Es ist wie eine Parallelwelt, die sich auf den Dächern Kairos abspielt. Man nimmt sie erst wahr, wenn man sich nicht scheut, „höhere Positionen“ zu beziehen und Minarette zu erklimmen. Die Besiedlung der Flachdächer in Ägypten, und im Speziellen in Kairo, entwickelte sich aufgrund bestimmter Gegebenheiten.

Gut situierte Familien erlaubten ihren Bediensteten aufs Dach zu ziehen und sich dort kleine Hütten zu errichten. Deren Verwandte aus den Dörfern kamen nach, um ebenfalls ihr Glück in der Großstadt zu suchen und die einfachen Hütten wurden erweitert. Das ist Familienzusammenführung auf ägyptisch, die auf die eine oder andere Weise immer funktioniert. Als Schüler gefragt wurden, welchen Unterschied sie zwischen den Europäern und den Ägyptern sehen, kam eindeutig die Bedeutung der Familie heraus. Sie schätzen zwar den Fortschritt Europas, sind jedoch der Meinung, dass im Gegensatz zu Ägypten, die Familie in Europa eine geringere Bedeutung hat.

Blick über die Dächer Kairos © L. Strizik/ A. Marowetz

Der Blick über Kairo, auf die unzähligen Minarette, historischen Gebäude, gesichtslosen Wohnbauten und Dachlandschaften fasziniert mich. Wenn ich den Panoramablick zurücknehme, der sich unwillkürlich als Erstes aufdrängt und stattdessen auf kleinere Abschnitte fokussiere, treten viele interessante Details in den Vordergrund. Manche Flachdächer wirken wie Requisitendepots für Film- und Theaterproduktionen oder Sammelstellen für Sperrmüll. Jeden Moment erwarte ich den Auftritt der Hauptdarsteller, aber nur die Kinder sind im Einsatz. Sie toben herum, spielen Verstecken, fahren Rad oder ziehen gerade eine Ziege aus dem Dachstall heraus. Nach dem Wunsch der Eltern sollen sie auf den Dächern (fast) so aufwachsen wie auf dem Land. Neben den Menschen genießen auch Ziegen, Schafe, Katzen und Hühner die Höhenluft. Ein Hahn stolziert mit seiner Sippe herum und kräht lauthals sein kikeriki. Erst vor kurzem habe ich Ibrahim ein Foto von den verschneiten Dachlandschaften meiner Heimatstadt geschickt, das er folgendermaßen kommentierte: „Das ist ein sehr schöner Platz, wo du lebst, alles ist so sauber und es leben keine Tiere auf den Dächern. Es sieht ganz anders aus als in Ägypten. Auf dem Dach meiner Mutter leben sogar vier Ziegen.“

Ziegen werden auf Dächern gehalten © L. Strizik/ A. Marowetz

Mehrere Häuser scheinen unbewohnt zu sein, die kaputten Fensterscheiben und zerfallenen Mauern werfen je nach Sonnenstand fratzenhafte Gesichter auf die Fassaden. Schutt türmt sich auf, niemand räumt ihn weg, obwohl daneben ein Neubau nach oben strebt. Teilweise stammen die Schäden noch vom schweren Erdbeben, das 1992 die Region heimsuchte. Das Rattern einer Nähmaschine und fröhliches Lachen dringt an meine Ohren. Frauen haben sich eine kleine Dachwerkstatt eingerichtet, wo sie für ein paar Piaster  Pantoffeln nähen und besticken, die im Bazar um ein Vielfaches des Preises verkauft werden. Mehrere kurios aussehende Holzgestelle auf wackeligen Beinen ragen noch weiter empor. Welches Theaterstück da wohl wieder inszeniert wird, frage ich mich. „Es ist ein Taubenhaus, wir Ägypter essen leidenschaftlich gerne gefüllte Täubchen“, erklärt Ahmed Ali, den wir „monsieur le professeur“ nennen. Ich lernte den Französisch-Professor bei einer der ersten Reisen kennen.

Minarette zu ersteigen sind spannende Unternehmungen. Sie bieten einen Rundumblick und immer wieder neue Bereiche des „Dachtheaters“. Da ist zum Beispiel ein Mann, der ein Schaf mit Klee füttert, dessen Grün sich wie ein Farbklecks von der sandfarbenen Bühne abhebt. Es könnte für das Wochenfest gemästet und danach geschlachtet werden. Nach der Tradition wird eine Woche nach der Geburt eines Kindes ein Fest gefeiert, da an diesem Tag die Engel zugegen sein sollen. Spielwaren werden eingekauft, um die Kinder später an den Festtag zu erinnern. Die Aufgabe des Vaters ist es, sich um das Essen zu kümmern. Wird die Geburt eines Mädchens gefeiert, kauft er ein Schaf, ist es ein Junge, müssen zwei Schafe ihr Leben lassen. Obwohl schon lange gesetzlich verboten, werden in Kairo noch immer Tiere hinter Verschlägen gehalten. Manchmal transportiert der Verkäufer das Schaf gleich zur Wohnung des Käufers, wo er auf dem Dach des Hauses die Schlachtung vornimmt. Die Eltern des Kindes tauchen ihre Hände rituell in das frische Blut des „Opfertieres“ und bedrucken damit die Mauern zum Schutz gegen den bösen Blick.

Wie Requisiten wirken die alten Möbel mit Hühnern © L. Strizik/ A. Marowetz

Als wir vom Gemüsemarkt beim Ghuria-Komplex kommen, südlich der ehemaligen Al-Azhar Fußgängerbrücke, spricht mich ein Mann an: „Entschuldigung, sprechen Sie Deutsch? Sind Sie vielleicht aus Österreich?“ Ich bejahe, worauf er antwortet: „Ich war einige Zeit in Wien und habe dort als Arabisch-Lehrer gearbeitet. Ich bin zwar schon auf dem Weg zur Universität, aber ich kann Sie zu den Färbern und auf ein interessantes Dach bringen, wenn Sie das wollen.“ Da ich solche Angebote gerne annehme, lande ich mit meinen Freunden auch prompt auf besagtem Dach (von den Färbern wird später noch berichtet). Auf den ersten Blick wirkt es auf mich wie die Installation eines Künstlers, der sich mit Alltagsgegenständen und deren Verfall beschäftigt. Einerseits dient das Dach als Müllhalde, andererseits präsentiert es äußerst kreative Ansätze beim Hüttenbau. Als Erstes treffen wir auf ein Schaf, vier Ziegen und einen Hund, die im Müll nach Fressbarem suchen. Gerümpel, alte Schuhe, Plastikrohre, Blechdosen, Kübel, Möbelstücke, Lattenroste, Matratzen, Autoreifen, Kleidungsstücke, Papier und Schutt bedecken sicher ein Drittel des Daches. Eine Wäscheleine überspannt die Szenerie, zahlreiche Stromkabel liegen herum. Ein kleines dunkeläugiges Mädchen ohne Schuhe und ihr Vater kommen freundlich auf uns zu, sie wohnen hier. Mit neugierigen Augen, aber sehr zurückhaltend, läuft eine stille Kommunikation zwischen uns. Zu sehen, wie die überreichten Hefte, Stifte und ein Spiegel so viel Freude bereiten können, berührt mich sehr.

Eine der Hütten bildet den Zubau zu einer gemauerten Dachkammer. Die Wände wurden mit Kartonagen, Pressspanplatten und Stoffen gestaltet. Arabische Schriftzeichen, in Blau und Rot auf den Karton gemalt, verschönern die Vorderseite der Hütte. Vier Satellitenschüsseln bilden gemeinsam mit der Muhammad Ali Moschee, die von hier gut zu sehen ist, den Hintergrund. Zwei leuchtende Glühbirnen an der Außenseite beziehen den Strom von einer unsichtbaren Quelle und erhellen den Tag zusätzlich. Mehrere Bündel Klee liegen als Viehfutter auf dem Hüttendach. Eine große Gasflasche, Kisten mit Blechgeschirr und ein Ölfass mit zwei Teegläsern obenauf, runden das Bild ab. Ich wage mich an die Brüstung, um einen Blick auf die untere Etage zu erhaschen, auf die Schätze, die sich da verbergen mögen. Ein ummauerter Bereich ist mit Schusterleisten in allen Größen angefüllt, vereinzelt liegen auch Schuhe herum. Auf der anderen Seite des Daches muss ich noch tiefer blicken. In der Höhe des ersten Stockes sind Arbeiter dabei, ein altes Hammam zu renovieren. Es sieht besorgniserregend aus, wie sie, von Löchern und Schächten umgeben, hämmern, stemmen und Mauern abklopfen. Sie lachen und winken mir zu. Deutlich kann man die durchlöcherten, aus Ziegeln gemauerten Kuppeln erkennen, die verschieden groß sind und teilweise in Arkaden hineinreichen. Zwischen all dem Bauschutt, Kabeln, Eisenstangen und Staub, liegen auf einer Plane verstreut an die zwanzig Fladenbrote, die Jause der Handwerker, als Stillleben. Die Brote werden oft absichtlich getrocknet, sie halten dann länger und werden später in die beliebte Molokiya-Suppe getunkt.

Von der Terrasse bietet sich ein interessanter Blick auf die Wohnwelten der Dächer © L. Strizik/ A. Marowetz

An die 100.000 Menschen bevölkern derzeit die luftigen Höhen Kairos. Sie sind glücklich mit ihrem Zuhause, wenn alles so bleibt, wie es ist und sie von den Behörden nicht delogiert werden, da es natürlich keine Mietverträge gibt. Obwohl ihnen im Sommer die Hitze und im Winter der (seltene) Regen zu schaffen machen, möchten sie nicht weg von den Dächern. Sie lieben ihre luftigen Domizile, die Wohnungen in den Straßenschluchten sind ihnen zu dunkel, „die sind wie Gräber“, sagen sie. Dass man in Gräbern auch ganz passabel wohnen kann, zeigen die mittelalterlichen Totenstädte.

Der Text ist ein Auszug aus „Das Wunder Kairo. Geschichten aus der Mutter aller Städte" von Leone Strizik. Erschienen bei BoD – Books on Demand, Norderstedt 2018