Die 40 km lange Fahrt nach Abu Zaabal dauert bei günstigen Verkehrsverhältnissen ca. eineinhalb Stunden. Aus der Stadtmitte über die 6.Oktober-Brücke durch den Vorort Heliopolis Richtung Ismailia, am Flugplatz vorbei und schließlich linker Hand Richtung Bilbeis. Lässt man die schicken Bauten der Obour-City links liegen, steuert man schon bald in eine staubige Wüstenlandschaft, unterbrochen von Fabriken, kleinen zumeist ärmlichen Siedlungen, Sozialwohnungen und Dörfern.

Wir sind mit dem Bus der DEO (Deutsche Evangelische Oberschule) unterwegs, deren Sozialkomitee regelmäßig Besuche von Schülerinnen und Schülern organisiert, die in Abu Zaabal Sachspenden verteilen. Heute begleitet uns zusammen mit einer Kollegin auch Beate Elsner, eine ehemalige DEO-Lehrerin, die seit sieben Jahren an ihrer jetzigen Schule in Berlin mit einer vorweihnachtlichen Aktion von Schülerinnen und Schülern Spenden für das Lepradorf sammelt. Eine 9. Klasse der DEO ist dieses Mal mit ihrem Klassenlehrer für die Verteilung der im Dorf heißbegehrten Geschenke wie Tee, Seife, Handtüchern sowie kleinen Tüten mit Chips, Keksen und Saft zuständig.

Zwischen Stigma und Paradies

Bei der Ankunft in Abu Zaabal entsteht der Eindruck einer wohltuend grünen Oase mit hohen Eukalyptusbäumen, Koniferen, Obstplantagen und Schilfgräsern. Der Wohnbereich für Frauen besteht aus langgezogenen ebenerdigen Gebäuden, in denen sich die sehr schlichten Zimmer der Bewohnerinnen aneinanderreihen. Hier schlafen, wohnen und kochen jeweils drei bis vier Frauen. Andere leben in einer großen Halle mit ca. 20 Betten. Durch Tücher voneinander abgeschirmt erlauben sie jeder Bewohnerin ein klein wenig Privatsphäre. Ein Toiletten- und Duschtrakt, eine Gemeinschaftsküche sowie die Klinik und ein großer Gemeinschaftsraum sind dank finanzieller Unterstützung privater Spender frisch renoviert. Zwischen den Gebäuden spenden Bäume Schatten und in kleinen Gärten können Gemüse und Kräuter angepflanzt werden. Der Wohnbereich ist von einer Mauer umgeben, das Tor steht offen.

Großer Frauenschlafraum

Wohnbereich für Frauen

Die Vorsteherin Sabah und Milad, der seit 1980 als Leiter der Caritas für Abu Zaabal verantwortlich ist, empfangen Hanna Hartmann, die Initiatorin und Leiterin des DEO-Sozialkomitees, und ihre Begleitung wie alte Freunde und dann ziehen die jungen Besucher schwerbepackt zur der streng reglementierten Verteilung.

Vorsteherin Sabah

Überall werden wir offen und freundlich begrüßt und ohne Scheu in die Räume gebeten. Beliebt scheinen Fotos zu sein. Sehr liebenswürdig und gastfreundlich wenden sich auch die italienischen Schwestern vom Orden Saint Vincent de Paul den Gästen zu, nehmen sich Zeit für Erklärungen und vermitteln ihre große Hingabe für ihre Aufgaben und ihre Patienten.

Seite an Seite mit ägyptischen muslimischen Krankenschwestern, von denen einige mit einem weißen Gesichtsschleier angetan sind, pflegen und betreuen sie ihre Kranken unter dem Schutz und Segen des Heiligen Demian, der der Legende nach schon zu frühchristlicher Zeit einem Leprakranken sein zerfressenes Bein durch ein gesundes ersetzt und ihn dadurch geheilt haben soll. Er gilt als Schutzpatron von Ärzten und Krankenschwestern, der sie vor allem gegen Epidemien schützt.

Milad, Leiter Caritas

Neben älteren Frauen tummeln sich auch Kinder und junge Frauen und Mädchen auf dem Hof. Schon nach kurzer Zeit kommen ganze Tuk-Tuk-Ladungen aus dem benachbarten Dorf angefahren, vor allem Mütter mit Kindern, teilweise ehemalige Patienten oder deren Kinder, die an den Geschenken des heutigen Tages teilhaben möchten. Ähnlich sieht es im weiter entfernten Wohnbereich der Männer aus, wenngleich es auch wesentlich ruhiger zugeht. Die Männer gehen überwiegend ihren Beschäftigungen im Klinikbereich als Klempner, Gärtner, Schuster usw. nach.

Mohamed, Klempner

Einige suchen nach attraktiveren Verdienstmöglichkeiten. So wünscht sich Mohamed (Namen geändert), der als Klempner angestellt ist, „ irgendeine Arbeit draußen“, d.h. außerhalb des Dorfes, zu finden. Sein Traum: ein Kleinkredit für den Kauf eines Tuk-Tuks.

Ahmed, der vor 15 Jahren in die Klinik kam, schon lange geheilt ist, geheiratet hat und mit seiner Familie in „Safiha“, dem benachbarten Dorf, lebt, braucht Hilfe für seinen geistig behinderten Sohn.  

Neben den beiden Wohnsiedlungen gehören zu dem Lepradorf eine Klinik und ein Kindergarten, der im Nachbardorf Abdel Moneim liegt und von Caritas Ägypten für die Kleinsten des Dorfes eingerichtet wurde. In der Klinik liefern wir Pakete mit Handtüchern, Seife und Tee ab. Kontakt mit Patienten gibt es hier nicht. Die Scharen von Dorfnachbarn, die mittlerweile mit Tuk-Tuks, auf Pferdekarren und Kleintransportern im Schlepptau des Busses folgen, haben hier keinen Zutritt und versuchen direkt am Bus noch das eine oder andere zu ergattern. Erst am Kindergarten, wo der Bus in den Hof fährt, müssen sie vor dem geschlossenen Tor bleiben.

Als wir den Kindergarten um die Mittagszeit betreten, sitzen zwei Gruppen mit ca. 40 Kindern gerade beim Mittagessen, zwei weitere Gruppen sind noch in den Klassenräumen mit Malen beschäftigt. Alle Kinder bekommen hier eine warme Mahlzeit pro Tag.

Kinder am Mittagstisch

Deshalb freut man sich über die Säcke mit Nudeln und Milchpulver sowie Kisten mit Marmelade und Honig, mit denen einige Mahlzeiten sichergestellt sind. Jedes Kind bekommt als Gastgeschenk eine Tüte mit Chips, Keksen und Saft, die jedoch erst nach dem Essen verzehrt werden dürfen.

Über 700 Leprakranke leben in der Klinik und den dazugehörigen Wohnsiedlungen. In der Nähe der Klinik ist ein Dorf entstanden, in dem geschätzte 3000-4000 ehemalige Patienten der Lepraklinik mit ihren Angehörigen leben. „Safiha“ (Blech) wird diese Ansiedlung, in der Umgebung genannt, weil sie aus Wellblechhütten entstanden ist. Für die Verwaltung dieses Komplexes sind das ägyptische Gesundheitsministerium und das katholische Hilfswerk Caritas zuständig. Ausländische Hilfsorganisationen wie die deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe DAHW (nach dem früheren Namen Deutsches Aussätzigen-Hilfswerk) sorgen für finanzielle und konzeptionelle Unterstützung.

Abu Zaabal entstand 1930 als Aussätzigen-Kolonie weit außerhalb jeglicher menschlichen Behausung in einer öden Landschaft. Das Aussetzen erkrankter Menschen weit außerhalb der Siedlungen war die über Jahrhunderte in allen Ländern übliche und einzige Methode der Leprabekämpfung, um weitere Infektionen durch die damals unheilbare Krankheit zu verhindern. Wenn jemand an Lepra erkrankte, wurde er oder sie von der Polizei festgenommen, in das Lepradorf verfrachtet und musste dort lebenslänglich in einem open-air–Gefängnis ohne Kontakt zur Familie leben. In den 50er Jahren war Abu Zaabal ein abgeschiedener Ort in der Wüste, Tag und Nacht bewacht von berittenen Polizisten auf Kamelen. Die zur Kolonie gehörigen 125 Feddan Land (1 Feddan = 4200 m2) waren zur Selbstversorgung gedacht; allerdings führten die Ängste der Außenwelt dazu, dass die Kranken ohne Betreuungs- und Pflegepersonal auf sich selbst gestellt blieben und die Einrichtung völlig verwahrloste und verfiel. Ab 1985 konnte die ägyptische Regierung italienische Ordensschwestern des Ordens Saint Vincent de Paul gewinnen, die das verfallene Anwesen wieder aufbauten und sich um die Pflege der Patienten kümmerten. In den folgenden Jahren wuchs die Kolonie zum größten Leprosorium im Nahen Osten an.

Eine entscheidende Veränderung brachte die Entwicklung von Medikamenten zur Heilung der Krankheit mit sich. Seit Beginn der achtziger Jahre können Erkrankte mit einer Kombination aus drei Antibiotika erfolgreich behandelt werden, wenn die Krankheit frühzeitig erkannt wird. Lepra verlor ihren Schrecken und heute arbeiten neben den italienischen Schwestern vor allem auch ägyptische Ärzte und Pflegkräfte in der Klinik. Zwischenzeitlich entstanden vor Ort Bäckereien, eine Besenbinderei, Werkstätten für orthopädische Schuhe und Prothesen. Das Geld von ausländischen Spendern ermöglichte die Bezahlung von Arbeitskräften. Heute zählt das Dorf ungefähr 6000 Einwohner. Nicht nur ehemalige Patienten leben dort - die mit dem Wachstum verbundenen Arbeitsmöglichkeiten ziehen auch Menschen von außerhalb an.

Weltweit hat Lepra, früher als „Geißel der Menschheit“ gefürchtet, ihren Schrecken verloren. Dennoch ist die Krankheit, deren Erreger namens Mycobacterium leprae bereits in Mumien der Pharaonen nachgewiesen wurde, noch nicht ausgerottet. Lepra ist heilbar geworden, wenn sie frühzeitig erkannt wird. Jedoch herrscht noch Unklarheit bezüglich des Übertragungsweges. Diese „Krankheit der Armen“ kann sich verbreiten, wenn Hygiene, Ernährung, günstige Lebensumstände und kompetente medizinische Versorgung fehlen. Durch die Erkrankung werden Nerven zerstört, Arterien und Venen

verstopfen durch eine Verdickung des Blutes, in schweren Fällen zersetzen sich Muskeln, Organe und sogar Knochen. Da befallene Teile des Körpers taub werden, verspüren die Erkrankten an diesen Stellen keinen Schmerz, weitere Verletzungen und Entzündungen sind die Folge. Immer noch stellt Lepra mit insgesamt circa 200.000 Erkrankungen pro Jahr eine schwere Gesundheitsbedrohung in vielen Ländern dar, an der Spitze stehen Indien und Brasilien gefolgt vom Südsudan. Ägypten befindet sich nicht unter den Spitzenreitern der Statistik, allerdings mag das auch an fehlendem Datenmaterial liegen. Leprafrei ist nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ein Land, wenn es weniger als einen Erkrankten auf 10 000 Einwohner gibt.

In den letzten Jahren werden nur noch wenige neue Patienten nach Abu Zaabel gebracht. Lediglich schwere Fälle kommen in diese zentrale Klinik, denn in allen Gouvernoraten wurden regionale Gesundheitszentren eingerichtet, die auf die Früherkennung von Lepra spezialisiert sind und in denen eine direkte Behandlung möglich ist. Die Deutsche Lepra- und Tuberkulosehilfe DAHW unterstützt Lepraprojekte in Ägypten mit 150.000 bis 200.000 Euro im Jahr. Nach ihren Vorstellungen sollten die Mittel jedoch nicht zur Alimentierung der Gesundeten dienen, sondern dazu eingesetzt werden, die Voraussetzungen für ein eigenständiges Leben ohne Stigmatisierung zu führen. Außer dieser Unterstützung bei der „Abnabelung“ steht die Leprafrüherkennung, z.B. durch Ausbildung von Ärzten, im Vordergrund.

Die aktuellen politischen Veränderungen und Strömungen in Ägypten seit 2011 zeigten auch Auswirkungen auf Abu Zaabal. Ausländische Spenden wurden zunehmend kontrolliert und eingeschränkt, die Verbreitung islamistischer Vorstellungen im Dorf brachten eine Polarisierung zwischen den Religionen und verstärktes Misstrauen gegenüber Christen mit sich; der katholischen Caritas wurden Diskriminierung der Muslime und Missionierungsabsichten unterstellt. Die durch Gerüchte aufgestachelten Anfeindungen gingen soweit, dass die von der Caritas im Dorf eingerichteten Gemeinschaftsräume überfallen und verwüstet wurden. Besonders erschütternd war diese Eskalation, weil „ die Religion bei uns nie eine Rolle gespielt hat“, so Milad, der Dorfleiter von Caritas. „Heute hat sich alles wieder entspannt“, stellt er mit Erleichterung fest.

Die Tore stehen weit auf für die ehemaligen Leprakranken. Dennoch bleiben fast alle in Abu Zaabel. Auch wenn Lepra im medizinischen Bereich als heilbar und nur schwach ansteckend gilt: Das Stigma besteht auch weiterhin: Es gibt nach wie vor Unsicherheit vieler Menschen gegenüber Lepra, vor allem angesichts der unauslöschlichen äußeren Krankheitsmale wie Hautflecken, verkrüppelte oder fehlende Extremitäten. Sogar heute noch, auch wenn heute viele Ägypter ihre Angst ablegen und Abu Zaabal besuchen, um Nahrungsmittel, Kleidung und andere Spenden vorbeizubringen. Der Widerstand bei der Reintegration in die Gesellschaft liegt aber auch bei den ehemaligen Patienten. „Für mich ist hier das Paradies. Warum soll ich woanders hingehen? Hier sind alle gleich. Niemand schließt uns aus.“ „Wir haben hier unsere Routine, unsere Versorgung, Medikamente, Nahrung, Kleidung.“