Im Vordergrund stehen in diesen Leseempfehlungen Klassiker der ägyptischen modernen Literatur: die Großmeister Tawfik al Hakim, der Nobelpreisträger Nagiub Machfus, der Begründer der ägyptischen Kurzgeschichte Yahya Hakki. Dazu eine Debütantin aus der neuen ägyptischen Literaturszene. Zwei Deutsche schreiben über ihr Leben im zeitgenössischen Kairo.

Return of the spirit

“If you want to understand Egypt, you have to read this novel”, so beginnt der international bekannte  ägyptische Schriftsteller Alaa al Aswany sein Vorwort zu diesem Roman von Tawfik al-Hakim aus dem Jahre 1933, der kürzlich in englischer Übersetzung neu veröffentlicht wurde.

Tawfik al-Hakim, der 1889-1973 lebte, zählt zu den Großmeistern ägyptischer Literatur der Neuzeit. Einfühlsam erzählt er von dem geistigen und körperlichen Erwachen eines jungen Mannes auf der Schwelle zum Erwachsenen, das zusammentrifft mit dem nationalen Erwachen der ägyptischen Nationalbewegung, die 1919 in der ägyptischen Revolution gegen die britische Herrschaft mündete. Der Roman öffnet den Blick in die ägyptische Seele und bietet eine Schilderung der ägyptischen Gesellschaft vor 100 Jahren. 

Der jugendliche Protagonist Muhsin stammt aus einem ähnlichen familiären Hintergrund in einem kleinen Ort im Nildelta wie der Autor al-Hakim. Um eine weiterführende Schule zu besuchen, lebt er in der Obhut von Onkeln und einer Tante in Kairo. Seine erste Liebe erleben die Leser intensiv in der seismographischen Aufzeichnung der Gefühle mit. Mit treffender und humoristischer Darstellung der einzelnen Charaktere gelingt al-Hakim zugleich ein Spiegelbild der Gesellschaft und ihrer Traditionen. Al-Hakim ergründet in den armen Bauern, den eigentlichen ursprünglichen Bewohnern des Landes, den besonderen ägyptischen Charakter, ihren Zusammenhalt und ihr Herz. Im tiefsten Innern der Bauern sieht er einen unbewussten Schatz verborgen - Jahrtausende alte Erfahrungen. Aus dieser Quelle sind großartige kulturelle Gemeinschaftsleistungen der Pharaonenzeit entsprungen wie die Pyramiden.

„Return oft he spirit“ ist jedoch nicht nur ein Gesellschaftsporträt einer vergangenen Zeit, als die ägyptische Gesellschaft noch gesund und unbeeinflusst von militärischer Diktatur und religiösem Extremismus war, so Aswani. Die Gesellschaft war liberal und zeichnete sich durch kulturelle Vielfalt in einem Geist der Toleranz und Koexistenz aus.

Wenn das heutige Ägypten wieder auf der Suche ist nach den eigentlichen ägyptischen Werten könnte dieser Roman zur Orientierung dienen. Zurück zu den Wurzeln! Insofern ist der Roman voller Aktualität. Auf der Suche nach friedlicher Koexistenz, nach Ordnung, Bildung, Respekt und  Höflichkeit ist der 80 Jahre alte Titel „Return of the Spirit“ aktueller denn je!

Lesenswert ist der Roman auch wegen des humoristisch kritischen Stils des Autors. Er prägte damit die moderne ägyptische Literatur im 20. Jahrhundert und macht den Roman zu einem bahnbrechenden Meisterwerk der literarischen Moderne.

Tawfiq al-Hakim: Return of the spirit. Penguin Books. New York 2019. 338 Seiten. 15,50 €

Echnaton – der in der Wahrheit lebt.

Wenige Jahrzehnte nach Echnatons Tod macht sich ein junger Historiker Merimun auf die Suche nach der Wahrheit um das rätselhafte Pharaonenpaar Echnaton und Nofretete. Der junge Forscher befragt 14 Zeitzeugen nach ihren Erlebnissen: Generäle, Priester, Künstler, enge Vertraute, Familienmitglieder erzählen ihm ihre Geschichten mit Echnaton.

Der Pharao wollte die Gleichheit der Menschen vor dem einen Gott durchsetzen und ein Reich von Harmonie, Frieden und Zärtlichkeit schaffen. Als Erster entdeckte er das menschliche Gewissen. Echnatons Vision einer neuen Religion und Gesellschaft erschaffen eine zutiefst zerrissene Gesellschaft und enden im Bürgerkrieg. Nach seinem Sturz und der Niederlage seiner Utopie stehen sich in den Berichten der Zeitzeugen Hass und stille Bewunderung gegenüber. Zuletzt schafft es Merimun auch zu Nofretete vorzudringen, die von den neuen Machthabern in einem zerfallenden Palast eingesperrt ist.

Machfus schildert den rätselhaften Ketzerkönig Echnaton aus 14 verschiedenen Perspektiven und nähert sich so zwar der Wahrheit an, ohne jedoch eine klare Lösung anzubieten. Einerseits zeigt sich die Faszination für die modern wirkenden ethischen Vorstellungen des „Propheten“, andererseits aber auch die Folgen des religiösen Fanatismus. Für die heutige Zeit und die aktuellen Leser ist es ein mitreißendes Plädoyer für Toleranz.

Inhaltlich und erzählerisch ein unbedingt zu empfehlendes Meisterwerk.

Nagib Machfus: Echnaton – der in der Wahrheit lebt. Unionsverlag Zürich. 192 Seiten. 8,90 €

Cheops

Keiner in Ägypten ist mächtiger als der Pharao Cheops, und die große Pyramide, an der seit zehn Jahren tausende von Arbeitern bauen, wird seine Herrschaft im Reich der Toten fortsetzen. Dennoch findet Cheops an nichts mehr Gefallen, alles langweilt ihn. Um ihn zu zerstreuen, führen seine Höflinge einen berühmten Wahrsager und Zauberer zu ihm. Die Bestürzung ist allerdings groß, als der Zauberer nicht wie erwartet einige amüsante Geschichten zum Besten gibt, sondern prophezeit, dass ein an diesem Tag im Hause des Hohen Priesters geborenes Kind den Thron übernehmen wird. Cheops und seine Söhne setzen alles daran, das Kind aufzuspüren.

Nagib Machfus‘ historischen Roman liegt eine der ältesten ägyptischen Überlieferungen zugrunde, der »Papyrus Westcar«, der sich heute in Berlin befindet. Zwar mögen ihm Historiker historische Ungereimtheiten im Detail vorwerfen, aber literarische Wirkung war Nagib Machfus wichtiger als historische Genauigkeit. Dafür kommt er der Welt, den Vorstellungen und Institutionen der alten Ägypter erstaunlich nahe.

Schlicht, anschaulich und dennoch mit märchenhaftem Bilderreichtum schildert Machfus das Leben in den Hütten, Tempeln und Palästen Altägyptens, erweckt Cheops und seinen Hof zum Leben. Spannend baut er die Handlung und die Wandlung des Pharao vom Despoten zum Philosophen auf. Und wie so oft stellt er die Frage, ob der Mensch sein Schicksal lenken kann. Bereits in seinem 1939 erschienen Debütroman versteckt er im historischen Gewand seine Kritik an aktuellen sozialen und politischen Problemen.

In seinem ersten Roman vereint er bereits alle Themen, die sein Werk so großartig machen: Liebe und Tod, Erinnerung und Vergessen, Schuld und Vergebung, Kunst und Schönheit, Freiheit und Gerechtigkeit, Toleranz und Menschlichkeit. Zusammen mit der lebendigen, spannenden Erzählweise stellt Nagib Machfus 1939 erschienener Debütroman auch für heutige Leser einen einzigartigen Lesegenuss dar.

»Ich bin ein Sohn zweier Zivilisationen, die sich zu einem fruchtbaren Bund vereint haben. Die eine ist die etwa 7000 Jahre alte Pharaonenzeit und die andere die islamische Zivilisation.« Nagib Machfus in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises.

Nagib Machfus: Cheops. Unionsverlag. Zürich 2007. 256 Seiten. 9,90 €

Die Öllampe der Umm Haschim

Ismail ist der Sohn eines einfachen Getreidehändlers aus dem volkstümlichen Viertel Sayyeda Zainab in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Auf ihm ruhen die Hoffnungen der Familie: Er soll es einmal besser haben. Den sozialen Aufstieg soll der kluge und willige Junge mit Unterstützung seines ehrgeizigen Vaters durch ein Medizinstudium in England schaffen. Als junger Augenarzt kehrt er mit europäischem Wissen und westlichen Denkweisen ausgestattet nach Kairo zurück und prallt auf die längst vergessenen, ihm rückständig erscheinenden Traditionen, insbesondere den Aberglauben der Bevölkerung in seinem Viertel.

Zunächst zerreißt ihn dieser Konflikt, nach einiger Zeit findet er einen Weg moderne Medizin und traditionellen Glauben in Einklang zu bringen. Die Zerrissenheit zwischen orientalischen Wurzeln und europäischem Fortschrittsglauben basiert auf Hakkis eigenen Erfahrungen.

Ihm gelingt es in der Erzählung den Konflikt meisterhaft in Szene zu setzen. Hakki (1905-1992) war einer der ersten Künstler, die sich mit diesem noch immer hochaktuellen Thema befassten. Seine Erzählung erschien bereits 1944 in Kairo und wurde als deutsche Übersetzung 1981 erstmalig veröffentlicht. In überarbeiteter Fassung wurde sie 2019 erneut publiziert, weil sie als erste arabische Kurzgeschichte Bedeutung erlangte und zum ägyptischen Literaturkanon gehört.

Neben der literarischen Bedeutung der Kurzgeschichte skizziert sie die ägyptische Seele und das Wesen Ägyptens, welche aus heutiger Sicht dem Moloch der Globalisierung zum Opfer gefallen sind.

Yahya Hakki: Die Öllampe der Umm Haschim. Edition Orient. Berlin 2019. 77 Seiten. 14,90 €

Hinter dem Paradies

Die Journalistin Salma kehrt nach einer gescheiterten Ehe aus Kairo an ihren Geburtsort, einem unbekannten Dorf im Nildelta, zurück. Sie hatte zu ihrer Heimat und ihrer Familie den Kontakt abgebrochen. Erst eine psychische Krise bringt sie an den Ort ihrer Kindheit zurück, sie möchte eine Familiengeschichte schreiben.

Ihre Erinnerungen, Erzählungen, Begegnungen mit ehemaligen Freunden und Freundinnen und neu enthüllte Geheimnisse lassen Salmas Familiengeschichte wiederauferstehen. Ihr Gedankenfluss ergibt ein komplexes Bild ägyptischer Gesellschaftsgeschichte bis ins 21. Jahrhundert. Vor den Lesern offenbaren sich ihre Jugend auf dem Dorf, familiäre und gesellschaftliche Zusammenhänge in ihrem Dorf und seiner Landschaft.

Ihre Suche nach der eigenen Identität legt aufwühlende und teilweise verstörende Ereignisse offen, die aber durch die kühle und distanzierte Art der Erzählung und Betrachtung eigenartig gebrochen wirken.

Mansoura Eseddin, geboren 1976 in einem Dorf im Nildelta, schreibt autobiografisch und arbeitet ihre eigene Zerrissenheit zwischen Traditionen und Moderne auf. Die Literaturjournalistin gilt als eine der  hoffnungsvollen Autorinnen der ägyptischen Gegenwartsliteratur.

Mansoura Eseddin: Hinter dem Paradies. Unionsverlag. Zürich  2014. 190 Seiten. 19.90 €

Es ist ein Splitter in der Welt – meine Jahre in Kairo

Insgesamt 12 Jahre seines beruflichen Lebens hat der Lehrer Martin Schnackenberg an zwei renommierten deutschen Begegnungsschulen in Kairo verbracht. Zunächst als ganz junger Lehrer an der Deutschen Evangelischen Oberschule, später mit seiner ägyptischen Frau und eigenen Kindern an der Deutschen Schule der Borromäerinnen für Mädchen.

Aus seinen privaten und beruflichen Erfahrungen und Gesprächen ergaben sich für ihn Erkenntnisse, die er in seinem Resümee wie folgt zusammenfasst: „Nach zwölf Jahren Ägypten ist mein Fazit eigentlich sehr banal und doch habe ich das Gefühl, dass viele Menschen dieses Fazit hören sollten. Mir hat in Ägypten vieles gefallen, einiges konnte ich kaum ertragen...

Ich habe mein eigenes Land schätzen gelernt, ich vergöttere den Rechtsstaat, lache darüber, wenn man sich in Deutschland über die Bürokratie aufregt und bin überzeugter denn je, dass der Staat zumindest versuchen muss, Chancengleichheit in einer Gesellschaft zu gewähren. Gleichzeitig müssen wir aufpassen, nicht die Wärme zu verlieren, nicht alles zu rationalisieren, nicht hinter den Zahlen die Menschen zu vergessen, nicht vom Staat fordern, was nur die Menschen untereinander sich geben können….Im Grunde aber unterscheiden sich Menschen viel weniger als wir denken. Menschen wollen etwas zu essen haben, eine Wohnung und Arbeit, für sich und ihre Kinder eine Zukunft, und sie wollen respektvoll behandelt werden.“

Diese Grunderkenntnisse möchte er der Welt groß und unübersehbar zurückführen vor Augen stellen, egal was die Hassprediger unserer Zeiten verkünden. Dazu schildert Martin Schnackenberg in vielen Episoden seine kleinen und großen Erlebnisse und Erkenntnisse. Unterhaltsam und interessant und lehrreich für Neueinsteiger in Kairo, aber auch Kairoerfahrenere finden sich schmunzelnd immer wieder: ja so ist es! Eine amüsante Lektüre, gemäß dem Metier des Autors als Gymnasiallehrer nicht ohne humanistisch-pädagogischen Anstrich.

Martin Schnackenberg: Es ist ein Splitter in der Welt – meine Jahre in Kairo. Engelsdorfer Verlag. Leipzig 2019. 233 Seiten. 14,00 €

Kairo- Alltag und Ausnahmezustand

Anfang Januar 2013 fliegt Matthias Fabian, der ein Faible für Ägypten hegt und das Land aus mehreren Besuchen kennt, für ein Jahr nach Kairo, um die Sprache zu erlernen. In politisch stürmischen Zeiten wohnt er in der Innenstadt, dem Zentrum der Revolution, und fährt täglich mit dem Minibus zur Sprachenschule in den Vorort  Medinet-Nasr. Seit dem demokratischen Wahlsieg der Moslembrüder und Salafisten und dem Amtsantritt des Präsidenten Mohamed Morsi schwelt ein Konflikt im Lande. Die Opposition mobilisiert Massendemonstrationen.

Er nimmt die Leser mit auf die Straßen und Plätze im Herzen der Metropole und schildert seine Eindrücke und Erlebnisse während des Machtwechsels. Insbesondere interessiert ihn die Absetzung Morsis aus Sicht der einfachen Menschen auf der Straße. Der Autor erzählt unterhaltsam und informativ mit selbsterlebten Episoden das tägliche Leben, zwischen hochbrisant politischen Eskalationen und typisch ägyptischem Alltag.

Matthias Fabian: Kairo- Alltag und Ausnahmezustand. Verlag tredition. Hamburg 2014. 15,99 €