Ägyptische Literatur vom Feinsten steht dieses Mal im Focus. Mehrere Anthologien mit Ausschnitten aus berühmten Romanen und Erzählungen geben einen ersten, sehr intensiven Einblick in die zeitgenössische Literaturszene Ägyptens und des arabischsprachigen Raums und regen zum weiteren Lesen an.

Zwei gesellschaftskritische Zukunftsromane inszenieren eine bizarr-brutale Utopie für Ägypten und verstörende Perspektiven für die französische Gesellschaft unter orthodox-islamischer Einflussnahme.

In Humaidans Roman suchen drei Frauen nach dem Paradies in einer durch Gewalt geprägten Zeit, und letztendlich desillusioniert uns Ole Steinhauer mit seinem Spionagethriller „Die Kairo Affäre“.

Für Freunde von Sachbüchern empfiehlt unser Gastautor Dr. Freund eine Kurzabhandlung zum Syrienkonflikt.

Willkommen in Kairo

Geschichten aus Ägypten

Ghada Abdelaal, Ibrahim Aslan, Alaa al-Aswani, Salwa Bakr, Chalid al-Chamissi, Gamal al-Ghitani, Sonallah Ibrahim, Jussuf Idris, Sabri Mussa und Tajjib Salich sind zehn der besten zeitgenössischen ägyptischen Autorinnen und Autoren. Aus ihren aktuellen Bestsellern vereinen sich 17 sorgfältig ausgewählte und übersetzte Ausschnitte in dieser Anthologie. Sie erlaubt den Lesern einen authentischen und faszinierenden Einblick sowohl in die Gesellschaft und als auch in die Literatur Ägyptens.

Die empfehlenswerte Sammlung stellt authentisch und brillant erzählt die brennenden Themen des krisengeprägten Ägyptens dar, vermittelt berührend, verblüffend, verstörend und mitreißend neben dem Lebenskampf auch die Lebenskunst der Menschen in dieser besonderen Kultur am Nil. Die ausgewählten Ausschnitte wecken Appetit auf mehr, der auch gestillt werden kann, weil die Werke, aus denen die Texte entnommen sind, bereits in deutscher Übersetzung vorliegen.

Aus dem Arabischen von Evelyn Agbaria, Kristina Bergmann, Leila Chammaa, Hartmut Fähndrich, Regina Karachouli und Doris Kilias

Ghada Abdelaal u.a.: Willkommen in Kairo. Lenos-Verlag. Basel 2014.186 Seiten. 12 Euro

 

Ich will heiraten

Partnersuche auf Ägyptisch

Eine junge ägyptische Frau aus der Mittelschicht, mit Doktortitel in Pharmazie und berufstätig, ist mit Ende Zwanzig noch unverheiratet. In der heutigen ägyptischen Gesellschaft nicht mehr unüblich, aber dennoch ein Manko, denn immer noch gilt die Ehe und Familie als wichtigstes Lebensziel der Frauen in Ägypten.

Die Autorin schildert satirisch die Suche einer Frau nach einem ordentlichen Ehemann und Vater ihrer Kinder. In ihrer überspitzten Komik tritt deutlich ihre tragische Lage hervor, wenn sich Frau mit fast Dreißig dem Verfallsdatum auf dem Heiratsmarkt nähert und die arrangierte Partnersuche, die sogenannte Salonheirat, den üblichen Weg darstellt.

Das Buch enthält eine Sammlung von Beiträgen aus dem Blog www.wanna-b-a-bride.blogspot.com, der sich in Ägypten großer Beliebtheit erfreut. Der Publikumszuspruch zeigt, dass Ghada Abdelaal mit ihren mutigen und provokativen Darstellungen der Situation für Frauen und Familien den Nerv der Zeit getroffen hat.

Für Außenstehende ist der ägyptische Humor nicht immer leicht verständlich und verdaulich, mit dem ausführlichen Register lassen sich die ironischen Anspielungen jedoch gut nachvollziehen. Ein lohnenswerter Ausflug in das mittelständische ägyptische Seelenleben.

Ghada Abdelaal: Ich will heiraten! Partnersuche auf Ägyptisch. Lenos-Verlag. Basel 2010. 218 Seiten. 14,50 €,

Im Taxi

Unterwegs in Kairo

58 Taxifahrten, auf denen der Erzähler mit 58 verschiedenen Taxifahrern zusammentrifft, die ihm während der Fahrten ihre Geschichten, arabisch Hawadith, erzählen. Dabei kommen ganz unterschiedliche Themen zur Sprache, z.B. die politische Lage, die Plagen des täglichen Lebens, unglaubliche Erlebnisse der Taxifahrer mit ihren Gästen, neben tatsächlichem Geschehen, jedoch auch Gerüchte, Verschwörungstheorien, Glauben und Aberglauben.

Der Erzähler tritt zwar immer als Fahrgast auf; meist jedoch zurückhaltend und selten kommentierend überlässt er den Taxifahrern die Bühne und dem Leser ein eigenes Urteil. Auf diese Weise gelingt ihm ein Einblick in die Seele des Mannes auf der Straße, die Vielfalt der Charaktere und Schicksale, aber auch viele typische Gemeinsamkeiten, z.B. eine tief im Alltag verwurzelte Gläubigkeit, Geduld und Leidensfähigkeit.

Die 2007 erschienene Sammlung ist auch nach den tiefgreifenden gesellschaftlichen Erschütterungen durch den arabischen Frühling aktuell. Die Widmung des Autors braucht das heutige Ägypten mehr denn je: „Ich widme dieses Buch dem Leben, das den Worten der einfachen Menschen innewohnt; möge es die Leere vertreiben, die uns seit langer Zeit befallen hat.“

Chalid al-Chamissi: Im Taxi – Unterwegs in Kairo. Lenos-Verlag. Basel 2011. 205 Seiten. 14,50 Euro.

Ein Paradies aus Nichts

Geschichten vom Leben in der Wüste

Das Leben in oder am Rande der Wüste - aus der Perspektive ganz verschiedener Menschen. In unterschiedlichen Kontexten wird ihr Paradies oder ihre Suche danach beschrieben: Im Höllenfeuer der Wüste ist man auch dem Paradies nahe.

Dies zeigen faszinierende Geschichten von Beduinen und armen Dorfbewohnern, ihren Mythen und Geistern, ihren täglichen Herausforderungen in einer lebensfeindlichen Umgebung und durch gesellschaftliche Veränderungen, von Festen und Feiern, von Einsiedlern, Künstlern und Poeten, Schatzgräbern, Bergarbeitern, Schleusern und Flüchtlingen bis hin zu Gotteskriegern, die in der Wüste konspirativen Schutz suchen.

Eine sehr poetische Sammlung von literarischen Kleinoden aus dem arabischsprachigen Raum von Jordanien über den Sudan. Diese Ausschnitte bieten einen empfehlenswerten Einstieg in „Perlen arabischer Literatur“ (Klappentext), die alle in hervorragender Übersetzung vorliegen.

Ibrahim al Koni, Dschabra Ibrahim Dschabra, Baha Taher, Edwar al-Charrat, Alaa al-Aswani, Tajib Salich, Hassa Nasr, Sabri Mussa, Muhammad Mustagab, Asmi Bischara, Ghassan Kanafani, Abdelrachman Munif, Ibrahim al-Koni: Ein Paradies aus Nichts - Geschichten vom Leben in der Wüste. Lenos-Verlag. Basel 2015. 256 Seiten. 14,90 Euro.

Fünfzig Gramm Paradies

1994 kehrt die Journalistin Maja nach zehn Jahren aus Paris in ihre Heimat, das vom Bürgerkrieg verheerte Beirut, zurück. Hier entdeckt sie bei einer Recherche einen Koffer voller alter Dokumente, die sie auf die Spur von Nura führen. Die syrische Journalistin floh in den 70er Jahren auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben und Freiheit nach Beirut. Hier bricht jedoch bald der Krieg aus und Nura wird vom syrischen Geheimdienst ermordet.

Ihre Freundin Sabah ist die dritte Protagonistin. Sie ist Kurdin und revoltierte bereits früh gegen die Fesseln gesellschaftlicher Konventionen, indem sie mit ihrem Liebhaber ausriss. Zur Wahrung der Familienehre wird sie später in die im Libanon lebende Verwandtschaft verheiratet, wo sie den Krieg überlebt. Hier schließt sich der Kreis, als sie später die Journalistin Maja kennen lernt.

Neben den drei Frauen sind auch drei Städte der Region im Roman involviert: Beirut, Istanbul und Damaskus. Aus den teilweise zerstörten Aufzeichnungen in Nuras Hinterlassenschaft und den wieder einsetzenden Erinnerungen von Sabah und Maja setzt die Erzählerin mühsam ein bedrückendes Puzzle zusammen, in dem sich die Zeitgeschichte einer Region und deren Bewohner bruchstückhaft zusammensetzt. Deutlich werden dabei Brüche, Verstrickungen und die Erkenntnis, dass alles zusammenhängt: Sowohl im Krieg als auch im Frieden bestimmen Gewalt und Tod das Leben der Menschen, insbesondere von religiösen Minderheiten und von Frauen. Das Paradies ist relativ und flüchtig, kann durch unpassende Verhaltensweise oder Religion verwehrt werden. Am konkretesten scheint es auf dem Khan-el-Khalili grammweise als Parfüm erhältlich zu sein. Am Ende des Romans bleibt ein vager Hoffnungsschimmer auch auf eine ideelle Existenz des Paradieses.

Iman Humaidan: Fünfzig Gramm Paradies. Lenos-Verlag. Basel 2017. 267 Seiten. 22,00 Euro.

Utopia

Roman aus Ägypten

Irgendwann im 21. Jahrhundert in Ägypten:  Nach dem Kollaps der ägyptischen Wirtschaft und der Auflösung der Mittelschicht hat sich die Gesellschaft in zwei Völker gespalten. In einem hermetisch abgeschirmten und von amerikanischen Marines bewachten Compound an der Mittelmeerküste namens Utopia leben die superreichen Moslems, Christen und Juden der Region in Eintracht zusammen, während in Kairo und anderen Städten völlig heruntergekommene Existenzen einen von Bandenwesen und Gewalt geprägten rücksichtslosen Kampf ums Überleben gegeneinander austragen. 

Der einzige Kontakt besteht durch Dienstboten und Arbeiter, die unter strenger Kontrolle der Amerikaner jeden Tag aus ihren Behausungen in den Compound transportiert werden. Diese Transporte nutzen die jungen Männern der dekadenten und an Langeweile und Überdruss leidenden Utopiagesellschaft als Weg aus dem Compound heraus zu den verbotenen Vierteln der Anderen. Denn die Jagd auf die Anderen, mit dem Ziel einen von ihnen zur Strecke zu bringen und ein Souvenir als Jagdtrophäe mitzubringen, dient als Initiationsritus  und letzter ultimativer Kick in einem ausschweifenden Leben, das keine Wünsche offen lässt.

Ahmed Towfik erzählt mit meisterhaftem Sarkasmus schwierige Kost. In einer pessimistischen Perspektive übt er Kritik an der heutigen Gesellschaft und schildert den utopischen Albtraum von unmenschlicher Gewalt à la „Clockwork Orange" auf Ägyptisch. Der Thriller ist ein faszinierendes Glanzstück der ägyptischen Literatur, in der Verquickung von ägyptischer Realität und grausiger Utopie zutiefst verstörend, nicht einfach und nur mit Besinnungspausen zu lesen.

Ahmed Khaled Towfik: Utopia-Roman aus Ägypten. Lenos-Verlag. Basel 2015. 188 Seiten. 14,50 Euro.

Die Kairo-Affäre

In Budapest wird ein amerikanischer Diplomat vor den Augen seiner Frau Sophie erschossen. In Ägypten verschwindet ein CIA-Analyst mit libyschen Wurzeln. In Kairo wird ein weiterer amerikanischer Diplomat ermordet und fast systematisch verschwinden mehrere Exil-Libyer. Sophie gerät schnell ins Zentrum der durch den arabischen Frühling verursachten Erschütterungen und in den Focus verschiedener Geheimdienste und deren teilweise aus dem Ruder laufenden Intrigen.

Zentrum und Hauptschauplatz dieses Spionage-Thrillers ist Kairo. Der Autor verwendet authentische Örtlichkeiten und historisch aktuelle Ereignisse, wie den Azhar-Park und das Hotel Longchamps, wodurch der Roman an Gegenwartsbezug gewinnt. Der Bezug zu Kairo bleibt jedoch oberflächlich. Vielmehr erzählt der erfahrene Autor einen eher zeitlosen Agententhriller spannend und temporeich. Im Vordergrund steht die Paranoia, die Intrigen und Desinformationen im Geheimdienstmilieu von Osteuropa über Kairo bis Amerika. In einem undurchsichtigen Gespinst aus Lügen, Verrat und Betrug, in dem niemand mehr weiß, was falsch und richtig ist, handelt lediglich ein älterer ägyptischer Geheimdienstler aus menschlichen Überzeugungen heraus und nach seinem Gewissen. Vor allem deswegen wird der Roman gegen Ende fesselnd und interessant.

Ole Steinhauer: Die Kairo Affäre. Heyne-Verlag. München 2015. 496 Seiten. 9,99 Euro.

Unterwerfung

Paris 2022: Der Literaturwissenschaftler Francois erlebt das Ende der Demokratie westlicher Prägung und des französischen Laizismus. Der etwas zurückgezogene Literaturprofessor, dessen soziales Leben sich vor allem auf wechselnde Beziehungen mit Studentinnen und oberflächliche Kontakte zu Kolleginnen und Kollegen beschränkt, ist im Grunde politisch wenig interessiert. Mit dem Wahlsieg der Islamischen Partei und der Wahl ihres Kandidaten Ben Abbes zum Präsidenten, gerät sein Leben jedoch aus dem Gleichgewicht.

Als Gegenbewegung zum allgemeinen Zerfall moralischer Werte haben die drei Weltreligionen wieder eine zentrale gesellschaftliche Bedeutung erhalten. Während jedoch Juden aus praktisch-politischen Gründen um ihre Sicherheit fürchten und auswandern, fehlt den seit Jahrzehnten geschwächten christlichen Gemeinschaften die Kraft sich durchzusetzen. Die islamischen Werte und Vorstellungen geraten, auch durch Unterstützung französischer Politiker, die zum Islam konvertieren, in eine Vormachtstellung. Bezeichnenderweise ändert sich besonders bei der Stellung der Frau und der Polygamie das gesellschaftliche Leben spürbar, wobei die Unterwerfung der Frauen mit der Unterwerfung unter Gott (Islam) gleichgesetzt wird. Bisherige Vorurteile werden im Roman zur Realität. Geld und Gier bestimmen das Handeln, ein sprachlos machender Opportunismus ermöglicht scheinbar aberwitzige Geschehnisse.

Der 2015 erschienene Roman sorgte für hitzige Diskussionen und betroffene Irritationen. Der als kritischer Querdenker und für seinen untrüglichen Spürsinn für Spannungen und Trends anerkannte Autor Houellebecq musste sich den Vorwurf der rechtsextremen Parteinahme gefallen lassen. Insbesondere nachdem durch das Attentat auf Charlie Hebdo der blutige Ernst der Realität eine ironisch - distanzierte Sichtweise auf die fiktive Handlung verhinderte. Vor dem Hintergrund der Präsidentenwahl in Frankreich im Mai 2017 bekommen die bewusst überzogenen fiktiven Ereignisse noch eine weitere besondere Bedeutung: Das im Buch geschilderte utopische Szenario, in dem die Wähler sich den großen Volksparteien versagen und aus Angst vor dem Sieg des Front National unter Marine le Pen den Kandidaten der Islamischen Partei zum Wahlsieger machen, wurde in gewisser Weise von der Realität bestätigt. 2017 kamen nach dem Scheitern der traditionellen Regierungsparteien – und aus Angst vor einem starken Front National – eine Bewegung und ein Präsident aus dem Abseits des politischen Establishments an die Macht.

Michel Houellebecq: Unterwerfung. Dumont-Verlag. Köln 2015. 272 Seiten. 10,99 Euro.

Das Echo der Straße

Horror - Kaleidoskop made in Syria

Endlich einmal „Klartext“ !

von Wolfgang Freund

Viele Wege führen in die syrische Hauptstadt Damaskus. Das wusste im Altertum bereits der Jude Saulus, der sich aus Judäa – dem heutigen Israel – nach Esch-Scham (ar. für Damaskus) aufgemacht hatte,

um in den dortigen Synagogen verkappte Christen aufzuspüren und gegebenenfalls unschädlich zu machen. Aus heutiger Sicht sind die Pfade nicht nur verschlungen und zahlreich, denn der nicht mit Spezialwissen ausgestattete Zeitgenosse läuft Gefahr auf seinem Marsch nach Damaskus von all den Schreckensmärchen aus 1001 Nacht Made in Syria, die seit Beginn des Arabischen Frühlings erzählt werden, buchstäblich erschlagen zu werden.

Der so erreichte Geisteszustand ist genau jener, vor dem Studenten der Kommunikationswissenschaften bereits im ersten Studiensemester gewarnt werden: Zu viel Information tötet die Information. Nebensächliches, zentral Wichtiges, Präfaktisches, Faktisches, Postfaktisches und Fake News wachsen zu einer Müllhalde, aus der es, steckt man in ihrem Innern, kein Entrinnen gibt. Alles wirbelt durcheinander. Der rote Faden bleibt verborgen, oder seine Verfolgung erfordert die Spürnasen von Sherlock Holmes, Hercule Poirot, Miss Marple, Father Brown und James Bond zusammengenommen. Der normalsterbliche Leser hingegen „erstickt“, und hinter seiner Großhirnrinde wimmelt es unordentlich, kaleidoskopisch von Gestalten des franko-britischen Kolonialismus (Sykes-Picot-Abkommen von 1916, mit dem alles begann), der anschliessenden Mandatszeit, des französischen Techtelmechtels mit den syrischen Alewiten, der Baath-Partei, Al-Qaïda, Al-Nusra, des „Islamischen Staates“, der Sowjets und nachfolgenden Russen, der USA, des heutigen Frankreichs, Erdogans Türkei, Al-Assad senior, Al-Assad junior usw. sowie ihren gegenseitigen und stets wechselhaften, austauschbaren Innenbeziehungen.

Auch das ist typisch Middle East. Alle „Wahrheiten“ dieses Landstrichs besitzen bereits auf DNA-Ebene doppelte und dreifache Böden. Der Busenfreund von heute ist der Erzfeind von morgen und sofort danach wieder umgekehrt, oder auch beides gleichzeitig und dann erneut mit umgekehrt-umgekehrten Vorzeichen. Als Vorzeigebeispiel braucht man sich nur anzusehen, wie vielzüngig aber auch „realpolitisch“ die Spitzen unseres erhabenen Westens mit dem aktuellen Bösewicht Nummer eins der Region, Baschar Al-Assad, umgehen.

Das Buch von Janine Scherer, einer ursprünglich diplomierten Physikerin mit entsprechend formatiertem Verstand, dem die Summe von 2+2 nur sinnvoll erscheint, wenn sie 4 ergibt, bildet in dem hochgewachsenen Publikationsgestrüpp zum Thema Syrien eine seltene Ausnahme. Sie bringt, mit Hilfe akribischer Quellenstudien, die einzelnen Vektoren der historischen und politischen Ursachen, die das heutige Syriendesaster erzeugt haben sowie weiter vorantreiben, in einen logischen, zwischen den jeweiligen Puzzle-Stücken schlüssigen Zusammenhang. Und siehe da, der Vortrag artikuliert sich in geradezu „dramatisch“ gutem Deutsch. Die Sätze bleiben eher kurz, unverschachtelt, die Wortwahl ist präzise ohne stilistisch originell sein wollenden Firlefanz. Auch gibt es keine Ansätze zu jenem schwülstigen „Sozial-, Öko- oder Politchinesisch“, wo sich die Abgegriffenheit des zu „Un-Wörtern“ geronnenen Denkens hinter klugscheisserischen Fachbegriffen verstecken kann. Der Umstand, dass Janine Scherer neben gängigen Weltsprachen wie Englisch und Französisch auch Norwegisch und Russisch fließend beherrscht, mag die Qualität ihres deutschen Duktus mitgeprägt haben. Alte Philologenweisheit: Je mehr fremde Sprachen man kennt, desto besser wird in der Regel die eigene. Last but not least: auch mit dem Arabischen pflegt Scherer näheren Umgang.

Apropos Russisch: Die Autorin zitiert sogar russische Quellen und tut diese nicht a priori als plumpe moskowitische Propaganda ab, ohne andererseits in einen einfältigen „Hurra-Russismus“ zu verfallen. Auch Wladimir Putin bleibt bei ihr das, was er zunächst einmal ist: ein überschlauer Fuchs, ein zynisch-raffinierter Schachspieler, der die Langzeitinteressen seiner Mutter Russland niemals aus den Augen verliert. Syrien ist eben von der Sache her, wie immer die Geschehnisse im Einzelnen verlaufen mögen, bereits seit über einem halben Jahrhundert ein russisches Glacis, und indirekt damit auch, zumindest bis auf Weiteres, ein iranisches. Selbst die stursten US-Strategen tragen diesem Sachverhalt Rechnung. Ohne russisches und iranisches Mitwirken – no way for Syria, aus dem Schlamassel herauszufinden! Und damit behält Baschar Al-Assad weiterhin seinen „Ehrenplatz“ am Hof der nahöstlichen Politmonster. Janine Scherer hat die Kompetenz, es gezielt zu belegen sowie die Zivilcourage, es klipp und klar auszusprechen.

Angenehm für den Leser: die 272 Quellenverweise kommen en bloc als Endnoten, doch die Nummerierungen bei Text und Endnoten sind gut erkennbar, man blättert sich nicht zu Tode und findet alles schnell. Erklärende Fußnoten hingegen erscheinen jeweils am unteren Seitenende – wie in guten alten Zeiten, als solcher Buchdruck noch selbstverständlich gewesen war.

Das Buch ist klar gegliedert nach drei sich logisch folgenden Gesichtspunkten: Historischer Rückblick, Syrien unter Baschar Al-Assad und der sich anschließende Krieg. Ein klug ausgewähltes Personenverzeichnis einschlägiger vorderorientalischer Polit- sowie Terroraktivisten und Warlords sei zusätzlich erwähnt.

Aber vielleicht hat Baschar Al-Assad, das Krümelmonster von Damaskus, tatsächlich noch eine Chance sich unter dem Druck der Geschehnisse, wie einst Saulus, in einen „Paulus der Gegenwart“ zu wandeln. Wer weiß? Man darf in diesen (un)heiligen Landstrichen, wo nach Goethe „die Völker“ schon seit längerer Zeit „aufeinanderschlagen“, doch offensichtlich weiterleben und die Hoffnung nie ganz aufgeben. Sogar die Pyramiden von Gizeh stehen noch. Man sollte deshalb die Chance für bessere Zeiten zumindest theoretisch nicht ausschließen. Ob sie auch praktisch zum Tragen kommen, kann allerdings nur eine „realexistierende“ Wirklichkeit bezeugen.

Janine Scherers Syrienstudie trägt dazu bei, solches Hoffen im Bereich des Denkbaren zu belassen. Ihr Buch ist wichtig und lesenswert.

Janine Scherer: Das Echo der Strasse. Eine Analyse der Wurzeln des Syrienkonflikts .Edition Henschel & Gustavsen. Gelnhausen 2017. 162 Seiten. 12,95 Euro.