen tut sie dazu nur: „Es ist, was es ist.“ Es helfe nicht, den Kopf gegen die Wand zu schlagen. „Es ist klüger, die eigene Energie in das zu stecken, was möglich ist.“ Woher nimmt sie die Kraft, weiterzumachen? „Von den Studierenden. Wenn sie mir sagen, wieviel ihnen diese Ausbildung gibt. Jede und jeder verlässt diesen Ort als ein anderer Mensch. Das ist sehr stark.“

Karima Mansour träumt weiter gross, würde gerne ausbauen: grössere Räume, acht statt sechs Stunden Schulung täglich. Doch wenn das nicht klappe, „dann mache ich vielleicht zu und gehe an den Strand“. Man glaubt es ihr keine Sekunde. Denn wie sie selber zuvor im Gespräch gesagt hatte: „Ich habe immer mit Widerstand, Konflikt und Chaos gearbeitet.“