Interessante, spannende, erkenntnisreiche Lektüren zum und aus dem Papyrus-Themengebiet sollen hier zum Lesen anregen und verführen. Dieses Mal finden Sie Sachbücher aus dem „Islam-, Daesh-, IS-Bücherberg“, vorgestellt von unserem treuen Leser und Autor Dr. Freund, und aus der Feder des Nahost-Experten Michael Lüders. Biografische Erzählungen zu Frauenschicksalen bieten auf mitreißende Art vielfältige Erfahrungen und Erkenntnisse. Auf ihre Kosten kommen auch Krimi-Freunde mit Interesse an ungewöhnlicher Umgebung. Schlussendlich steht auf unserer Lektüreliste ein bemerkenswertes Lehrbuch für die ägyptische Sprache und Mentalität von einem schweizer Ägyptenliebhaber verfasst.
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Schiitischer Halbmond am Horizont?
Zwei Neuerscheinungen auf dem Islam-, Daech-, Qaïda-Bücherberg
Text: Wolfgang Freund
„Nicht das Böse ist wirklich irrational
und kennt keine Erklärung,
im Gegenteil, es ist das Gute.“
Imre Kertesz (1995)
Von Imre Kertesz, dem ungarischen Literatur Nobelpreisträger 2002 und Auschwitz-Überlebenden, stammt auch das Frage-Antwort-Spiel: „Worin besteht der Unterschied zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten?“ Antwort: „Es gibt keinen, nur hat der Pessimist das bessere historische Gedächtnis.“
Ohne Zweifel, der französische Journalist Nicolas Hénin und Syrien-Fan, Jahrgang 1975, gehört zu jenen Pessimisten mit dem besseren historischen Gedächtnis. Als Geisel des Islamischen Staates in Syrien, von Juni 2013 bis April 2014, wurde ihm glücklicherweise nicht – wie seinem Schicksals- und Fußkettengenossen James Foley – mit dem Küchenmesser medienwirksam der Kopf abgetrennt . Sondern man hat ihn nach fast einem Jahr zusammen mit drei anderen französichen Gefangenen freigelassen. Er rächte sich alsbald an seinen Peinigern mit seinem im Februar 2015 in Paris erschienenen Buch: `Jihad Academy. Nos erreurs face à l’Etat islamique`. Darin ist weniger von extremen Haft- oder auch Folter-Monaten die Rede – was seine Peiniger wahrscheinlich als Reklameschrift für ihr Tun gewertet hätten – , doch dafür umso mehr von unseren „westlichen“ strategisch-taktischen Unfähigkeiten, mit dem Phänomen des Daech-Unternehmens adäquat umzugehen. Das Buch gibt es nun auch auf Deutsch.
Nicolas Hénin reiht sich damit bei jenen – bis vor kurzem an den Fingern abzählbaren – westlichen Autoren ein, die glauben, der neue Islamoterrorismus sei, so wie wir es derzeit tun, unbezwingbar. Dieser Diskurs wurde vor über 10 Jahren von Guillaume Dasquié eingeläutet mit seinem Buch `Al-Qa’ida vaincra`, erschienen in Paris 2005. Heute rollt eine regelrechte Tsunami-Welle von IS-Daech-Qa’ida Büchern über uns hinweg, eines schlauer als das andere hinsichtlich unserer Besserwisserei wie den vollbärtig-vermummten islamistischen Bösewichten beizukommen wäre.
Nicolas Hénin demonstriert in einem sprachlich wie konzeptuell brilliant geführten 10-Punkte-Diskurs, den die deutsche Übersetzung von Sandra Schmidt kongenial unterstützt, wie sehr wir im Westen falsch liegen mit unserer vornehmlichen Solidarität mit Opfern des IS-Terrors aus Frankreich oder Belgien. Zwar leugnet er deren Existenz nicht. Doch die meisten Opfer tragen die Bevölkerungen in Syrien und im Irak. Dabei geht es um Menschen, die nicht nur dem IS-Terror ausgesetzt sind sondern zugleich den sie angeblich „befreien“ wollenden örtlichen Gegenkräften. Hinzu kommen die blinden Luftangriffe der russischen Luftwaffe wie auch der sogenannten „internationalen“ Koalition. Nur wenn es den „Koalitionskämpfern“, russische inbegriffen, gelingt, die vom kriegerischen Chaos direkt betroffenen Menschen voll auf ihre Seite zu ziehen, könnte uns, so Nicolas Hénin, der „Sieg“ gelingen.
Nicolas Hénin: Der IS und die Fehler des Westens. Warum wir den Terror militärisch nicht besiegen können. Orell Füssli Verlag. Zürich 2016. 216 Seiten. 17,95 Euro
Von ähnlicher Besorgnis geschüttelt sind die beiden jordanischen Sozialwissenschaftler Hassan Abu Hanieh und Mohammad Abu Rumman mit ihrem Buch „IS UND AL-QAIDA : Die Krise der Sunniten und die Rivalität im Globalen Dschihad“. Auch hier handelt es sich um eine Übersetzung, doch dieses Mal aus dem Arabischen. Das Original wurde für Leser in Jordanien und seinen Nachbarländern geschrieben und in einer Schriftenreihe veröffentlicht, die die in Amman tätige Zweigstelle der Friedrich-Ebert-Stiftung herausgibt. Stärke und Schwäche der Studie sind damit bereits angesprochen. Zweifelsohne liegt eine gründliche Untersuchung von zwei Wissenschaftlern vor, die ihren Problemkreis bis in dessen feinste Verästelungen hinein kennen. Doch der ausländische Leser – soziokulturell verstanden – sieht sich mit einer Unsumme von örtlichen Namen und inneren Details konfrontiert, die er, selbst bei näherer Kenntnis der zeitgeschichtlichen Nahost-Landschaft, in seinem ganzen Leben noch nie gehört haben mag und deren Einordnung in ein verstehbares Ganzes ihm Schwierigkeiten bereiten dürfte. Und: Die von den Autoren im Quellenverzeichnis nachgewiesenen Referenzen sind mehrheitlich Internet-Links, bei denen in den meisten Fällen angemerkt wird, dass sie inzwischen nicht mehr erreichbar seien. Also weshalb zitieren, wenn der Leser nicht an sie herankommt? Das ist frustrierendes Augenpulver.
Die Übersetzung aus dem Arabischen ins Deutsche von Dr. Günther Ort scheint dem Rezensenten indessen gelungen. Vielleicht hätte der Übersetzer, dem für sein Produkt volle Anerkennung gebührt, hin und wieder gut daran getan, arabische Schachtelsätze nicht ähnlich verschachtelt auf Deutsch wiederzugeben. Aber so ist das nun einmal mit Texten und Märchen aus 1001 Nacht. Das steckt an. Doch als Ganzes ist diese Übersetzung eine hervorragende Leistung. Man liest einen „deutsch denkenden“ Text. Das Buch erklärt präzise, wie sich die einzelnen islamistischen Terrorzweige, wie die Moslembrüder, der Hamas in Palästina, Al-Qa’ida, Al-Nusra und IS-Daech gebildet und wechselseitig befruchtet haben. Darin liegt seine Stärke.
Der Leser könnte nach Lektüre der beiden Werke eine überraschende Erkenntnis gewinnen. Die eigentliche Aktionsdynamik zwischen syrischer Mittelmeerküste und Bagdad stießen weder die sunnitischen Daech-IS-Terroristen oder Sonstwie-Dschihadisten noch die „gemäßigten“ Sunniten der Türkei, Saudi-Arabiens, Qatars, Ägyptens oder die westlichen Partner der sogenannten „Koalition“ an, sondern Schiiten des Iraks und Syriens – wozu auch dessen alawitische Minderheit zu rechnen wäre, die den Kern des Assad-Regimes bildet – sowie des Libanons, massiv unterstützt durch Iran und Russland.
Der „russische Bär“ sitzt seit über einem halben Jahrhundert festgeklammert an der syrischen Mittelmeerküste in den Flotten- und Luftwaffenstützpunkten von Lattakia und Tartus. Er wird alles tun, sich diesen Direktzugang zu den warmen Meeren der westlichen Welt zu bewahren und logischerweise jene Herrscher in Damaskus bedienen, die ihm diesen Zugang offen halten. Heute ist es das Assad-Regime, morgen kann es ein anderes sein, sofern die Grundvoraussetzung im Sinne Moskaus stimmt: Lattakia und Tartus müssen „russisch“ bleiben.
Den Dschihadisten von IS-Daech, Al-Qa’ida, Al-Nusra usw. bleibt angesichts dessen nur zuzurufen: „Freunde, ihr sitzt auf dem falschen Dampfer, es ist ein Geisterschiff!“
Hassan Abu Hanieh / Mohammad Abu Rumman: IS UND AL-QAIDA. Die Krise der Sunniten und die Rivalität im globalen Dschihad. DIETZ Verlag. Bonn 2016. 239 Seiten. 19,90 Euro
Wer den Wind sät
Was westliche Politik im Orient anrichtet
Text: Renate Gomaa
Der Nahost-Experte Michael Lüders geht in seinem neuen Buch gewohnt kritisch mit der amerikanisch-westlichen Politik um. Er beschreibt und analysiert die Entwicklungen im Mittleren und Nahen Osten seit Beginn der fünfziger Jahre aus einer für den Westen ungewöhnlichen Sichtweise. Knapp aber kenntnisreich und sachlich stellt er die desaströsen Folgen von 65 Jahren westlicher Interventionspolitik dar, die unter dem Deckmantel der Demokratisierung und Modernisierung in erster Linie durch Eigennutz und Ethnozentrismus geprägt war.
Angefangen beim CIA-gesteuerten Sturz des liberalen persischen Premierministers Mohammed Mossadegh zu Beginn der 50. Jahre belegt Lüders, dass amerikanische und westliche Politik im Nahen Osten nicht auf einen Interessenausgleich ausgerichtet ist.
Am Beispiel Afghanistans und der Kooperation Amerikas mit Bin Laden sowie der Intervention in den Irak zeigt er den Roten Faden, der sich bei den aktuellen Bündniskonstellationen ebenso wie in dem seit Jahrzehnten andauernden israelisch-palästinensischen Krieg offenbart: Alle, die den jeweiligen aktuellen Machtinteressen der amerikanisch-westlichen Politik entgegenstehen, werden unter Berufung auf eine vermeintlich höhere Moral als Widersacher ausgegrenzt und - häufig über Stärkung gegnerischer Gruppierungen - dem eigenen Willen unterworfen. Diese kurzsichtige, interessengeleitete Politik identifiziert Lüders als Geburtshelfer der heute am meisten gefürchteten Terrorbewegungen. Von der Hamas bis zu den Taliban, von der al-Qaida bis zum IS und Boko Haram.
Ein Augenöffner für alle, die an einer anderen Perspektive Interesse haben.
Michel Lüders: Wer den Wind sät - Was westliche Politik im Orient anrichtet.Verlag C.H. Beck. München 2015. 176 Seiten. 14,95 Euro
Während die Welt schlief
Text: Renate Gomaa
Ende der vierziger Jahre bricht mit den Zionisten der Terror ein in das beschauliche und friedvolle palästinensische Dorf Ein Hod. Die Familie der Erzählerin Amal verliert ihre Heimat und ihren kleinen Sohn Ismael. Schließlich leben sie als Flüchtlinge im Lager Jenin. Während Ismael von einer jüdischen Familie an Sohnes statt aufgezogen wird, wachsen Amal und ihr Bruder Yusuf im Lager auf. Nach dem Tod der Eltern gelangt Amal in ein Waisenhaus und später durch ein Stipendium nach Amerika. Erst viel später findet sie zu ihrer Familie und ihrem Volk zurück und trifft dabei ihre große Liebe.
Der fesselnde Roman erzählt eine palästinensische Familiengeschichte und deren Schicksal über vier Generationen und 60 Jahre hinweg. Zutiefst bewegend und eindrucksvoll stellt die palästinensische Autorin Susan Abulhawa das unmenschliche Leiden, die Verzweiflung und die immer wieder aufkeimende Hoffnung der Menschen dar.
Sie schreibt die traurige und tiefbewegende Geschichte aus der Sicht der Palästinenserin sehr authentisch und einfühlsam, jedoch ohne Hass und Vorurteile. Durch ihre unvoreingenommene menschliche Haltung gelingt es ihr eine Fülle von Einblicken in die unfassbare Realität des israelisch-palästinensischen Konflikts zu geben und die Dynamik von Gewalt und Terrorismus zu erleuchten. Bemerkenswerter Weise bleibt die Hoffnung auf Versöhnung und ein friedliches menschliches Leben lebendig.
Susan Abulhawa: Während die Welt schlief. Diana-Verlag 2012. 448 Seiten. 9,99 Euro
Die Gelbe Gasse von Kairo
Erinnerungen einer Weimarerin an ihr Leben in Kairo
Text: Renate Gomaa
Seit ihrer Jugend fasziniert vom alten Ägypten besucht die Erzählerin als junge Studentin Kairo, die Stadt ihrer Träume. Sie verliebt sich in die Metropole am Nil und beschließt nach dort auszuwandern.
Doch ihre anfängliche Begeisterung schwindet als sie den Ägypter Hamdy kennen lernt, „den Schleier des touristischen Staunens“ von ihren Augen nimmt und sich auf „das Kairo der Bevölkerung“ einlässt. Nachdem sie durch ihre Heirat zu einem Mitglied von Hamdys großer Familie wird, scheint ihr „als hätte die Stadt ihr Festtagskleid abgelegt, mit dem ich zuvor empfangen worden war.
Nun lag sie vor mir und ich war mittendrin in dem Moloch, sah nunmehr nicht mehr nur Schönheit und Wunderbares, sondern die ganz normale Großstadt.“ Anja Abdelkader beschreibt mit liebevollem Humor, ohne Vorbehalte und Werturteile ihre autobiographische Reise durch und in eine Stadt, eine Reise, die sie immer weiter von den Urlaubsansichten weg in das Herz und die Seele der ägyptischen Gesellschaft führt. Durch ihre Erzählungen bietet sie vielfältige Einsichten in die Verhältnisse einer ägyptischen Großfamilie aus der Mittelschicht und in die gesellschaftlichen Veränderungen während des arabischen Frühlings.
Anja Abdelkader: Die Gelbe Gasse von Kairo. tredition-Verlag. Hamburg 2016. 280 Seiten. 17,99 Euro
Sikkit EL Aqrab
Der Weg des Skorpions
Text: Renate Gomaa
Sonja und Monika, zwei deutsche Frauen, leben mit ihren ägyptischen Ehemännern in den achtziger Jahren in Kairo und freunden sich dort an. Aus der Perspektive der Erzählerin Monika und ihrer Freundin Sonja schildert Roswitha Leiser-Wishahi in dem stark biographisch geprägten Roman ihre Erlebnisse und Erfahrungen, ihre Suche nach einem angemessenen Platz in der fremden Umgebung, ihren Kampf um eine Identität. Aus dem deutsch-ägyptischen Spannungsfeld heraus beschreibt sie die ägyptische Gesellschaft und ihre Entwicklung in der Krisenregion des Nahen Ostens und gibt authentisch und offen Einblick in ganz individuelle Eigenheiten und unterschiedliche Lebenswege von deutschen bzw. österreichischen Frauen in der Ehe mit ihrem ägyptischen Partner und ihren Kindern in der ägyptischen Gesellschaft. Diese Gemeinsamkeit führt sie zusammen und begründet ihre Freundschaft, die allerdings zerbricht, als sich Sonja als skrupelloser „Skorpion“ entpuppt.
Roswitha Leiser-Wishahi: Sikkit EL Aqrab – Der Weg des Skorpions. BoD – Books on Demand 2012. 217 Seiten. 13,90 Euro
Fortunas Tochter
Text: Renate Gomaa
Der 1999 erschienene Roman spielt zwar in einer anderen Zeit und Region, passt aber thematisch gut, weil er nicht nur unvermindertes Lesevergnügen, sondern auch tiefgreifende universelle Erkenntnisse zum Thema Frauenschicksale im interkulturellen Kontext vermittelt.
Im März 1832 findet die kapriziöse Miss Rose ein neugeborenes Kind vor ihrer Haustür im chilenischen Valpariso. Sie ist mit ihrem im Handelsgeschäft tätigen Bruder aus England nach Chile ausgewandert und führt diesem den Haushalt. Eliza, so wird das kleine Mädchen genannt, wächst von Anfang an in zwei Welten auf: in der Erwachsenenwelt der englischen Kolonie, in der sie eine erstklassige Erziehung durch ihre unkonventionelle Adoptivmutter erhält, und in der Welt von Mama Fresia. Die Herrscherin über Küche und Patio führt sie in das Leben und die Mythen der Indios ein.
Als Teenager verliebt sie sich in einen chilenischen Arbeiter, der dem Ruf des Goldes nach Kalifornien folgt. Eliza, inzwischen schwanger, macht sich auf die Suche nach ihrem Geliebten. Sie bricht aus der wohlbehüteten Welt auf in ein lebensbedrohliches Abenteuer mitten im kalifornischen Goldrausch, bei dem sie, als Mann verkleidet, ungeahnte Gefahren und Freiheiten erlebt. Neue Welten und Möglichkeiten erschließen sich ihr in der Beziehung zu einem chinesischen Arzt und im Zusammenleben mit dem bunten Völkergemisch in den von Grausamkeit und Gewalt geprägten Golddörfern. Nach ihrer Rückkehr lebt sie „ohne Korsett“ (Allende) als Frau weiter.
Auch in diesem Roman schafft Isabel Allende mit ihrem erzählerischen Talent eine eindrucksvolle Welt und unvergessliche Gestalten. Mit der Lebensgeschichte der beiden ungewöhnlichen Heldinnen Rosa und Eliza verdeutlicht sie beeindruckend die gesellschaftlichen Grenzen für unkonventionelle Charaktere und den Kampf um eine individuelle Identität. Auch an anderen starken Frauen zeigt Allende die gesellschaftlichen und individuellen Veränderungsprozesse: Amazonen als Pionierinnen schaffen ein völlig anderes Frauenbild.
Isabel Allende: Fortunas Tochter. Suhrkamp-Verlag 2012. 483 Seiten. 10,00 Euro
Die letzte Sure
Text: Renate Gomaa
Die 16jährige Nouf, Tochter einer reichen und angesehenen Familie aus Dschidda, verschwindet eines Tages spurlos. Die Familie bittet Nayir, ihren erfahrenen Wüstenführer, um Unterstützung bei der Suche. Als man das Mädchen schließlich ertrunken in einem weit abgelegenen Wüstenwadi auffindet, stellt sich heraus, dass sie schwanger ist. Trotz vieler Ungereimtheiten wird der Fall auf dringenden Wunsch der Familie von der Polizei abgeschlossen. Nur der Bruder des Opfers, der mit der Pathologin Katya, einer Mitarbeiterin in der Gerichtsmedizin, verlobt ist, besteht auf weiteren inoffiziellen Untersuchungen. Katya und Nayir ermitteln heimlich weiter und geraten dabei in massive Konflikte mit den engen Gesetzen und Traditionen der saudi-arabischen Gesellschaft.
Sehr einfühlsam und authentisch schildert die Autorin nicht nur die Ermittlungsarbeit in einem fremdartigen Umfeld, sondern insbesondere die inneren Konflikte des Helden. Dessen Glauben beruht auf der festen Überzeugung, dass eine von Gott gegebene Ordnung die Grundlage für Weltanschauung und Rechtssysteme der Gläubigen bildet, die nur durch Ungläubige in Frage gestellt werden können. Doch durch den Kontakt mit der fortschrittlichen Pathologin Katya, wird dem sehr konservativen und religiösen Nayir die Enge seines Glaubens und seiner unterdrückten Sehnsüchte bewusst. Er gelangt zu der Erkenntnis, dass in einer Welt der Veränderungen und im Kontakt mit anderen Werten die rigorosen Vorstellungen aufbrechen müssen, wenn die Menschen nicht an ihnen zerbrechen sollen.
Ferraris hat ein Jahr lang in einer strenggläubigen muslimischen Gemeinde in Dschidda, Saudi-Arabien, gelebt, bevor sie ihren ersten Roman »Die letzte Sure« schrieb, für den sie mit dem »Mystery Fiction Award« der Santa Barbara Writers Conference ausgezeichnet wurde. Ihre Erfahrungen und Kenntnisse kann sie überzeugend in ihre Romane einbringen.
Ein zweiter Fall für Katya und Nayir ist unter dem Titel „Totenverse“ erschienen. Er wurde im Piper-Verlag zuerst veröffentlicht.
Zoe Ferraris: Die letzte Sure. Piper-Verlag 2015. 400 Seiten. 9,90 Euro
Totenverse
Text: Renate Gomaa
Eine junge Frau wird ermordet und grausam entstellt am Strand von Dschidda in Saudi-Arabien aufgefunden. Ein Amerikaner verschwindet spurlos vor seinem Haus, kurz nachdem er seine aus dem Heimaturlaub in den USA zurückgekehrte Frau vom Flugplatz abgeholt hat. Bei den polizeilichen Ermittlungen stößt die junge Pathologin Katya bald auf die Identität der jungen Frau: Es handelt sich um Laila, eine junge Filmemacherin, die mit ihren heimlichen Filmen provozierend gegen saudische Traditionen, religiöse Konventionen und Tabus verstößt. Gemeinsam mit dem Wüstenführer Nayir, den Katya um Unterstützung bittet, finden sie Spuren, die von der jungen Frau zu dem verschwundenen Amerikaner und einem mysteriösen Koranforscher führen.
Der Kriminalroman aus der saudischen Metropole Dschidda führt den Leser mit spannender und atmosphärischer Erzählung in einen recht komplexen Fall und eine Liebesgeschichte; der besondere Reiz besteht vor allem in den sehr überzeugend und authentisch geschilderten gesellschaftlichen Verhältnissen. Zoe Ferraris, eine amerikanische Autorin mit familiären Verbindungen zu Saudi-Arabien, stellt auf eigene Erfahrungen gestützt die Verhältnisse dar. In Zoe Ferraris Personen und deren Entwicklung zeigen sich die durch rigide Geschlechter- und Rollentrennung und religiösen Dogmatismus bedingten Probleme der Gesellschaft in privaten und beruflichen Relationen. Zwanghaft-neurotische Beziehungen zwischen Männern und Frauen, deren demütigenden und erniedrigenden Erfahrungen, wenn sie außerhalb des Hauses mit Männern zusammenarbeiten, sind aber keinesfalls nur das Dilemma von Frauen im Beruf. Auch bei den Männern stellt die Autorin Hindernisse, Möglichkeiten und Chancen der persönlichen Entwicklung an Beispielen dar. Mit Nayir, einem zunächst streng religiösen Einzelgänger, der verzweifelt nach einer passenden Frau sucht, und dem recht unkonventionellen Inspektor Osama, dessen Frau heimlich die Pille nimmt, damit sie in ihrem anspruchsvollen Beruf weiterkommt, erlaubt Ferraris einen bei aller Spannung aufschlussreichen Blick hinter die Kulissen der üblichen Vorurteile.
Zoe Ferraris: Totenverse. Piper Verlag 2011. 432 Seiten. 10,99Euro
Ägypten verstehen - seine Sprache erleben
vom Vokabular zu Lebensweise und Mentalität, Brauchtum und Tradition
Text: Elisabeth Hartung
Er ist jemand, der beruflich sein Leben lang Fremdsprachen unterrichtet hat, seit fünfzehn Jahren den Großteil des Jahres in seiner Wahlheimat Ägypten lebt und die Sprache des Landes nicht nur gelernt, sondern im täglichen Umgang mit den Leuten seines Dorfes „er-lebt“ hat: Hans Mauritz bringt die besten Voraussetzungen mit für ein Buch mit diesem Titel.
Dieses Buch wendet sich an Menschen, die Ägyptisch-Arabisch erlernen wollen, darüber hinaus aber auch den Geist und die Seele der Ägypter verstehen möchten, an Leser, die als Touristen oder Niedergelassene ein besonderes Verhältnis zu diesem Land haben. Alle Vokabeln, Beispielsätze und Redensarten sind deshalb auf Deutsch, Arabisch und in phonetischer Umschrift angeführt. Zusätzlich erfreuen die originelle Kalligrafie und Karikaturen des bekannten Künstlers Daniel Reichenbach.
Dieses Werk ist kein Sprachführer im herkömmlichen Sinn. Der Autor erklärt nicht einzelne Vokabeln, sondern präsentiert ganze Wortfelder und Wortfamilien so, dass der Lernende seinen Wortschatz erheblich erweitern kann. Dabei wählt er semantische Elemente aus, die sich auf wichtige Gebiete des ägyptischen Lebens beziehen: Leben in der Dorfgemeinschaft, Heirat und Geburt, Schule und Studium, Feste und Wallfahrten. Es werden vor allem jene Begriffe erläutert, die einen zentralen Platz einnehmen im Denken und Fühlen der Menschen: Solidarität in Familie und Nachbarschaft, Großzügigkeit und Gastfreundschaft, Respekt vor dem Wissen und der Erfahrung der Alten, Friedfertigkeit und Schicksalsergebenheit, wie die Religion sie gebietet, aber auch Humor und Spott in allen Lebenslagen. Neben positiven Charaktereigenschaften und Verhaltensweisen kommen auch problematische zur Sprache: die mächtige Instanz der Gemeinschaft, die das Leben des Einzelnen kontrolliert und reglementiert, die prekäre Stellung der Frau, die Unterwürfigkeit gegenüber Reichen und Mächtigen und die Vorliebe für schönen Schein, der manchmal wichtiger ist als das Sein.
All diese Begriffe und Phänomene werden nicht theoretisch-wissenschaftlich erläutert, sondern sind eingebettet in kurzweilige Geschichten und Anekdoten aus dem Leben des Autors in seinem Dorf. Manchmal erweitert sich dieser Rahmen und der Blick fällt auf die Hauptstadt, den Tahrir-Platz und die dramatischen Ereignisse der Revolution. Die subjektive Perspektive wird ergänzt durch zahlreiche Sprichwörter und Redensarten, welche die Weisheit des Volkes vermitteln.
Indem es die geistigen und moralischen Werte der Ägypter vermittelt, hilft das Buch Ägypten-Besuchern und Niedergelassenen, die Menschen besser zu verstehen, bei denen sie zu Gast sind, und Missverständnisse und Vorurteile zu vermeiden, damit Einheimische und Fremde in Harmonie und gegenseitigem Respekt zusammenleben.
Hans Mauritz: Ägypten verstehen – seine Sprache erleben: vom Vokabular zu Lebensweise und Mentalität, Brauchtum und Tradition. Kubri-Verlag Zürich. Juli 2016. Karikaturen von Daniel Reichenbach. 124 Seiten. 26,00 Euro
Das Buch ist erhältlich in den Buchhandlungen Lehnert und Landrock und Oumm al-Dounya in Kairo sowie Aboudi in Luxor.