Kurz vor dem Aussterben ihrer Glaubensgemeinschaft möchte Magda Haroun die Zukunft des jüdischen Kulturerbes in Ägypten sichern.

Vor 2500 Jahren begann die wechselvolle Geschichte des Judentums in Ägypten. In wenigen Jahren geht sie zu Ende. Dann wird keine einzige Jüdin, kein einziger Jude mehr in Ägypten leben. Der Countdown läuft: Ihre Zahl ist noch knapp an zwei Händen abzuzählen, die Verbliebenen sind alt und gebrechlich. 

Die letzte Jüdin, „die noch auf zwei Beinen gehen kann“, ist die Mittsechzigerin Magda Haroun, wie sie es selbst formuliert. Sie ist zugleich die letzte Präsidentin der jüdischen Gemeinde Kairos. Als sie dieses Amt 2013 nach dem Tod ihrer Vorgängerin übernommen habe, sei sie sehr traurig gewesen: „So muss sich der letzte Dinosaurier gefühlt haben, kurz vor dem Aussterben seiner Art.“ Sie lacht kurz und heiser auf. Magda Haroun formuliert es lustig, aber der Witz kann die Traurigkeit, die sie bei diesem Thema überkommt, nicht verbergen.

Einst eine florierende Gemeinde

Die jüdische Gemeinde Ägyptens schrieb von ihrem Beginn an Geschichte. Juden aus Alexandria übersetzten im dritten Jahrhundert vor Christus zum ersten Mal die Bibel vom Hebräischen ins Griechische. Moses Maimonides, einer der grössten Philosophen, schrieb seine wichtigsten Werke in Kairo. Damals im Mittelalter lebten und arbeiteten Juden einige Jahrhunderte mit Muslimen und Christen friedlich zusammen. Davon erzählen die 300 000 Manuskripte der Kairo Geniza, die 1864 in einem Hinterzimmer der Ben Ezra Synagoge entdeckt wurde - einer der wichtigsten sozial-historischen Quellen weltweit.

Ihre Blütezeit erlebten die ägyptischen Juden kurz vor ihrem Niedergang. Ihre Zahl verzehnfachte sich von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts: Mindestens 80 000 wohnten zuletzt vor allem in Kairo und Alexandria. Viele waren aus Spanien vor der Inquisition, aus Osteuropa vor Progromen und schliesslich aus dem nationalsozialistischen Deutschland hierher geflüchtet. Ägypten war damals offener und toleranter als grosse Teile Europas; Minderheiten waren hier sicher. Der damalige Regent, Ismail Pascha, hatte Juden - ebenso wie weitere Ausländer - gar ausdrücklich in sein Land eingeladen. Er bot Nichtägyptern eine eigene Rechtsprechung, günstigen Landkauf und weitere Privilegien. Sein Ziel war, aus Kairo ein orientalisches Paris zu machen, aus Ägypten ein modernes Land. Die Eröffnung des Suezkanals von 1869 lockte weitere Tausende, im wirtschaftlich erstarkenden Land ihr Glück zu finden.  

Juden lancierten Kairos ersten öffentlichen Transport, bauten Eisenbahnlinien, gründeten Banken, führten die bekanntesten Kaufhäuser, eröffneten mehr als zehn Kinos und hatten zeitweise das Monopol über die Filmbranche. Ägyptens erster Theaterautor Yacoub Sanoua wurde vom König „der Molière Ägyptens“ genannt, die Sängerin Leila Mourad kam dem Ruhm Umm Kulthums noch am nächsten. Juden waren angesehene Geschäftsmänner, Ärzte und Anwälte, waren im Parlament und der Regierung vertreten. Viele fühlten sich in erster Linie als Ägypter, in zweiter als Juden.

Die Synagogen verwaisen

Mitte des 20. Jahrhunderts begann das Land die Hergerufenen zu vertreiben. Die Vorzeichen setzten 1928 ein, als die Partei der Muslimbrüder gegründet wurde; in den 30er Jahren verübten ihre Mitglieder Bombenanschläge auf jüdische Geschäfte und Quartiere. 1952 wurden die Monarchen und die Briten endgültig vertrieben. 1954 ergriff Gamal Abdel Nasser die Macht und machte mit nationalistischen Überzeugungen Politik. Das Privileg, Ausländer zu sein, geriet nun zum Nachteil. Jude zu sein erst recht. In drei Wellen verliessen Juden das Land Richtung Israel, Frankreich und den USA: 1948 mit der Staatsgründung Israels und dem ersten arabisch-israelischen Krieg; 1956 mit der Suezkrise, und schliesslich 1967 nach dem Sechstagekrieg. Antisemitische Ressentiments wuchsen. Juden standen unter Generalverdacht, israelische Spione zu sein. Es drohte ihnen Inhaftierung, Ausweisung und Aberkennung der ägyptischen Nationalität. Wer ging, ging für immer. Jüdische Pässe wurden mit dem Vermerk gestempelt: „Ausreise ohne Wiederkehr“.

Unter den wenigen, die blieben, war Magda Harouns verstorbener Vater Shehata Haroun, ein Anwalt, ein Patriot, ein Kommunist - und ein sturer Kopf. Sein Heimatland konnte ihn noch so sehr abzuschütteln versuchen, er sass jeden Exodus aus. Manchmal im Gefängnis, wohin er abwechselnd als Jude oder als Kommunist weggesperrt wurde. „Aber nie länger als drei, vier Monate“, sagt seine Tochter Magda Haroun. In ihrem Anwaltsbüro in Downtown Kairo hängen Fotos ihres Vaters. Sie hat die Kanzlei ebenso von ihm übernommen wie den starken Willen und die antizionistische Haltung. Sie wolle die jüdische Religion und Kultur strikt von der israelischen Nationalität unterschieden wissen, betont sie: „Ich bin Jüdin, nicht Israelin. Ich war nie in Israel, und so, wie es ausschaut, werde ich nicht so bald dahin gehen.“ Wieder ihr kehliges Lachen.

Magda Haroun © Susanna Petrin

80 Synagogen standen einst in Kairo, 12 davon sind geblieben. „Wichtige Beweise dafür, was Ägypten einmal war“, sagt Magda Haroun, „ein multikulturelles Land, in dem alle Religionen koexistierten.“ Sie verkörpert diese Haltung auch privat: Magda Haroun war in erster Ehe mit einem Muslim verheiratet und hat mit ihm zwei Töchter - sie sind gemäss ägyptischem Gesetz Musliminnen. In zweiter Ehe lebt sie nun mit einem Christen. Und nun möchte Magda Haroun alles daran setzen, das jüdische Erbe in die Zukunft zu retten: Mit Hilfe von Christen und Muslimen.

Gotteshäuser für neue Zwecke

Magda Haroun wünscht sich, dass die jüdische Schule künftig ägyptische Ingenieure ausbildet. Dass Bücher aus mehreren Beständen in einer Bibliothek zusammenkommen. Und vor allem will sie, dass die verbliebenen Synagogen Kairos als Kulturorte für junge Muslime weiterfungieren: „Früher nährten die Synagogen die Seelen“, sagt sie, „nun möchte ich, dass sie den Geist bereichern.“ Künftig sollen in ihnen Konzerte, Lesungen, Ausstellungen oder Diskussionen stattfinden. „So werden wir nicht vergessen und tun gleichzeitig etwas für unser Land“, betont Magda Haroun. Denn stünden die Synagogen leer, stürben sie.

Für diese kulturelle Zwecke hat sie eine NGO namens Milchtropfen neu ausgerichtet. Diese Organisation, die einst jüdische Waisenkinder am Leben erhielt, belebt jetzt jüdische Häuser. Ägypterinnen und Ägypter stehen ihr ehrenamtlich vor. Sie sind sehr aktiv: erste Veranstaltungen in der zentralen Synagoge „Tore zum Himmel“ finden schon diesen Sommer statt. Das jüdische Kulturgut sei ein wichtiger Teil ihres Landes, sagt ein Vorstandsmitglied, eine junge Muslimin.

Die Regierung wirkt mit

Auch das Antikenministerium betont, das jüdische Erbe sei genauso Teil der Landesgeschichte wie das pharaonische, islamische und christliche. Die Bauten sollen deshalb vom Staat bewahrt werden. Das sind nicht nur Worte. 100 Millionen ägyptische Pfund, das sind rund fünfeinhalb Millionen Franken, investiert die Regierung nach eigenen Angaben in die Renovation der Hauptsynagoge in Alexandria. Es ist eine der grössten im Nahen Osten. Drei Synagogen in Kairo wurden bereits in den letzten Jahren restauriert. Doch viele weitere wertvolle Gebäude sind baufällig, und der jüdische Friedhof Bassateen müsste dringend besser geschützt werden: er ist älter als die Stadt Kairo, der zweitälteste jüdische Friedhof der Welt - gleich nach dem Friedhof auf Jerusalems Ölberg.

Lauter Imamgesang von nebenan durchdringt Magda Harouns Büro. Es ist Mittag. „Allah ist gross“, ruft der Imam. Glaubt Magda, das jüdische Erbe werde in Ägypten weiterleben, auch ohne Juden? Sie lacht und zieht an ihrer elektronischen Zigarette: „Leben hier noch Pharaonen?“