Die Feierlichkeiten am Hochzeitstag haben in der ägyptischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. Oft verschulden sich das Brautpaar und ihre Familien auf Jahre, um diesen Tag in luxuriösen Hotels, mit extravagantem Entertainmentprogramm und der gesamten Großfamilie zu feiern. Die Eheschließung und die damit verbundenen Feierlichkeiten sind unbestrittener Höhepunkt in fast allen ägyptischen Familien.

Eheschließung und Familiengründung in Ägypten

Die Gründung einer Familie ist nach wie vor ungebrochenes Ideal in der ägyptischen Gesellschaft. Zwar machen sich schleichende Veränderungen bemerkbar: Unverheiratete oder geschiedene Frauen sind keine Außenseiter mehr, sondern werden – zumindest im bessergestellten städtischen Umfeld – zunehmend akzeptiert. Aber auch in ärmeren Kreisen sucht man nach Alternativen. Wenn vor allem finanzielle Hürden einer standesgemäßen Hochzeit im Wege stehen, dann tun sich zunehmend junge Paare heimlich in einer „Urfi-Ehe“ zusammen. Für diese Form der Eheschließung reicht ein formloser Vertrag mit der  Willenserklärung von Braut und Bräutigam aus. Unverzichtbar gehören nach ägyptischen Vorstellungen Kinder zu einer jeden Ehe. Kinderlosigkeit gilt bei Männern und noch mehr bei Frauen bis heute als gesellschaftliches Stigma.

Ehevertrag

Auch wenn üblicherweise die romantischen Aspekte der Hochzeit und prestigeträchtige Feierlichkeiten im Vordergrund stehen, ist der Hochzeitstag vor allem der Tag, an dem sich die zukünftige Rechtslage der Braut entscheidet. Denn mit jeder Eheschließung wird in Ägypten auch automatisch ein Ehevertrag geschlossen, in den die Ehepartner Bedingungen bezüglich ihrer persönlichen Rechte eintragen können, vorausgesetzt sie kennen und nutzen ihre rechtlichen Möglichkeiten.

Alltag © Roshanak Zangeneh

Entwicklung des Familienrechts in Ägypten

Nach der islamischen Eroberung im 7. Jahrhundert nach Christus entwickelte sich das islamische Recht, die Sharia, als dominierendes Recht in Ägypten. Die Sharia wird oft als Gesetzbuch der Muslime erklärt oder der Koran mit der Sharia gleichsetzt. Beides ist jedoch nicht richtig. Vielmehr bedeutet Sharia in diesem Zusammenhang das Bemühen um Rechtsfindung. Der Sharia liegen verschiedene Methoden zugrunde, die von Rechtsgelehrten der verschiedenen islamischen Rechtsschulen fortwährend über die Jahrhunderte entwickelt und schriftlich festgehalten wurden. Diese „Fiqh“ genannten Aufzeichnungen wurden als Nachschlagewerke von Richtern genutzt, ohne jedoch Gesetzescharakter zu haben. Die Richter im vormodernen Ägypten hatten demnach einen großen Interpretations- und Entscheidungsspielraum in der Anwendung des islamischen Rechts, das in diesem Sinne auch oft als „Richterrecht“ bezeichnet wird.

Dieser Zustand änderte sich jedoch Anfang des 19. Jahrhunderts. 1798 wurde Ägypten von den Franzosen besetzt und ihre nur kurze Besatzung hatte einen prägenden Einfluss auf das Land. Unter der darauf folgenden Herrschaft Muhamed Alis (1805-1848) und seiner Nachfolger wurden weitreichende Reformen eingeführt, um Ägyptens Unabhängigkeit zu sichern. Das Staatswesen wurde nach europäischen Vorbildern reformiert. Entsprechend kodifizierte man das Rechtssystem, d.h. Gesetze wurden erstmals in Gesetzesbüchern festgelegt. Inhaltlich handelte es sich oftmals um Replikationen des europäischen Rechts.

An das Familienrecht wagte man sich jedoch erst relativ spät. Dies lag daran, dass gerade das Familienrecht sehr detailliert in der islamischen Sharia vorhanden ist und die Kodifikation dieses Rechtsbereichs somit auf viel Widerstand stieß. Eine erste umfassende Version eines Familiengesetzbuches wurde 1875 bearbeitet. Da sich zwischen den verschiedenen Interessengruppen jedoch kein Konsens finden ließ, wurde es nie in Kraft gesetzt.

In den 1920er Jahren kam es zu ersten vereinzelten Familienrechtskodifikationen, aber bis heute gibt es kein umfassendes Familiengesetzbuch für die muslimische Bevölkerung, sondern nur gesetzliche Regelungen einzelner familienrechtlicher Aspekte, so dass weiterhin Bedarf an  kontinuierlichen Rechtsreformen in diesem Bereich bestehen.

Bei interkonfessionellen Eheschließungen gilt jedoch ausschließlich das islamische Recht als das allgemeine Recht. Somit ist islamisches Recht einschlägig, z.B. bei einer koptisch-katholischen Eheschließung.

Familienbild und Familienrecht im heutigen Ägypten

Obwohl im heutigen Ägypten ein gleichberechtigtes Zusammenleben der Eheleute propagiert und zunehmend auch praktiziert wird, basiert das aktuelle Familienrecht auf einem traditionellen Familienbild, nach dem sich die Frau nach der Eheschließung ausschließlich der Familie widmet und keine berufliche Karriere verfolgt. Deutlich wird dies in verschiedenen Bereichen:

Ehepflichten

Während die Ehefrau ihrem Ehemann Gehorsam zu leisten hat, ist der Ehemann verpflichtet, der Ehefrau Unterhalt zu zahlen. Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine ungehorsame Frau ihren Anspruch auf Unterhalt verlieren kann.

Aufgabenverteilung bezüglich gemeinsamer Kinder

Während die Ehefrau die Personensorge für gemeinsame Kinder übernimmt und somit verantwortlich für die Kleidung, Nahrung und Erziehung der Kinder ist, obliegt dem Ehemann die Vormundschaft. Er vertritt somit die persönlichen und finanziellen Interessen des Kindes und hat die gesetzliche Entscheidungsgewalt, z.B. bei Schulwahl und Universitätsausbildung, medizinischer Versorgung und Heirat der Kinder. Gleichzeitig ist er jedoch auch finanziell verpflichtet. Dieses Familienbild entspricht nicht unbedingt mehr der Realität, da es heute zahlreiche beruflich sehr ambitionierte und erfolgreiche Frauen in der ägyptischen Gesellschaft gibt.

Berufstätigkeit der Frau

Die vom Familienrecht festgelegte Rollenvorstellung setzt sich in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fest. So zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt. Obwohl in dem unter der Regierung Nasser eingeführten Arbeitsrecht Frauen und Männer gleichberechtigt gelten, liegt die Erwerbstätigkeitsquote im formellen Bereich von Frauen in Ägypten lt. CAPMAS bei 25%, im Vergleich zu Deutschland mit 55%. Besonders mittelständische Unternehmen investieren nicht in weibliche Arbeitnehmerinnen. So werden Frauen seltener eingestellt, befördert und auch bei Fortbildungsmaßnahmen werden Männer bevorzugt. Somit gibt es heute viele gut bis sehr gut ausgebildete junge Frauen, die dem Arbeitsmarkt von vornherein fernbleiben. Ein immer noch weitverbreitetes Phänomen ist, dass junge Frauen nicht mit dem Ziel einer beruflichen Karriere studieren und zum Teil sehr teure private Universitäten besuchen, sondern dadurch ihre Heiratschancen verbessern und auf diese Weise die Zeit bis zur Heirat überbrücken möchten. 

Scheidungsrecht

Insbesondere tangiert das geltende Scheidungsrecht die Rechtslage der Frau signifikant. Für Männer und Frauen gilt in Ägypten ein unterschiedliches Scheidungsrecht. Dem Ehemann obliegt das uneingeschränkte „talaq“-Recht. Dies bedeutet, dass der Ehemann ohne die Nennung von Gründen und ohne Heranziehung eines Richters die Ehe beenden kann. Neben den eher lockeren Formerfordernissen des islamischen Rechts hat das nationale Recht, zum Schutze der Frau, eine weitere Formvorschrift erlassen. Demnach ist der Ehemann verpflichtet, die Scheidung bei der Personenstandsbehörde anzuzeigen, damit der Standesbeamte die Scheidung registriert und gegebenenfalls die Ehefrau in Kenntnis setzt.

Demgegenüber hat die Ehefrau grundsätzlich nur Anspruch auf eine richterliche Scheidung. Dazu muss sie beweisen, dass sie durch die Ehe einen Schaden erlitten hat. Dieser kann u.a. vorliegen, wenn der Ehemann keinen Unterhalt zahlt, bei häuslicher Gewalt, der Heirat einer weiteren Frau, strafrechtlicher Verfolgung des Ehemannes u.ä. Es wird jedoch jeder Fall einzeln betrachtet und der Richter hat einen Ermessensspielraum bei der Entscheidung, ob der angeführte Schaden als Schaden im Sinne des Scheidungsrechts qualifiziert werden kann. Dieser Spielraum bedeutet auch, dass Frauen aus verschiedenen sozialen Schichten unterschiedliche Grade an Schaden akzeptieren müssen. Eine Scheidung aufgrund eines erlittenen Schadens ist ein sehr langwieriger Prozess. Diese Scheidungsfälle sind häufig zwei oder mehr Jahre an den Gerichten anhängig.

Ein sehr viel schnellerer Weg zur Scheidung ist die sogenannte „Khula“-Scheidung. Auch hier handelt es sich um eine richterliche Scheidung, es muss jedoch kein erlittener Schaden bewiesen werden. Vielmehr kann die Ehefrau vom Richter beantragen, sie ohne die Nennung irgendwelcher Gründe zu scheiden. Im Gegenzug dazu muss sie auf sämtliche finanzielle Ansprüche verzichten.

Ausnahmsweise kann die Ehefrau, genau wie der Ehemann, das uneingeschränkte „talaq“-Recht haben. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass bei der Eheschließung dieses Recht im Ehevertrag festgelegt wurde. Allerdings besteht in weiten Teilen der Bevölkerung großes Unwissen bezüglich dieser Scheidungsmöglichkeit, häufig wird auch fälschlicher Weise angenommen, dass der Ehemann sein uneingeschränktes „talaq“-Recht verlieren würde, wenn er es seiner Frau im Ehevertrag überträgt. Vor allem ist diese Option gesellschaftlich nur wenig akzeptiert. Eine Frau muss neben ihrer Kenntnis über dieses Recht auch über eine große Portion an Durchsetzungskraft verfügen, denn häufig ist es nicht nur die Familie, die diesen Weg ablehnt, sondern auch der Standesbeamte, der eine schriftliche Festlegung im Ehevertrag untersagt.

Unterhaltszahlungen stehen Frauen – mit Ausnahme der Khula-Scheidung - nur für einen begrenzten Zeitraum von bis zu zweieinhalb Jahren nach der Scheidung zu. Wenn es gemeinsame Kinder gibt, ist der Ehemann verpflichtet, für diese weiterhin Unterhalt zu zahlen. Die Unterhaltsregelungen in Ägypten sind von verschiedenen Kriterien abhängig: Bei gleicher Religionszugehörigkeit der Eltern und keiner Wiederheirat der Mutter ist es derzeit Rechtspraxis, dass Kinder bis zum 15. Lebensjahr bei der Mutter bleiben und danach einen Anspruch auf eigene Entscheidung haben, bei welchem Elternteil sie wohnen möchten.

Gütertrennung

In Ägypten gilt automatisch der Grundsatz der Gütertrennung. Dies bedeutet, dass die Ehepartner keinen Anspruch an dem Vermögen haben, welches man gemeinsam oder der andere Ehepartner während der Ehe erworben hat. In der Regel ist eine Scheidung für die Frau deshalb von großer finanzieller Bedeutung. Ist sie gemäß dem traditionellen Familienbild keiner entgeltlichen Beschäftigung nachgegangen, sondern hat ihre Arbeitskraft unentgeltlich der Familie gewidmet, gerät sie nicht selten durch eine Scheidung in finanzielle Nöte und endet oftmals auf dem informellen Arbeitsmarkt. Zwar können die Ehepartner eine Zugewinngemeinschaft im Ehevertrag vereinbaren, jedoch herrscht auch über dieses Rechtsinstitut großes Unwissen und es wird nur selten genutzt.

Erbrecht

Das Erbrecht beruht für die gesamte ägyptische Bevölkerung auf dem islamischen Recht. Das islamische Erbrecht ist sehr detailliert und in jedem Erbrechtsfall muss die spezifische Konstellation der Erben untersucht werden. Das islamische Erbrecht wird immer wieder als diskriminierend für die Frau dargestellt. Der äußerst komplexe Sachverhalt kann hier nicht hinreichend beantwortet werden. Sehr vereinfacht kann man jedoch festhalten, dass in der Regel der Erbteil einer Frau die Hälfte des Erbteils eines Mannes, der zu dem Erblasser in gleichem familiärem Verhältnis stand, beträgt.

Ausblick - jüngste Entwicklungen in der Familienpolitik

2014 trat in Ägypten eine neue Verfassung in Kraft, in der Frauenrechte ausgiebig Erwähnung finden. Während jedoch einerseits die Förderung von Frauen, u.a. beim Zugang in Führungspositionen, versprochen wird, hält man in der Verfassung andererseits am traditionellen Familienbild und der Rollenverteilung fest. Allerdings sind unter der derzeitigen Regierung mit dem Präsidenten El Sissi zahlreiche Frauen in hohe politische Ämter ernannt worden.

Der Kampf gegen sexuelle Belästigung wurde durch eine Gesetzesreform 2014 verbessert und es sind schon zahlreiche, z.T. sehr harte Urteile ergangen.

Die Regierung hat das Jahr 2017 zum Jahr der ägyptischen Frau deklariert und zahlreiche Förderungsprojekte, Konferenzen und Gesetzesreformen umgesetzt.

2017 fand auch eine Erbrechtsreform statt. Die grundsätzlichen Rechtsverhältnisse wurden jedoch nicht angerührt. Vielmehr wurde ein einzelner überwiegend in der ländlichen Bevölkerung verbreiteter Missstand unter Strafe gestellt: Wenn es um Ländereien geht, werden  Töchter häufig von ihrem ohnehin geringen Erbteil ausgeschlossen, damit das Land nicht in die Familie des Mannes übergeht. Mit der Gesetzesreform soll das Erbrecht der Frauen geschützt werden.

Im 20. Jahrhundert fanden zahlreiche Reformen statt, die darauf abzielten, die Rechtslage der Frau zu stärken. Reformen im Familienrecht sind zwar möglich, aber überaus schwierig in Ägypten. Dies ist besonders wegen der Omnipräsenz des Islamischen Rechts in diesem Rechtsgebiet gegeben. Grundlegende Reformen im Familienrecht oder gar eine Säkularisierung dieses Rechtsgebiets sind in naher Zukunft nicht zu erwarten. In dieser Situation stellen Vereinbarungen im Ehevertag das wichtigste Hilfsmittel für die ägyptische Frau dar, um ihre persönlichen Rechte zu schützen. Im Sinne der Vertragsfreiheit können die Ehepartner alle Abmachungen eintragen, solange sie nicht ausdrücklich im Widerspruch zum islamischen Recht stehen. Eine besondere Aufgabe bestünde in der breiten Information und Aufklärung der Bevölkerung über die familienrechtlichen Möglichkeiten, aber auch in der Ermutigung zur Nutzung der bestehenden Rechte. Die erwähnte Möglichkeit im Ehevertrag, ein gleichberechtigtes Scheidungsrecht und die Zugewinngemeinschaft festzuschreibe, sind hierfür wichtige Beispiele.

Nora Allim lebt in Kairo und hat sich als Juristin auf ägyptisches Familienrecht spezialisiert.