Birgit Schäbler ist die neue Direktorin des Orient-Instituts Beirut. Die Nahost-Historikerin und Islamwissenschaftlerin erforscht vor allem Beziehungen: zwischen Europa und dem Orient in der globalen Moderne, zwischen Menschen und ihren Religionen. In der Debatte um den muslimischen Glauben wirbt sie für Mäßigung – auf beiden Seiten.

Frau Schäbler, sie haben gegenüber einer deutschen Tageszeitung gesagt: „Geschichte ist eine große Lehrmeisterin!“ – Was meinen Sie damit?
Gerade in der heutigen Zeit halte ich die Geschichte für sehr wichtig. Wissenschaftlich gesehen lehrt sie methodisch die kritische Einordnung von Quellen, die man in ihren jeweiligen zeitlichen Kontext stellen muss. Dies allein ist heute schon sehr wichtig, wo Textfetzen ohne jede Einordnung und Kritik in den sozialen Medien als bare Münze, als Realität gehandelt werden. Und als Dimension der Vergangenheit lehrt die Geschichte eine gewisse Gelassenheit – das Wissen darum, dass Dinge entstehen, sich verändern und auch wieder vergehen. Dass sich Bewegungen, Ideen, Gesellschaften, Parteien in der Tat in der Geschichte verändert haben, kann ja Hoffnung darauf geben, dass dies auch heute und in Zukunft geschehen wird.

Wie kann Geschichte angesichts der, ich nenne es mal, turbulenten Zeiten im Orient und angesichts von Flüchtlingsströmen helfen?
Als ich Flüchtlinge an die Universität Erfurt holte, gleich 2015, als sie in großer Zahl nach Deutschland kamen, erwies sich die Geschichte als das am besten geeignete Fach, um deutschen und syrischen jungen Leuten die Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer jeweiligen Gesellschaften nahezubringen und Verständnis füreinander zu wecken. In den 1980er Jahren, als die libanesischen Bürgerkriegsflüchtlinge kamen, waren sich deutsche und arabische junge Leute noch viel näher, man sprach noch mehr eine gemeinsame Sprache, hatte gemeinsame Ideale, die Welt war damals eine andere. Seitdem haben sich Europa und der Nahe Osten weiter voneinander entfernt, die Welt heute ist ganz anders. Es hat keinen Sinn, Unterschiede „wegdiskutieren“ zu wollen. Wichtig ist, sich in seiner Unterschiedlichkeit wahrzunehmen und zu respektieren. Dann hat man eine Grundlage, die auch in Krisen trägt und das ist sehr wichtig. Natürlich braucht es für eine solche Initiative Professoren und Studierende, die beide Sprachen, also Arabisch und Deutsch, sprechen und den Nahen Osten gut kennen.

In ihrem Buch Moderne Muslime. Ernest Renan und die erste Islamdebatte 1883 sind sie zu dem Schluss gekommen, dass es „europäische Gelehrte waren, die durch ihre Behauptungen und Zuschreibungen den Islam ‚islamisierten‘ und ihn zum absoluten Gegenbild des Westens stilisierten“. Ich kann dem Argument durchaus folgen, aber wie kann uns diese Erkenntnis heute helfen?
Ich finde durchaus, dass es hilft, vor allem im Westen, wo man den gesamten Islam und sämtliche Muslime in bestimmten Kreisen gerade sehr dämonisiert, sich zu vergegenwärtigen, dass man an der Entwicklung durchaus beteiligt war. Wir leben schon eine ganze Weile in einer globalisierten Welt, wo die Handlungen und Sichtweisen des Einen die Handlungen und Sichtweisen des Anderen mit verursachen. Das heißt natürlich nicht, dass man allein für die heutigen Zustände verantwortlich wäre, aber das Bewusstsein könnte dazu beitragen, nicht noch mehr Eskalation zu betreiben und sich zu mäßigen. Dafür muss man die Entwicklung aber kennen. Konflikte fallen ja nicht vom Himmel, sie werden produziert.

Welche Motivation hatten Sie, die Direktion des Orient-Instituts Beirut zu übernehmen?
Ich bin dem Orient-Institut schon eine ganze Weile verbunden, als Vorsitzende seines wissenschaftlichen Beirates, und war in dieser Funktion an der Selbständig-Werdung des Orient-Instituts Istanbul beteiligt. Sie sehen, das Orient-Institut liegt mir am Herzen und ich will dazu beitragen, es sicher in neue, zunehmend globale Zeiten zu steuern.

Wenige Monate nach Dienstantritt, ist das der spannendste Job innerhalb ihres beruflichen Werdegangs?
Es ist nicht mein erster Auslandsjob. Ich war etliche Jahre in den USA, als Forscherin, u.a. am Nah-Ost-Zentrum der Harvard Universität, und dann als Professorin in einem der Südstaaten, in Georgia, wo ich den 11. September 2001 erlebte. Aber im Nahen Osten zu sein ist etwas Besonderes, vor allem auch in Kairo, der „Mutter der Welt“, wo wir ein kleines Büro betreiben. Ägypten war übrigens das erste arabische Land, das ich besuchte, direkt nach dem Abitur, vor langer Zeit. Ich wohnte damals bei den Borromäerinnen und erkundete Kairo und das ganze Land.

Welche Aufgaben und Zielsetzungen verfolgt das Orient-Institut Beirut?
Das Orient-Institut Beirut betreibt grundlegende Forschung vornehmlich in den Bereichen Gesellschaft und Geschichte des Nahen Ostens. Die Forschung richtet sich immer auch nach dem jeweiligen Direktor aus – ich selbst z. B. bin Historikerin mit anthropologischen Interessen sowie Islam- und Politikwissenschaftlerin – aber sie ist immer interdisziplinär und das muss sie auch sein, um der Vielfältigkeit nah-östlicher Gesellschaften gerecht zu werden. So spielen auch Literatur und Kunst eine wichtige Rolle.

Wie wird es finanziert?
Das Orient-Institut Beirut ist Teil der Max-Weber-Stiftung, die zehn deutsche geisteswissenschaftliche Institute im Ausland betreibt, und wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung BMBF getragen. Seine Forschung unterliegt dem Wissenschaftsfreiheitsgesetz und ist völlig unabhängig.

Die Thüringer Allgemeine beschrieb das Orient-Institut Beirut als „die wichtigste Institution deutscher Forschung in der arabischen Welt“. Ist das ein bisschen hochgegriffen?
Das Orient-Institut Beirut ist ein Juwel deutscher Forschung in der Region, eben durch seine Interdisziplinarität. Aber natürlich sind auch die Deutschen Archäologischen Institute mit ihrer langen Tradition im Orient sehr wichtige Zentren deutscher Forschung. Man kann sich hier wunderbar ergänzen, denn die Archäologie ist am Orient-Institut Beirut deshalb auch weniger vertreten.

Wissenschaft darf sich nicht im Elfenbeinturm verschanzen – wie wollen sie das in ihrer neuen Position durchsetzen?
Das Orient-Institut Beirut funktioniert nicht als Elfenbeinturm. Es ist ein Ort der Forschung, wo internationale Wissenschaftler/innen zusammen kommen und sich austauschen und vernetzen. Unsere Gastwissenschaftler/innen kommen im Augenblick aus Ägypten, Italien, Frankreich, den USA, dem Libanon, Russland und Deutschland. Zusammen mit den fest angestellten Wissenschaftler/innen bilden sie eine Forschungsgemeinschaft, die auch nach außen tritt.

Seit 2010 hat das Orient-Institut Beirut eine kleine Außenstelle in Kairo. Was macht das Institut in Ägypten bzw. Kairo?
Es macht im Kleinen das, was das Institut in Beirut im größeren Rahmen auch macht – Forschung. Unser Forschungsprogramm für die nächsten Jahre wird vom Oberthema „Beziehungen“ bestimmt werden – Beziehungen von Weltregionen, Staaten, Gesellschaften, Gruppen und auch einzelnen Menschen zueinander, und Beziehungen des Menschen zu Gott und zu seiner Umwelt. Letzteres ist vielleicht für Ägypten besonders interessant, ein Land, das historisch von einem Fluss, dem Nil, bestimmt wurde.

Das Orient-Institut Beirut wurde 1961 gegründet und war von 1987-1994 geschlossen. Was war passiert, warum war das Institut geschlossen?
Der Libanesische Bürgerkrieg war in eine heiße Phase eingetreten und die deutschen Mitarbeiter wurden evakuiert. Aber das Orient-Institut Beirut funktionierte mit seinen Ortskräften weiter. Ich selbst kam 1991/92 zum ersten Mal in den Libanon und auch ans Orient-Institut Beirut. Ich habe noch meinen alten Bibliotheksausweis, der damals ausgestellt wurde.

Wie ist die Lage im Moment?
Der Libanon hält sich wacker, das muss man einfach sagen. Trotz des schrecklichen Krieges an seiner Grenze, trotz der vielen Flüchtlinge, die das sehr kleine Land nun beherbergt (prozentual gesehen sind das sehr viel mehr als in Deutschland) und trotz aller Probleme in der Region, die sich auch immer im Land niederschlagen, funktioniert der Libanon weiter. Die Berichterstattung in Deutschland würdigt das meines Erachtens vielfach nicht genug.

Wie bereiten Sie sich auf einen möglichen Ernstfall, zum Beispiel eine erneute Evakuierung vor?
Das steht im Augenblick, denke ich, nicht zur Debatte. Der Libanon hat sehr viel zu verlieren, was in den letzten Jahrzehnten aufgebaut wurde. Gefahr droht eher von außen. Hoffen Sie mit uns, dass die großen Spannungen in der Region, die ja auch in Ägypten spürbar sind, entschärft werden können.

Die Papyrus-Redaktion dankt Frau Prof. Dr. Schäbler für ihre Antworten.