Wenn man sich mit Ägypten beschäftigt, muss man sich wohl oder übel mit dem Jenseits und dem Tod auseinandersetzen. Die Alten Ägypter waren ohnehin der Meinung, dass der Tod nichts weiter als eine Krise im Leben ist, die überwunden wird. Man stirbt zwar, aber man ist nicht tot. Richtig tot sein bedeutete, ein schlechter Mensch gewesen und der altägyptischen Seelenfresserin Anmit zum Opfer gefallen zu sein. Ägypter, die auf einem Friedhof wohnen, haben keine Angst vor den Toten. Leben und Tod, Werden und Vergehen, sind wie Zwillinge in diesem Land. Die Not der Lebenden ist oft so groß, dass selbst der Tod wie ein guter Freund gehandelt wird. Die altägyptische Skorpiongöttin Selket, die Hüterin der Schwelle und des Übergangs in ein neues Leben, sagte: „Ich habe das Gestern gesehen, ich kenne das Morgen.“

Erwähnt man Kairoern gegenüber die „Totenstädte“ oder äußert gar den Wunsch, diese zu besuchen, erntet man ungläubiges Kopfschütteln: „Was willst du dort, da geht doch kein Tourist hin, viel zu gefährlich, wer weiß, was da passiert.“ Für viele Kairoer sind die Totenstädte eine düstere Gegend. Sie wissen zwar davon, wollen aber mit den dort lebenden Menschen nichts zu tun haben. Es drängt mich dann noch mehr, diese Stadt in der Stadt zu besuchen. Man kommt auch nicht daran vorbei, wenn man auf der Spur der Mamluken ist, die zwischen 1250 und 1517 Ägypten regierten. Die Friedhofsstädte, in der Sultane und Emire neben Grabmoscheen, Mausoleen, Wohnhäusern für Grabbesucher und Familienangehörige, auch Unterkünfte für Mitglieder religiöser Orden schufen, sind einzigartig in der islamischen Welt. Überzeugt haben mich letztendlich die Fotos unseres amerikanischen Freundes Alexander Nesbitt. Bei seinem Österreichbesuch präsentierte er uns sein Portfolio mit Schwarzweiß-Aufnahmen von einer der „qarafas“, wie die Totenstädte noch bezeichnet werden.

Eine der vielen bewohnten Friedhöfe © L. Strizik/ A. Marowetz

Schätzungen zufolge sollen 300.000 bis zu einer Million Ägypter auf Kairos Friedhöfen leben. Was in den 1920er-Jahren als illegale Besetzung begann, ist heute ein dicht besiedeltes Armenviertel, das längst an die Wasser- und Stromversorgung angeschlossen ist. Nach dem Sechstagekrieg  von 1967 waren es vor allem Flüchtlinge, die sich in der Gräberstadt der Mamluken ansiedelten. Doch es wurden immer mehr, sogar aus den ländlichen Gebieten Oberägyptens kamen (und kommen) die Menschen. Sie haben die Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben im Gepäck, wobei die Friedhöfe eine erste Anlaufstelle für leistbare Wohnmöglichkeiten bilden.

Eine Familie unterwegs zur Schule © L. Strizik/ A. Marowetz

Viele Familien sehen das als Übergangslösung, bis die Männer Arbeit gefunden haben und eine bessere Wohnung gemietet werden kann. Dazu kommt es in der Regel nicht, da die Bewohner der Totenstädte es sehr schwer haben, eine dauerhafte Arbeitsstelle zu finden. Einige arbeiten als Aufseher für die heutigen Besitzer der Grabanlagen und werden von diesen auch bezahlt. „Die Menschen sind freundlich zueinander, gegenseitige Unterstützung wird großgeschrieben. Haben sich die Bewohner erst einmal an Kakerlaken und Schädlinge aller Art gewöhnt, dann sind die Totenstädte mit den gewachsenen Strukturen angesichts der Wohnungsnot in Kairo keinesfalls die schlechtesten Wohnviertel. Die Zukunft ist ungewiss, die Regierung möchte die Menschen vertreiben“, erzählt Sabry, der mit uns die nördliche „qarafa“ besucht. „Seht euch doch um, die Grabanlagen sind teilweise großzügig angelegt, manche mehrstöckig mit Gräbern im Erdgeschoß, und mancherorts sogar von begrünten Höfen umgeben. Tauben fliegen durch die Straßen, Fernsehantennen ragen empor und die Wäsche flattert zwischen den Grabsteinen. Es gibt eine komplette Infrastruktur mit Stromleitungen, Postamt und Geldautomaten. Natürlich finden täglich nach wie vor Begräbnisse statt“, erklärt er uns. Dabei huscht ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht und ich ahne, dass noch eine Draufgabe kommt. „Alles in allem ist das fast ein normaler Wohnort, wenn da nicht die Geister der Verstorbenen wären. Bewohner haben berichtet, dass sie ihnen auflauern, wenn sie nach einem Fest zu spät nach Hause kommen. Die Geister fühlen sich dadurch in ihrer Nachtruhe gestört“, sagt er, steht auf und verlässt den Tisch, um nach seinem Vortrag einen theatralischen Schlusspunkt zu setzen.

Kaffeehaus in der Totenstadt © L. Strizik/ A. Marowetz

Die Nord-Süd Ausdehnung der größten Friedhöfe Kairos erreicht an die zwölf Kilometer. Der erste muslimische Friedhof in Ägypten ging mit der Gründung von Fustat durch Amr Ibn al-As im 7. Jahrhundert einher. Unter Ahmed Ibn Tulun erfolgte eine Ausdehnung in nördlicher Richtung, der die christlichen und jüdischen Gräber zum Opfer fielen. Auch der Bereich zwischen den alten Stadtteilen al-Qahira und Fustat, heute als „qarafa Sayida Nafisa“ bekannt, wurde zum Friedhof. Jene Nafisa stammte aus der Sippe des Propheten Muhammad. Sie kam als 44-Jährige nach Kairo, wo sie auch begraben liegt. Sie wird sehr verehrt und zahlreiche Pilger kommen zum „mawlid“, um an ihrem Grab zu beten und zu feiern. Im Norden des alten islamischen Viertels, nicht weit von den nördlichen Stadttoren entfernt, gibt es den „hölzernen Friedhof“. Das Besondere daran ist, dass neben einfachen Grabsteinen, die manchmal als Erkennungszeichen für männliche Verstorbene einen steinernen Turban und für weibliche einen Zopf aufweisen, auch Holzhäuschen stehen. Darin befinden sich Familiengräber, die im Gegensatz zu den Steinhäusern, die in den großen „qarafas“ zu finden sind, aus Holz gebaut wurden. Viele sind würfelförmig mit Flachdach, manche zweistöckig mit Balkonen und durchbrochenen Holzkuppeln ausgestattet, die wie Belüftungssysteme funktionieren. Diese Häuschen stehen ihren „steinernen Brüdern“ in nichts nach, auch sie haben Friese, sorgfältig herausgesägt aus Holz, die mit verschiedenen Mustern und Arabesken versehen sind. Obwohl der Friedhof sehr einheitlich wirkt, soll kein Fries dem anderen gleichen. So prominente Persönlichkeiten wie Badr al-Jamali, der Kommandeur der fatimidischen Armee, der Historiker und Pionier der Soziologie Ibn Khaldun, der berühmte Chronist al-Maqrizi und der Schweizer Forscher Johann Ludwig Burckhardt, der als Scheich Ibrahim bekannt war, haben hier ihre letzte Ruhestätte gefunden.

Als ich auf der Suche nach den Glasbläsern nördlich des Bab al-Futuh unterwegs war, wusste ich nichts über den hölzernen Friedhof. Es war auch schwer, die Glasbläserei zu finden, das gelang erst einige Jahre später mit der Hilfe von Aila. Sie war eine lustige „Nebenerwerbsreiseführerin“, die, während sie mit uns sprach, ständig auf der Suche nach Geschenken für ihre Tochter war. Selbst Aila fand die Glasbläserei nicht auf Anhieb, auch sie musste mehrere Bewohner nach dem Weg fragen. Es war eine sehr arme Gegend mit verfallenen Häusern, Müllbergen und staubigen Gassen, in die sie uns brachte. Blutige Handabdrücke, Schutzsymbole gegen Geister und den bösen Blick, waren auf Türstöcken und Mauern zu sehen. Ziegen sprangen über Ruinen, meckerten von Schutthügeln herab und knabberten an Plastiktüten. Zwischen schmutzigen Pfützen und Müllhaufen spielte ein Knirps Fußball. Ein kleines Mädchen rannte aus einer Nebengasse, sah uns mit ihren großen dunklen Augen herausfordernd an, steckte sich einen Rockzipfel in den Mund und lief dann dem Ball hinterher.

Glasbläser in seiner Werkstatt © L. Strizik/ A. Marowetz

Am Ende einer schmalen Gasse entdeckten wir endlich, was wir suchten, jene Tür, aus der die fauchenden Geräusche der Glasbläserei kamen. Erst als sich unsere Augen an das schummrige Licht gewöhnt hatten, erkannten wir drei Männer, die an einem altmodischen, aus Ziegeln gemauerten Ofen saßen, allerdings gasbetrieben, und mit dem Blasrohr orange, gelbe und blaue Glastropfen formten. Mit einem freundlichen Salam und vielen Gesten wurden wir aufgefordert, näher zu kommen. Schweißgebadet übten die Männer ihre Kunst aus. Ein altersschwacher Ventilator stand zwar dekorativ im Bild, sorgte aber keineswegs für Kühlung. Wackelige Holzregale lehnten an den Wänden, vollgestopft mit vielerlei Glaswaren, die so staubig waren, dass es schwerfiel, die Farben zu erkennen. Der Jüngling aus Paulo Coelhos Roman „Der Alchimist“ fiel mir ein, der in einem Kristallwarengeschäft für Ordnung sorgt und die Objekte zum Strahlen bringt. Heimlich wurde ich mit kleinen Glasperlen und Ringen beschenkt. Wir verstanden uns ohne Worte und ein paar Pfund wanderten von einer Hosentasche in die andere. Richtig kaufen konnten wir in einem Geschäft in der Nähe, wo wir einen italienischen Geschäftsmann trafen. Wir kamen ins Gespräch und er erzählte, dass er in Murano auch ägyptische Glaswaren, das sogenannte Muskiglas, verkauft.

Dies ist nun das Viertel, das wir einige Jahre später auf eigene Faust nochmals erkunden wollen. So gehen wir die neuerdings verkehrsberuhigte Mu‘izz li-Din-Allah-Straße nach Norden zur Stadtmauer und zu den alten Befestigungstürmen, ohne uns vorerst auf die zahlreichen Prachtbauten einzulassen. Wir schaffen es, die al-Bahnawi-Straße zu überqueren, was nicht zu den einfachsten Dingen eines Reisenden in Kairo gehört. Viele bunte Transparente, die nach Wahlwerbung aussehen, überspannen die al-Hosnaiya-Straße, die die Verlängerung der Mu‘izz bildet. Ein Gemüsemarkt erregt wie immer meine Aufmerksamkeit. Zu beobachten, wie ein in Weiß gekleideter Händler seine Tomaten liebkost, ist berührend. Es sieht beinahe so aus, als ob er mit ihnen sprechen würde. Daneben preist ein Mann erfolgreich Mandarinen und Äpfel an. Das Wechselgeld hat er in einem kleinen Stoffsäckchen, die Waage befindet sich auf dem zweirädrigen Karren, dem ein Esel vorgespannt ist, der geduldig dasteht und wartet. Weiter die Gasse hinein, reihen sich von Sonnenschirmen behütet, Körbe und Kisten aus Palmholz aneinander, gefüllt mit Gemüse und Obst. Die Händlerin ruft einem Kunden lachend etwas hinterher. Eine Frau gustiert noch, ob sie die prächtigen Artischocken nehmen soll oder doch lieber die Auberginen, während eine junge Dame in schwarzen Jeans vorbeihuscht. Alle drei tragen den hijab, das Kopftuch.

Weit und breit ist nichts von der Glasbläserei zu sehen, daher tritt Plan B, die Fotobefragung, in Kraft. Es dauert nicht lange, bis ein junger Mann „mafish“ sagt, das im ägyptischen Dialekt, der sich nicht der arabischen Hochsprache fügt, mit „gibt es nicht“ zu übersetzen ist. Damit gebe ich mich nicht zufrieden und deute auf die am Foto zu sehenden Glaswaren. Ein „fi“ kommt als Antwort zurück, „es gibt“, und schon folgen wir dem freundlichen Ägypter. Ich erkenne die blutigen Handabdrücke auf den Mauern und weiß, das ist der richtige Weg. Als dann noch die meckernden Ziegen zu hören sind, werden meine Schritte schneller. Tatsächlich taucht das sehr schmale dreistöckige Haus von Hagg Hassan Arabesque am Ende der Gasse auf. Ein Drechsler und ein Trommelbauer, die ihre kleinen Werkstätten an der Straße haben, unterbrechen meinen zielstrebigen Marsch. Der Meister steht barfuß inmitten von Hobelspänen vor seiner Maschine. Er lächelt, weil wir uns für seine Arbeit interessieren. Ahmed fertigt die Untergestelle für kleine, zusammenklappbare Tischchen. Als ich etwas kaufen möchte, sieht er mich ungläubig an. Doch die zwanzig Pfund, die ich ihm gebe, überzeugen ihn. Gegenüber produziert ein junger Mann Rahmen für Trommeln, die er im Eingangsbereich zu Türmen stapelt. Seine Werkstatt ist in einem hellen Grün ausgemalt, die Wände zieren Bilder von Mekka und Predigern.

Hagg Hassan Arabesque steht im Hauseingang und kommt uns eiligen Schrittes entgegen, um uns zu begrüßen. Ich zeige ihm die Fotos, die ich einige Jahre zuvor gemacht hatte und frage ihn nach der Glasbläserei. Ein fröhliches Lachen schüttelt ihn und er deutet auf einen der Männer auf den Fotos: „Das ist mein Sohn, das ist mein Sohn, verkündet er laut.“ Das „mafish“, das wir schon hörten, bewahrheitet sich leider. Die Glasbläserei gibt es nicht mehr in diesem Viertel. „Die ist jetzt in der nördlichen Totenstadt zu finden“, erklärt Hagg Hassan.

Die Erkundung seines „Glashauses“ erweist sich als Abenteuer. Es ist schier unmöglich, eine Beschreibung des Geschäftslokals zu versuchen, da buchstäblich alles vom Boden bis zur Decke vollgeräumt ist. Schon allein das Betrachten erzeugt in mir die Angst, etwas zu zerstören. Ich mache mich daher an das Erkunden der Stockwerke, wozu mich der Hausherr auffordert. Eine schmale, dunkle Wendeltreppe führt in den ersten Stock. Auch diese Wände sind mit Glasketten und Objekten dekoriert, selbst in die Stufen wurden bunte Glasscheibchen eingemauert. Ein Raum, vielleicht drei mal drei Meter, ist das familiäre Schlafzimmer. Etwas weiter oben strömt mir Zwiebelgeruch entgegen. Hier befindet sich die Küche und ich darf der Hausherrin beim Kochen über die Schulter schauen. Nach ein paar weiteren Windungen verlasse ich den dunklen Treppenschacht und stehe auf der Terrasse. Schon allein wegen der wunderschönen Glaskugeln und Objekte, die dieses Plätzchen so dekorativ zieren, würde es sich lohnen, nach Kairo zu fliegen. Erst auf den zweiten Blick entdecke ich, dass der hölzerne Friedhof hinter dem Haus von Hagg Hassan Arabesque beginnt und sich südöstlich davon ein schier endloses Panorama an Grabhäusern erstreckt.

Glasprodukte sind zwischen den Gräbern ausgestellt © L. Strizik/ A. Marowetz

Schnell laufe ich die Wendeltreppe hinunter, vorsichtig den schmalen Pfad zwischen Glas und noch mehr Glas durchs Geschäft nehmend und beim Hintereingang hinaus, um mich zwischen Grabsteinen und hölzernen Häuschen wiederzufinden. Dekorativ angeordnet, hängen grüne, blaue, weiße und goldgelbe Glasobjekte an einer Holzwand. Über eine Bastmatte rankt sich zartes Grün aus einem Blumentopf, der auf einem der Grabsteine steht. Regale, vollgestellt mit Glaswaren, zieren die Rückwand des Hauses von Hagg Hassan. An einem Stromkabel hängen verrostete Lampen und Glühbirnen. Übereinander gestapelte Gemüsekisten aus Palmholz und ein alter Kühlschrank dienen als Zwischenlager für die „Camouflage-Objekte“, die sich mit dem Staub der Wüste tarnen. Am eindrucksvollsten sind jedoch die Grabsteine, teilweise aus Ziegeln gemauert, teilweise schon verputzt und grün bemalt, auf denen Vasen, Krüge und Becher stehen. Verkaufsstände auf dem Friedhof? Es ist tatsächlich so, denn sobald ich mir etwas näher ansehe, kommt die Familie gelaufen, nimmt mir das Objekt aus der Hand, um es zu waschen und mir wieder mit einem Lächeln zu überreichen. Jeder kleine Fehler wird gesehen und das Stück sofort ausgetauscht. Nur schöne Objekte sollen den „Friedhofsladen“ verlassen.

Hagg Hassan Arabesque mit Familie © L. Strizik/ A. Marowetz

Die Zeit unseres Besuchs bei Hagg Hassan Arabesque geht zu Ende. Schnell kramt er noch einen großen, prächtig gerahmten Zeitungsartikel heraus, der einen Glasbläser zeigt. Voll Stolz hält er das Dokument der Vergangenheit vor seine Brust und bittet mich, Fotos zu machen, auch eines mit „Madame“, wie er seine Frau liebevoll nennt und den Enkelkindern. Der Abschied ist herzlich, so als ob wir alte Freunde wären. Als wir bepackt mit unseren Einkäufen schon die Gasse zum Markt hinuntergehen, hören wir Hagg Hassans Frau rufen. Sie umarmt und küsst mich wie eine Verwandte, so viel Herzlichkeit geht zu Herzen. Ich gehe rasch weiter, drehe mich nochmals um und winke zurück.

Der Text ist ein Auszug aus „Das Wunder Kairo. Geschichten aus der Mutter aller Städte" von Leone Strizik. Erschienen bei BoD – Books on Demand, Norderstedt 2018