Ali Selim gilt als der beste Künstler unter den Teppichwebern des von Wissa Wassef 1952 gegründeten Art Centers in Harraneya, einem Dorf zwischen den Gize-Pyramiden und Sakkara. Seine in Wolle gewebten Werke sind in Ägypten und verschiedenen Museen weltweit ausgestellt und bezaubern ihre Betrachter durch Farbenpracht und überwältigende Detailfreude.
Ali Selim an seinem Webstuhl in Harraneya © Roshanak Zangeneh
Der heute 66jährige Ali sitzt bescheiden in eine graue Galabeya gekleidet an seinem Webstuhl. Das kleine Atelier mit schlichten braunen Lehmwänden befindet sich in einem traditionellen von einer Kuppel überwölbten Lehmhäuschen, das er sich mit seiner Kollegin Lutfeiya teilt. Auf seinem einfachen hölzernen Webrahmen entstehen die Anfänge eines Teppichs „über die Menschen in Ägypten“, eine Moschee und eine Kirche sind bereits erkennbar.
Der junge Ali Selim mit einem frühen Werk © Wissa Wassef
Ali Selim kam mit sieben Jahren 1958 in das Kunstzentrum und gehört zur sogenannten 1. Generation der Weber, die von seinem Gründer Wissa Wassef persönlich angeleitet wurden. Seine Werke wurden im Victoria and Albert Museum in London und in der Withworth Art Galery an der Universität von Manchester ausgestellt. In der Ausstellung vor Ort bewundern wir später sein monumentalstes Werk: Ein überdimensionaler dreiteiliger 2,30 x 7 Meter großer Teppich mit dem Titel „Ägyten“, auf dem sich mit verblüffender Genauigkeit die ägyptische Kulturlandschaft von der Mittelmeerküste im Norden bis nach Assuan im Süden ausbreitet. Der Teppich ist eine Kopie, das Original entstand in den Jahren 1991 bis 1993 für das Büro des früheren Präsidenten Hosny Mubarak.
Ägyptens Landschaft auf dem über 7m langen Teppich © Roshanak Zangeneh
Ali liebt die Weberei, sie „liegt mir im Blut – das Zentrum ist mein eigentliches Zuhause“, befindet er nach 60 Jahren am Webstuhl. Bedauerlich findet er, dass es aufgrund der wirtschaftlichen Lage keine Reisen mehr für ihn gibt. Eine Nilkreuzfahrt in jungen Jahren hat ihn zutiefst beeindruckt und ist ihm bis heute in Erinnerung.
In einem benachbarten Raum sitzt Alis Tochter Mona vor ihrem Rahmen, auf dem ein Seebild mit farbenprächtigen Blüten und Tieren entsteht. Die 40jährige Künstlerin und Mutter von drei Kindern ist seit 30 Jahren im Zentrum. Sie gehört zu den jüngeren Webern der sogenannten 2. Generation, die von Wissa Wassefs Tochter Suzanna angeleitet wurden. Suzanna Wissa Wassef experimentierte auch mit Baumwolle, wodurch fein ziselierte pastellfarbene Bilder entstehen.
Zu den jüngeren Webern gehört auch der 48jährige Sayed Mahmoud, der mit zehn Jahren seine Künstlerlaufbahn begann und dessen Werke im British Museum und im Petri-Museum in London ausgestellt wurden. Diese Ausstellungen, an die sich die Weber voller Stolz erinnern, sind Höhepunkte in ihrem Leben.
Sayed Mahmoud webt ein Blumengemälde © Roshanak Zangeneh
Wie alle anderen Künstlerinnen und Künstler stammt Ali aus dem Dorf Harraneya, wo er bis heute mit seiner Frau und seinen acht Kindern und deren Familien wohnt. Und wie alle anderen lebt er in der dörflichen Gemeinschaft mit ihrer traditionellen Kultur und überlieferten Gebräuchen. Trotzdem bilden die Weber eine eigene Gemeinschaft, das Kunst-Zentrum ist ihre zweite Familie und im Dorf „sind wir etwas Besonderes“, so die Künstlerin Nadja.
Soraya Hassan, 51 Jahre, vor ihrem Baumbild © Roshanak Zangeneh
Das Weben von Teppichen gehört zu den traditionellen Handwerken in Ägypten: Einfarbige oder mit geometrischen Mustern geschmückte für den Boden oder zumeist bunte als Wandschmuck. Dem Gründer Wissa Wassef ging es von Anfang darum, Kinder zu fördern, sowohl durch die handwerkliche Seite als auch die individuelle kreative Darstellung von Bildern. Damit die Vorstellungskraft und Phantasie der Kinder entwickelt wurde, unternahmen er und seine Frau Sophie häufig Ausflüge mit den Kindern an den Nil, in die Stadt, in den Zoo, die Wüste und ans Meer. In dem Maße wie die Kinder ihre technischen Möglichkeiten entdeckten und weiterentwickelten, verstärkte sich auch ihre Ausdrucksfähigkeit und ihre individuellen Stile kamen zum Vorschein. Für Wissa Wassef - Architekt, Handwerker und Künstler - war es die höchste Ausprägung von menschlicher Freiheit, wenn ein Kind seine Kreativität ausleben darf. „In diesem Sinne ist es wichtig, dass Weber ohne vorherigen Entwurf oder eine Skizze direkt beim Weben ihre Vorstellung zum Ausdruck bringen“, betont Suzanna. Sie führte zusammen mit ihrer Mutter Sophia und ihrer Schwester Yoanna das Werk ihres Vaters Wissa Wassef fort, nachdem er 1974 verstorben war.„Unsere Weber sind unbeeinflusst von der Kunst anderer. Sie finden ihre eigene Kreativität“, erklärt die Tochter des Gründers. Vor allem werden sie sich bewusst über ihr „künstlerisches Auge“ und haben Freude an ihrem Schaffen. Für ihre Werke brauchen sie sehr viel Zeit. Da sie ohne Entwurf arbeiten und immer nur das kleine Stück vor Augen haben, an dem sie gerade weben, verändern sich die Technik, die Wahrnehmung und die Darstellung in einem einzigen Teppich, z.B. kommt nach einiger Zeit eine andere Perspektive hinzu. „Als Mentoren unterstützen wir die Kindern dabei, ihre Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln. Wettbewerb wird dabei bewusst vermieden, indem die individuellen Stärken hervorgehoben werden. Kreativität und Phantasie werden mehr belohnt als Qualität und Menge“, erläutert uns Suzanna. Allerdings würden Kinder, wenn man sie sich völlig selbst überließe, monoton und müde. „They tie themselves“, verdeutlicht Suzanna ihre Erfahrungen. Sie würden sich dann nur auf bestimmte Motive oder eine bestimmte Technik konzentrieren. Die Aufgabe der Mentoren sei, sie zu ermutigen und Impulse zu geben, damit sie Neues ausprobieren. Als ungünstig habe sich über die Jahre die Aufnahme von Kindern erfahrener Weber und Erwachsener erwiesen. Denn Kinder würden gern ihre Eltern imitierten und Erwachsene müssten „zuerst ihre Kindheit wiederentdecken“, bevor sie als Künstler ihre individuelle Ausdrucksweise fänden, begründet Suzanna.
Die Entwicklung des kreativen Potenzials und der handwerklichen Fertigkeiten lässt sich in der Ausstellung in Harraneya an vielen Beispielen verfolgen. Von vielen Künstlerinnen und Künstlern sind Kreationen aus ihren verschiedenen Lebensphasen ausgestellt. Faszinierend ist zu beobachten, wie sich die Fähigkeiten eines Künstlers während der Anfertigung eines Teppichs ändern.
Ein wunderbares Beispiel sind unter anderem die Teppiche von Gariya Mahmoud in ihren verschiedenen Phasen: Als Elfjährige webte sie einfache Tiere, den Hühnerhof erschuf sie im Alter von 30 Jahren, den Papyrus mit Reihern mit 40 und den Marktplatz mit 50 Jahren.
Fotostrecke | 4 Fotos
Buntes Markttreiben
Buntes Markttreiben
Buntes Markttreiben
gewebt mit 50 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 50 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 50 Jahren von Gariya Mahmood
Papyrus mit Reihern
Papyrus mit Reihern
Papyrus mit Reihern
gewebt mit 40 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 40 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 40 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 30 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 30 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 30 Jahren von Gariya Mahmood
Hühnerhof
Hühnerhof
Hühnerhof
gewebt mit 11 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 11 Jahren von Gariya Mahmood
gewebt mit 11 Jahren von Gariya Mahmood
Einfache Tiere
Einfache Tiere
Einfache Tiere
Wenn Suzanne und ihr Ehemann Ikram Besuchern ihre große Sammlung bezaubernder Teppiche von unsagbarer Schönheit, in sehr eigenen Stilen und mit an Wimmelbilder erinnernde liebevoll gestalteten Details vorstellen, spürt man Stolz auf die künstlerischen Fähigkeiten, die sich in ihrer Obhut herausbilden konnten.
Dabei war Wissa Wassefs Anliegen zu Beginn gar nicht die künstlerische Entwicklung der Kinder und Jugendlichen. Ihm ging es in erster Linie um die Emanzipation der Menschen. Denn künstlerische Entwicklung bedeutet Emanzipation insbesondere für Frauen. Neben der Förderung kreativer Potenziale bot Wissa Wassef damals den Frauen in dieser abgelegenen Gegend erstmalig die Gelegenheit selbstständig außerhalb des Hauses zu arbeiten und Geld zu verdienen. Wissa Wassef und seine Frau Sophie Habib bezogen von Anfang an auch die Mütter des Dorfes ein. In den 60er Jahren wurde im Zentrum ein Kindergarten für die Kleinsten eingerichtet. Unter Anleitung von Sophie betrieben die Mütter eine Kantine und lernten dabei vieles über Hauswirtschaft und gesunde Ernährung. So errangen sie Bedeutung im familiären und dörflichen Umfeld. Allerdings gab es auch immer wieder Konflikte zwischen finanziellen Interessen und künstlerischer Entwicklung. Auch unterscheiden sich Kultur und Tradition im häuslichen Lebensumfeld der Weber völlig. Ihre Werke passen nicht zum dörflichen Stilempfinden und Wissa Wassefs Philosophie der Förderung des Individuums kollidiert mit der dörflichen ägyptischen Kultur, in der jeder Mensch vor allem in einer Gemeinschaft definiert wird.
Vieles hat sich in dem Kunst-Zentrum und seiner Umgebung verändert. Früher war Harraneia ein abgelegenes, fast unberührt zu nennendes Dorf in ursprünglicher Natur zwischen Jahrtausende alten Pyramiden. Heute überragen zwölfstöckige Häuser die Mauer, die Lehmhäuschen und den Garten dieser Oase, der von außen hereintosende Lärm der Autos, Maschinen und Menschen übertönt oftmals die Vögel.
Suzanna Wissa Wassef und Ikram Nosshi in ihrem Zentrum © Roshanak Zangeneh
Fragt der bisher fasziniert den Ausführungen lauschende Besucher schließlich verwundert, wo denn der künstlerische Nachwuchs bleibe, mischt sich in den Stolz der Gastgeber Wehmut und Sorge. Neue Kinder werden im Zentrum seit einiger Zeit nicht mehr aufgenommen, denn ehemals unberührte dörfliche Strukturen haben sich verändert. Informelle Siedlungen und Hochhäuser umzingeln das Zentrum, insbesondere verändern technologische Entwicklungen im Bereich der Medien die Menschen in ihrer Kreativität. Auch sei die wirtschaftliche Grundlage des Zentrums zusammengebrochen. „Seit der Revolution sind Verkäufe und Einkünfte um mehr als 60% gesunken“, bedauert Ikram. Es gebe spürbar weniger Tourismus, wobei nicht Massentourismus, sondern Individualtouristen mit Interesse an künstlerischen Arbeiten die wichtigsten Kunden darstellen. Auch die Zahl ausländischer Experten sei in Kairo stark zurückgegangen. Überwiegend lebt das Zentrum jetzt von internationalen Filialen und Ausstellungen. Ihre besondere Herausforderung ist, den verbliebenen 32 Künstlerinnen und Künstlern ihren Arbeitsplatz und ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dieser Aufgabe haben sich Suzanne Wissa Wassef und ihr Ehemann Ikram Nosshi verschrieben.