„Poeeeeeeetryyyyyyyy!“, röhrt die Moderatorin Hoda Shoeir ins Mikro. „Slammmmmm!!!!“, schallt es von den Rängen der voll besetzten DEO-Aula zurück. Die Stimmung, bereits durch die DEO-Schulband angeheizt, steigert sich zusehends, wird turbulenter und aufgewühlter. Noch zwei Mal wiederholt sich der Schlachtruf, immer lauter. So beginnt Poetry Slam! Es ist bereits der Dritte an der deutschen Evangelischen Oberschule.

Kurz werden der Ehrengast Haidy Zakaria, Kopf und Motor der ägyptischen Poetry-Slam-Szene, sowie die Gäste von der Deutschen Schule der Borromäerinnen Kairo und der Europa-Schule begrüßt, danach die Regeln erklärt:

Jeder Slammer, so heißen die Poeten beim Poetry Slam, muss ein neues selbstgeschriebenes Werk vortragen; Englisch, Arabisch, Deutsch oder Französisch, egal in welcher Sprache. Einzige Einschränkung: Der Vortrag darf maximal vier Minuten dauern.

Wer beim Poetry Slam gewinnen will, braucht viel Applaus. Denn Länge und Lautstärke des Publikum-Beifalls sind ausschlaggebend für die fünfköpfige Jury, die anschließend Punkte vergibt. Möglich sind 0 -10 Punkte. Der niedrigste und höchste Wert werden gestrichen und die restlichen Punkte addiert. Maximal 30 Punkte kann ein Slammer so erreichen.

Zur Sicherheit übt Hoda mit dem Publikum die Beifallsstärke für die verschiedenen Bewertungen: 1 Punkt - verhaltenes Klatschen, 4 Punkte - ordentlicher Beifall, bei 9 Punkten lautes Klatschen mit einigen Rufen und Schreien, bei 10 Punkten tost der Saal, man johlt, brüllt und trampelt mit den Füßen. Das passt! Hoda ist zufrieden, die Bühne frei für die Poeten, allen voran Haidy Zakaria, die sich souverän für die Probeabstimmung bereit erklärt hat – ein Opfer, denn der erste hat es nicht leicht. Das Publikum hält sich üblicherweise mit Höchstbewertungen am Anfang noch zurück. Schließlich folgen noch viele Slammer im Alter von 13 bis 17 und ein Lehrer, Wilfried Schäfer, der das Poetry-Slam an der DEO unermüdlich unterstützt.

Aus dem Hut der Glücksfee Gina zieht Hoda nun das erste Los, sie macht es noch ordentlich spannend, bis sie den Namen des nächsten Slammers unter den nervös wartenden Teilnehmern endlich nennt. Und los geht es. Die Beiträge der Poeten handeln von der Hitze im ägyptischen Sommer, von gesellschaftlichen und schulischen Zwängen, von Albträumen und Befindlichkeiten. Ein Beitrag aus der Sicht eines Jugendlichen mit Migrationshintergrund schockiert durch seine krasse, aber wohl authentische Wortwahl. Meistens sind die Texte auf Englisch, nur wenige auf Deutsch, ein Text ist auf Hocharabisch verfasst. Sieger sind letztlich die unschlagbare Hoda Soheir mit dem Poem „N.C.“, in dem sie sich ganz persönlich mit dem Numerus Clausus zur Aufnahme an Universitäten auseinandersetzt, und Herr Schäfer mit einem sehr nachdenklichen Text über ein Straßenkind.

Hoda mit ihrem Beitrag "Handy"

Schnell wird klar, was Poetry Slam ausmacht: Die Autoren und ihre Präsentation, das sehr aktiv beteiligte Publikum und die Moderatorin, die das Publikum bei der Stange und bei Laune hält. Denn bei der großen Anzahl der Präsentationen in sehr unterschiedlicher Qualität, trägt sich die Veranstaltung nicht ganz von alleine. Poetry Slam lebt vom gesprochenen Wort, aber auch, und das wird schnell klar, von der Kunst der Präsentation. Für die Beiträge beim Poetry Slam gibt es keine formalen und inhaltlichen Vorgaben. Von der eigenen Befindlichkeit bis hin zu gesellschaftskritischen Themen, von ernsthaft bis satirisch, komisch, unsinnig….lyrische Reime oder ungereimte Prosa – alles ist erlaubt!

Haidy Zakaraya, die Gründerin des Poetry Slam in Ägypten, möchte vor allem der Dichtung und Literatur eine Bühne, ein Forum  schaffen. Die junge Frau, zur Zeit noch Masterstudentin an der American University Cairo (AUC), hat sich schon früh der Dichtung verschrieben. Sie fand allerdings in Ägypten keine Möglichkeit, kurze Texte einfach zu veröffentlichen oder vorzutragen. Für sie stellt der Poetry Slam die ideale Form dar, sie ergriff die Initiative, sammelte seit 2008 zunächst per facebook, Mail und persönlicher Ansprache Gleichgesinnte für ihr Vorhaben, „the word project“. Im November 2013 publizierte das frischgebackene Team eine eigene facebook-Seite, über die der erste Poetry Slam Ägyptens im Februar 2014 organisiert wurde.

Haidy Zakaria bei "The word Project"

Heute zählen ca. 100 Slammer im Alter zwischen 14 und 60 Jahren zu der Gruppe von „the word project“. Einmal im Monat trifft man sich z.B. im Madaar, einem Kulturclub in Maadi, im Antique Khana auf Zamalek oder im Bikyaa Büchercafè in Nasr-City zu Workshops oder Wettbewerben. Teilnehmer aus anderen Gouvernoraten sind selten. Haidy und ihr Team möchten künstlerische Begabungen fördern und den Poetry Slam aus dem Untergrund holen. Poesie soll wieder ein lebendiger Teil der ägyptischen Kultur werden. Die Pionierin des Poetry Slam in Kairo erinnert an die alten arabischen Traditionen der großen Dichterwettstreite aus der vor- und frühislamischen Zeit.

Youssef Nader auf Arabisch bei "The word Project"

Für Haidy stellt der Austausch des gesprochenen Wortes zudem eine wunderbare Möglichkeit dar, dass Menschen gemeinsam kreativ sein können. Dazu werden auch Musik und Bilder in die schöpferischen Prozesse einbezogen. Haidy und ihre Mitstreiter arbeiten ehrenamtlich, wünschen sich für ihr ambitioniertes Projekt jedoch mehr Unterstützung und Interesse. Gute Kontakte haben die ägyptischen Slammer mit der aktiven Szene in Dubai. Seit 2015 besteht der  Kontakt mit der DEO. Hier nahm der Poetry Slam Einzug mit Hanan Nadine Gröger, einer begeisterten Slammerin aus Deutschland, die ein Schulpraktikum an der deutschen Schule in Kairo absolvierte, und den Grundstein für eine enge Zusammenarbeit zwischen „the word project" und den DEO-Slammern legte.

Auch das Goethe-Institut unterstützt „the word project" und den Poetry Slam in Ägypten. Es veranstaltete mit ihnen einen Workshop in Mansoura. Zur internationalen Buchmesse in Kairo im Februar 2017 war Pierre Jarawan, einer der besten deutschsprachigen Bühnen-Poeten, zu Gast im Goethe-Institut Kairo, wo er einen deutsch-ägyptischen Workshop leitete, bei dem sowohl das Dichten als auch das Präsentieren der Texte auf dem Plan standen.

Pierre Jarawan bei einem Auftritt 2012 in Deutschland

Bereits im April 2008 hatte das Österreichische Kulturforum Kairo in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Ägypten, der Deutschen Botschaft sowie der Schweizerischen Botschaft einen Workshop mit der in Wien gebürtigen Poetin Yasmin Hafedh angeboten, der in Poetry Slams in Kairo, Alexandria und Sohag präsentiert wurde.

Verwundert über das deutschsprachige Engagement? In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" vom 22.05.2014 konstatiert Maria-Xenia Hardt, dass Poetry Slam nirgendwo in Europa erfolgreicher ist als in Deutschland. Die slamily, wie sich die Community der Slammer nennt,  ist ein dicht geknüpftes Netzwerk mit engen persönlichen Kontakten auch in die deutschsprachigen Nachbarländer. Laut Wikipedia sind über 2000 Slammer registriert, mehr als 300 Poetry Slams mit fantasievollen Namen wie „SprechReiz“, „Slamschlacht“, „Reimstein“, „Satznachvorn“ oder „Slammassel“ finden regelmäßig statt, teilweise in kleinen Kneipen, aber auch in Opernsälen, wo über 1000 Zuschauer pro Veranstaltung erreicht werden.

2016 wurden die deutschsprachigen Poetry Slams in das von der UNESCO mitgetragene Bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. Als wichtiger Bestandteil deutscher Kultur werden deshalb auch bekannte Slammer von den Kulturinstituten im Ausland vorgestellt, wo sie Workshops leiten und auftreten. Ca. 20 bis 30 von ihnen gelten als professionelle Slammer-Stars, die von ihren Auftritten, Workshops und Veröffentlichungen leben. Ihre Texte werden teilweise schriftlich veröffentlicht, wesentlich sind aber das gesprochene Wort und seine Präsentation. Besonders beliebt beim deutschsprachigen Publikum sind satirische und komödiantische Beiträge.

Der bekannte deutsche Slammer Lars Ruppel mit "Holger, die Waldfee"

Seinen Ursprung hat der Poetry Slam allerdings in Amerika, wo laut Wikipedia der erste Poetry Slam am 20. Juli 1986 stattfand. Der „Uptown Poetry Slam", die älteste Poetry-Show Amerikas, entwickelte sich aus einer Varietee-Veranstaltung des Performance-Poeten Marc Kelly Smith, dem die hergebrachten Lesungen zu öde wurden. Literatur für und mit jedermann! Der ursprüngliche Impuls war die direkte Ansprache des Publikums, das durch seine Beteiligung Teil des künstlerischen Ereignisses wird. In Abgrenzung von traditionellen Kultureliten sei Slam „das Paradebeispiel für die Demokratisierung der Kunst“, so Bob Holman in einem 2000 in San Francisco erschienenen Beitrag „The Room" in: Gary Mex Glazner (Hrsg.): Poetry slam. The competitive art of performance poetry.

In Ägypten hat der Poetry Slam mittlerweile einen Fuß, wenn auch in einem nur schmalen Türspalt des Kulturbetriebs, „the word project" ist offiziell registriert und steht allen offen. Bisher gibt es auch keine Schwierigkeiten, weil die Poeten als kleine Gruppe ohne politische Ambitionen gelten. Damit es dem Projekt jedoch gelingt, die Tür weiter aufzustoßen, braucht das ehrenamtliche Team um Haidy Zakaria noch viel Unterstützung.