Sie sind blind – und sie leisten wahrhaft Unerhörtes. Das Kairoer Frauenorchester Al-Nour Wal Amal ist das einzige seiner Art.

Dieses Haus in Heliopolis ist ein Haus der Töne. Von überall her dringt Musik. Aus allen Stockwerken, den langen Korridoren, den Zimmern.Wo man hinsieht, steht eine Frau mit einem Instrument. Eine jede wirkt ganz in ihr Spiel versunken. Keine schrickt auf, wenn man sich ihr nähert. Sie sind alle blind. Dieses Haus in einem Vorort Kairos ist ein ägyptisches Musikinstitut für sehbehinderte Mädchen und Frauen. Es ist das Herz der Nonprofitorganisation Licht und Hoffnung, arabisch: Al-Nour Wal Amal. Hier probt auch das gleichnamige Orchester, das aus lauter blinden Musikerinnen besteht. Laut eigenen Angaben weltweit das einzige seiner Art. An diesem Abend wird im grossen Saal eine gemeinsame Probe stattfinden. Einige Frauen spielen sich schon Stunden vorher warm, jede in ihrem Eckchen.

Nachhaltige Erfolgsgeschichte

Wo kein Ventilator Kairos Sommerhitze mildert, ertönt «An der schönen blauen Donau». Unbeirrt übt in einem besonders heissen Gangabschnitt Marwa Solieman. Sie hat etwas Strahlendes. Im Orchester ist sie die erste Geige. Der Donauwalzer sei ihr Lieblingsstück, sagt die 30-Jährige, «es wird überall in Europa gern gehört». Sie durchlief ähnliche Ausbildungsstufen wie die meisten ihrer Kolleginnen: Mit sieben Jahren trat sie in die von Licht und Hoffnung betriebene Primarschule ein, achtjährig bestand sie den musikalischen Eignungstest. Fortan ging sie morgens zur Schule, am Nachmittag zum Musikunterricht. Als Teenager spielte sie im Juniorinnenorchester, bevor sie in dasjenige der Erwachsenen eintrat. Die Arbeit für das Orchester ist ein Vollzeit-Engagement: Marwa Solieman gibt ihre Erfahrungen an der Ain- Shams-Universität als Spezialistin für kulturelle Beziehungen weiter. Wenn Amal Fikry durch die Gänge läuft, spricht sie jede Frau an und umarmt sie kurz. Die ältere Dame ist die Vizedirektorin hier und seit fünfzig Jahren für Licht und Hoffnung tätig. Als ihr die Organisation zum ersten Mal vorgestellt worden sei, habe sie beim Anblick der blinden Mädchen geweint. Sie kam trotzdem zurück. Bald habe sie gelernt, «nicht zu weinen, sondern mich hier nützlich zu machen» – unter anderem mit ihren vielen guten Kontakten. Mit tiefer, raspelnder Stimme zählt Amal Fikry die Eckdaten auf: 1954 gründeten einige Frauen die Organisation Licht und Hoffnung, als erste NGO für blinde Mädchen und Frauen im Nahen Osten. Ziel waren die Ausbildung und die gesellschaftliche Integration sehbehinderter Frauen. 1961 wurde das Musikinstitut etabliert und das Orchester langsam aufgebaut. 1972 spielte es zum ersten Mal öffentlich in Ägypten. 1988 trat es erstmals im Ausland auf, im Wiener Rathaus. Es sei ein grosser Erfolg gewesen. Seither war das Orchester in 26 Ländern auf Tournee, zweimal in der Schweiz. «2015 haben die Mädchen dort zum ersten Mal Schnee gesehen.» Amal Fikry sagt «gesehen», nicht berührt. In ihrem Büro hängen Auszeichnungen dicht an dicht, ihr Pult ist mit Orden vollgestellt.Viele Jahre habe das Orchester im Ausland mehr Anerkennung bekommen als in Ägypten. Doch dieses Jahr sei es zum ersten Mal vor dem Präsidenten, vor Abdelfatah al-Sisi, aufgetreten und von ihm dekoriert worden. Immer mehr werde es im eigenen Land geschätzt. Auch die finanziellen Probleme, die Licht und Hoffnung nach der Revolution hatte, seien inzwischen gelöst; eine ägyptische Stiftung beteilige sich substanziell am Musikinstitut und am Ankauf guter Instrumente.

Frauenorchester Al-Nour Wal Amal © Al-Nour Wal Amal

Vergessen, dass man blind ist

Eine Stunde noch bis zur Probe. Auf den Hausgängen vermengen sich musikalische Fingerübungen zunehmend zur Kakofonie; dazu kommen Mobiltelefone, deren eingebaute Siris mit ihren Benutzerinnen sprechen. Zwei Frauen machen ein Selfie mit der Besucherin. Später wird ihnen ein Programm erklären, was auf dem Bild zu sehen sei. «Es gibt immer mehr Technik, die uns das Leben erleichtert», sagt Shaimaa Yehya. Sie ist Stimmführerin der zweiten Geigen. «Ich übe jeden Tag zwei, drei Stunden; ich bin sehr ehrgeizig.» Von Kind auf, seit über 25 Jahren, spielt sie im Orchester. Und sie unterrichtet an der zugehörigen Schule blinde Mädchen in Englisch. Das Orchester sei ihr Leben, und ihre Schülerinnen seien wie Blumen, denen sie täglich Wasser gebe. Wenn eines der Mädchen zu ihr komme und sage, es könne dies oder jenes nicht, weil es blind sei, dann lässt Shaimaa Yehya das nie gelten. Sie antworte dann: «Bist du blind im Geist? Nein! Also bist du o. k.! Solange du nur auf beiden Augen und nicht im Geiste blind bist, so lange bist du zu allem fähig. Du musst dir nur überlegen, wie du dein Ziel mit anderen Mitteln erreichen kannst.» Ihr Orchester beweise, dass Menschen mit einer Beeinträchtigung manchmal zu Dingen fähig seien, die Menschen ohne Handicap nicht könnten, sagt Shaimaa Yehya. «Ich habe vergessen, dass ich blind bin.» Ganz ruhig ist es nur in den beiden obersten Stockwerken. Hier befinden sich die Schlafsäle für diejenigen Schülerinnen, die auch im Institut wohnen möchten. Jeder gehören ein einfaches Metallbettgestell mit Matratze, ein kleines Nachttischchen, ein Schrank, ein Stuhl und ein Gebetsteppich. Eine Klimaanlage gibt es nicht, nur Ventilatoren. Es ist alles sehr einfach, aber sauber. Zwei Frauen verlassen die sonst leeren Räume mit der Trompete in der Hand. Auf der Treppe streifen sie mit der anderen Hand ganz leicht das Geländer. Der Dirigent Mohamed Saad Basha öffnet die Tür zum Proberaum, die Frauen strömen hinein, ertasten sich ihre Plätze. Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht und schlenkerndem Gang kommt Marwa Solieman herbeigeeilt. Sie will noch etwas sagen: «Ich habe vom Orchester gelernt, wie man Mitglied einer Gruppe ist, anderen zuhört, andere berücksichtigt. Eigentlich sollte jede Firma, jede Institution wie ein Orchester funktionieren. Jeder spielt seine Rolle – nicht mehr und nicht weniger –, und jeder kennt die spezifische Rolle aller anderen und unterstützt sie.» Es wird viel geredet. Der Dirigent klatscht in die Hände. «Yalla, yalla!» Heute wird repetiert: ein «Ungarischer Tanz» von Brahms, Chatschaturjans «Säbeltanz», schliesslich ein zeitgenössisches orientalisches Stück von Ali Osman, dem unlängst verstorbenen früheren Dirigenten des Orchesters. Die Frauen können vieles spielen, was professionelle Orchester im Repertoire haben.Aber sie müssen es sich härter erarbeiten. Jede Musikerin lernt zunächst mithilfe von Brailleschrift Note um Note auswendig. Dann wird in kleinen Gruppen geübt. Erst danach beginnen die gemeinsamen Proben mit einem Dirigenten. Er klopft den Takt vor, erklärt jedes Detail. Später, bei den Konzertauftritten, wird er nur noch kurz ankündigen: eins, zwei. Mehr kann er dann nicht mehr für die Frauen tun, mehr ist auch nicht nötig. «Es heisst, unsere Mädchen seien ein menschliches Wunder», sagt Amal Fikry, «denn sie spielen, ohne die Noten zu sehen und ohne Dirigenten.»

Bewusstseinswandel

Allmählich wandelt sich in Ägypten die Wahrnehmung behinderter Menschen: Statt als bemitleidenswerte Geschöpfe am Rand der Gesellschaft werden sie als fähige Subjekte mittendrin angesehen. Zu dieser Emanzipierung trug Al- Nour Wal Amal wesentlich bei. «Wenn wir auftreten, repräsentieren wir alle behinderten Menschen und die arabischen Frauen», sagt Marwa Solieman. Shaimaa Yehya ergänzt: «Wir wollen das gängige Bild, das die Leute haben, verändern.» Noch fehlt es in Ägypten jedoch überall an behindertengerechten Einrichtungen im öffentlichen Raum. Doch dieses Jahr wurde vom ägyptischen Präsidenten zum Jahr der behinderten Menschen erklärt. Ein neues Gesetz und diverse Projekte sollen ihnen ein integriertes Leben erleichtern. Marwa Solieman fährt schon jetzt selbständig mit der Metro durch Kairo, sich allein an Geräuschen orientierend. «Wir können fast alles, was andere Menschen auch können.» Nach der Probe leert sich das Haus ganz schnell. Ein Bus wartet vor dem Hintereingang auf die Frauen. In den leeren Gängen lehnt ein kleines Mädchen allein an einer Wand und spielt Geige. Es ist wie in einem Traum.