Teil 3: Die Rückkehr der Kopftücher.
Wenn ich heute an meine erste Ankunft in Ägypten im Jahre 1959 zurück denke, kann ich fast nicht glauben, dass Ägypten das gleiche Land ist, dass ich an den gleichen öffentlichen Plätzen in Kairo stehe, die ich damals besuchte, so krass sind die Veränderungen. Wehmütig denke ich manchmal an die „guten alten Zeiten“. Damals wurde noch niemand von der Geräuschkulisse, den Menschenmengen und dem Staub buchstäblich erschlagen. Ein Gefühl der Fremdheit konnte gar nicht erst entstehen, weil das Stadtbild und seine Bewohner sich kaum von einer europäischen Großstadt unterschieden.
Zoobesuch Ende der Sechziger © Dew
Viele Frauen in Kairo und Alexandria orientierten sich in den 50er bis 70er Jahren an der französischen „haute couture“. Sie trugen das Haar sorgfältig frisiert und je nach Mode Maxi, Mini, hochgeschlossene oder ärmellose Kleider. Am damals beliebten Badeort Maamoura in Alexandria konnte ich die neuesten französischen Damen-Bademoden – z.B. den „french cut“, der das Bein optisch verlängerte – bewundern. Dieses freizügige Modell setzte sich zur gleichen Zeit in Deutschland nur zögerlich durch. Doch die ägyptischen Städterinnen griffen den Trend auf und gingen, gesellschaftlich wie modisch, durchaus gern mit ihren westlichen Geschlechtsgenossinnen konform. Kopftücher, wie sie heute getragen werden, habe ich damals nicht gesehen.
Segeltour in Alexandria 1959 © Eli Moreno
Heute sehe ich eine ganz andere Konformität. Inzwischen tragen die meisten Frauen jedes Alters so viel verhüllendes Textil, dass nur noch Gesicht und Hände frei bleiben. Zu knöchel- bzw. straßenlangem Rock, oder auch den beliebten weiten Hosen, tragen die meisten hochgeschlossene, zum Teil weite Oberteile. Am internationalen Modetrend scheinen sich nur noch jüngere Mädchen, Studentinnen und junge Frauen zu orientieren. Sie bevorzugen die trendigen, aus der Textilbranche nicht mehr wegzudenkenden, hautengen Jeans oder auch Leggings, die sie mit hüftlangen, flatterigen Blusen oder Westen kombinieren. Zwar unterscheiden sie sich auf den ersten Blick wenig von ihren Geschlechtsgenossinnen aus Europa, aber bei näherem Hinsehen wird offensichtlich, dass Arme, Ausschnitt, Hals mit langärmeligen, eng anliegenden Shirts keusch bedeckt bleiben.
Junge Frauen im Azhar-Park 2017 © Roshanak Zangeneh
Auch das Kopftuch scheint inzwischen unerlässlich und ist aus dem Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Bei dieser totalen Haarverhüllung wird augenscheinlich strengstens darauf geachtet, dass keine noch so vorwitzige Haarsträhne unter dem Tuch hervorlugt und - „Gott behüte“ - von fremden Männern vielleicht gesehen werden könnte. Um einem solchen „Schrecknis" entgegenzuwirken, wird der - nur auf den ersten Blick leger erscheinende - Kopfputz sorgfältig und geschickt mithilfe von einem Dutzend Stecknadeln so festgesteckt, dass er auch nicht einen Millimeter rutschen kann.
Azhar-Park 2017 © Roshanak Zangeneh
Diese, für mein Empfinden recht konservative, Kleiderordnung beobachte ich mit wachsendem Erstaunen. Ich empfinde diese Entwicklung eher traurig und rückwärtsgewandt. Denn Ägypten ist ein Land, dessen Frauenbewegungen schon Anfang des 20. Jahrhunderts sehr stark und – vor allem für die arabischen Staaten – richtungweisend waren.
Ich denke dabei zum Beispiel an Hoda Shaarawy, eine der ersten ägyptischen Frauenrechtlerinnen. Die 1879 geborene Tochter einer wohlhabenden, einflussreichen Kairoer Stadtfamilie organisierte schon während der Ägyptischen Revolution 1919 erste Frauendemonstrationen auf Kairos Straßen.
Oder ich denke an Doria Shafik, geb.1908, die als erste Frau mit einem Stipendium vom ägyptischen Erziehungsministerium an der Sorbonne studierte, mit einem Doktor der Philosophie zurückkam und sich vorgenommen hatte, für die absolute Gleichberechtigung der Frau in Ägypten zu kämpfen.
Auch das von der ägyptischen Frauenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts in nur zehn Jahren gekippte Verbot, an der Universität zu studieren, fällt mir in dem Zusammenhang ein. Bereits 1928 konnten sich Studentinnen an der Universität Kairo einschreiben.
Die Frauenrechtlerinnen dieser frühen Tage forderten nicht weniger als das Recht auf Schulbildung, die Anhebung des Heiratsalters auf mindestens 16 Jahre, die Abschaffung der Polygamie und nicht zuletzt das politische Wahlrecht für Frauen. Und auch die damalige Kleiderordnung spielte im Kampf um Rechte und Gleichberechtigung eine nicht unerhebliche Rolle.
Hoda Shaarawy (Mitte) 1923 © Carrie Chapman Catt papers, Special Collections Department, Bryn Mawr College Library
Hoda Shaarawy sorgte mit einer kleinen Geste für einen regelrechten Skandal. Nach ihrer Rückkehr von einer internationalen Frauen-Konferenz in Rom 1923 legte sie – noch am Kairoer Bahnhof – demonstrativ ihren Gesichtsschleier ab. Später bekam dieses Zeichen weitreichende Bedeutung. Denn der damalige Gesichtsschleier, die Buraqa, ein leichtes weißes Tuch oder elegantes Netz, welches mittels eines verzierten Schmuckstäbchens auf dem Nasenrücken gehalten wurde und nur die Augen freiließ, war in den 20er und 30er Jahren auf Ägyptens Straßen kaum noch zu sehen. Zugleich verschwand nach und nach das Harem-System, welches Frauen „von Stand“ auf ein Leben im Haus des Vaters oder des Ehemannes beschränkte.
Dabei ging es Hoda Shaarawy aber nicht um Anpassung an westliche Gepflogenheiten. Sie wollte nicht die Ideale und Bilder der westlichen Feministinnen übernehmen, sondern vertrat einen ganz eigenständigen Ansatz: Die Kultur ihres Landes und den Islam verstand sie als Grundpfeiler der ägyptischen Frauenbewegung. Sie berief sich auf die Gender-Gleichberechtigung aus der Pharaonenzeit und hob zudem hervor, dass auch der Islam ursprünglich den Frauen die gleichen Rechte wie den Männern garantiert habe. Diese seien jedoch im Laufe der Zeit den Frauen durch ständige Fehlinterpretationen des Korans wieder genommen worden.
Das Engagement der damaligen und späteren Frauenbewegungen wurde durch den ägyptischen Ministerpräsidenten Gamal Abdel Nasser, der für solche Bemühungen sehr aufgeschlossen war, unterstützt. Er führte 1956 neben dem Wahlrecht auch umfassendere Bildungsmöglichkeiten für Frauen ein. Und mit dem von ihm geändertem Arbeitsgesetz von 1959 ratifizierte er die völlige Gleichheit zwischen den Geschlechtern im Arbeitsverhältnis, wie auch bei den jeweiligen Gehältern. Forderungen nach einer „Kopftuchpflicht" für Musliminnen lösten seinerzeit Gelächter aus.
Gamal Abdel Nasser über eine mögliche Kopftuchpflicht in Ägypten, 1953
Heute erwecken die ägyptischen Städterinnen bei mir den Eindruck, als ob sie von ihrer landeseigenen Frauenrechtstradition nichts mehr wissen oder wissen wollen. Was ist geschehen? Warum sind der Schleier bzw. das Kopftuch, welche nach dem Verständnis der frühen Frauenrechtlerinnen auch als Zeichen von Unfreiheit bewertet wurden, nach den beachtlichen Erfolgen der ägyptischen Frauenbewegung plötzlich wieder modern?
Als Hoda Shaarawy, zu ihrer Zeit die bedeutendste arabische Frauenrechtlerin, 1923 den Gesichtsschleier ablegte, protestierte sie gegen gesellschaftliche Strukturen, die Frauen aus dem öffentlichen Leben ausschlossen, und weil sie den Schleier mit Unfreiheit verband. Als die jungen Frauen, vor allem der unteren Mittelschicht, in den späten 70/80er Jahren wieder zum Kopftuch griffen, geschah dies ebenfalls aus Protest? Aber gegen was?
Natürlich gibt es keinen einzelnen Umstand, den man sofort benennen könnte. Aber aus den 80er Jahren sind mir einige Details in Erinnerung, die Ägypten und seine Frauen aus meiner Sicht verändert haben. Dazu zähle ich die politische Öffnung nach Westen, die Arbeitsemigration nach Saudi-Arabien und die Einführung des Satelliten-Fernsehens.
Nach dem Tod Gamal Abdel Nassers öffnete sein Nachfolger Anwar As Sadat mit seiner Politik „der offenen Tür“ Ägypten gegenüber dem Westen. Hinzu kam, dass der durch die Kriege unter Nasser und später unter Sadat verarmte Mittelstand jede sich bietende Gelegenheit ergriff, den Arbeitsangeboten aus Saudi Arabien und den Golfstaaten zu folgen. Viele der ägyptischen Gastarbeiter kehrten plötzlich mit Vollbart und Gastarbeiterinnen mit Vollverschleierung - und meistens auch mit reichlich religiösem Sendungsbewusstsein - aus Saudi-Arabien nach Hause zurück.
Das in den 80er Jahren eingeführte Satelliten-Fernsehen überflutete die ägyptischen Zuschauer nicht nur mit Informationen, sondern auch mit fremden Moral- und Wertevorstellungen, die sich mit ägyptischen Traditionen und Sitten fast nicht mehr vereinbaren ließen.
Es schien, als ob in dieser Entwicklungsphase vor allem religiösen Eiferern einen akzeptierten Platz in der Gesellschaft eingeräumt wurde.Denn plötzlich erschollen Freitagsgebete mittels starker Lautsprecher, fast ohrenbetäubend, sogar aus Wohnzimmerfenstern.
In diesen Jahren hörte ich viel von „Rückbesinnung zur eigenen Identität“. Frauen kämpften gemeinsam mit Männern gegen eine Gesellschaft, die sich - wie sie glaubten - kulturell und politisch vom Westen überfremden ließ. Studentinnen fühlten sich mit Kopftuch „sicherer, sogar gleichberechtigter“. Junge Studenten schlüpften in die Rolle von Sitten-Polizisten und hielten mit erzieherischen Bemerkungen nicht zurück, wenn sie auf dem Campus eine ihrer Mit-Kommilitoninnen mit kurzen Ärmeln antrafen.
Das lokale Fernsehen strahlte regelmäßig religiöse Fragestunden aus. Der damalige Groß-Sheikh Muhammad Sayyed Tantawi beantwortete geduldig die oft naiv anmutenden Fragen. Jemand wollte zum Beispiel wissen, ob es „haram“ sei, wenn seine Wohnung mit einem Pinsel aus Schweineborsten gestrichen würde; während ein anderer junger Mann meinte, seine Braut müsse eigentlich ein Niqab ohne Sehschlitze tragen. Wenn das nicht möglich sei, könne er aber mehr als ein freies Auge nicht tolerieren. Der Genuss von deutschen Süßigkeiten aus Weingummi, den beliebten Gummibärchen, löste plötzlich einen Streit um religiöses „Haram oder Halal“ aus. Andere Fernsehprediger erzählten einschmeichelnd lächelnd und überzeugend, dass es weder Make-up, eine nette Frisur oder enge Kleidung benötige, um schön zu sein. Der feste Glaube an Gott würde sich mittels ihrer inneren Ausstrahlung als die wahre Schönheit in ihrem Gesicht widerspiegeln. Den Frauen und Mädchen wurde suggeriert, dass es die höchste Aufgabe einer Frau sei, Mutter und Ehefrau zu sein.
Eine Frauenrechtlerin, die in einem ähnlichen Programm die vielen Fragen von jungen Frauen und Mädchen beantwortete - nach dem Motto - „Wie kann ich die Anordnungen Gottes und seines Propheten noch besser umsetzen?“, ließ dagegen nichts unversucht, neben religiösen Erklärungen die Frauen auch über ihre gesetzlichen Rechte zu informieren. Nachdem mehrere Studentinnen mit Niqab, also Vollverschleierung, empört vor der Kairoer Universität demonstriert hatten, weil ihnen wegen ihrer Kleidung der Zutritt verwehrt worden war, fragte diese Feministin sehr traurig, fast resigniert: „Was macht Ihr Mädchen da eigentlich? Was wollt ihr? Wir sind für euch auf die Straße gegangen und haben protestiert, wir haben jahrelang für eure Rechte gekämpft, und nun seid ihr bereit, alles, was wir erreicht haben, wieder fortzuwerfen?“ Auch sie verstand die Verschleierung als Rückschritt.
Ägyptische Frauen haben heute weitreichende soziale und öffentliche Rechte. Sie sind ab ihrem 21. Geburtstag volljährig, können wählen, in die Politik gehen, öffentliche Ämter bekleiden. Frauen sind auf allen Gebieten geschäftsmündig. Sie können die Scheidung einreichen, was früher ausschließlich das Privileg des Mannes war. Frauen sind aus dem öffentlichen Leben heute nicht mehr wegzudenken. Viele sind berufstätig, sie sind Ministerin, Geschäftsfrau, Professorinnen und Wissenschaftlerinnen, Ärztinnen, Juristinnen, Moderatorinnen, Lehrerinnen, öffentliche Angestellte, Tankwartinnen, ja sogar Taxifahrerinnen. Das Fernsehen berichtete kürzlich sogar sogar von einer Lastkraftfahrerin. Sie vertreten mit oder ohne Schleier ihre Positionen und stehen ihre Frau.
Dennoch scheinen viele Frauen, was ihre persönliche Freiheit betrifft, nicht wirklich frei zu sein. Sie werden von den immer noch strengen Traditionen ausgebremst. Um sich mit der Familie nicht zu entzweien, folgen sie immer noch den Meinungen der männlichen Familienmitglieder, sei es Vater oder Bruder. Diese Tradition verhindert oft auch die Umsetzung der formalen Rechte im täglichen Leben.