Die Walcker-Orgel in Kairo ist eine Königin unter ihresgleichen. Und den Organisten Stefan Kießling darf man sicherlich als einen ihrer Liebhaber bezeichnen. Treffen sich beide zu einem Rendezvous, gibt es ein ganz besonderes Konzert. So geschehen in Bulak im Rahmen der Frühlingskonzerte der Deutschen Evangelischen Gemeinde in Kairo und Ägypten im April.

Das Rendezvous

Erwartungsvoll setzt Stefan Kießling sich auf die Bank: Gleich finge  sie an, in ihrer ganzen Schönheit zu singen und zu klingen. Er freut sich darauf und ist stolz, ihr so nah sein zu dürfen. Vorsichtig, fast zärtlich legt der Organist seine Finger auf ihre Tasten. Für den Anfang hat er etwas Gemäßigtes ausgewählt, was sie beide noch nicht zu sehr fordert: Johann Sebastian Bachs Sinfonia aus der Kantate BWV 29 „Wir danken dir, wir danken dir“, für Orgel,  bearbeitet von Alexandre Guilmant, sowie die Sonate Nr. 5 C-Dur, BWV 529. Der Liebhaber bewegt die Finger bewusst, artikuliert durchdacht und differenziert, wodurch er die Strukturen des Stückes hervorhebt und diese luftig und transparent erscheinen. Die Königin singt zart.

Dann wird es bewegter. Die Walcker-Orgel kann sich in ihrer ganzen Pracht im Kuppelklangraum der Kirche entfalten, denn bei den romantischen Sonate Nr. 4 B-Dur, op. 65/4 von Felix Mendelssohn Bartholdy  und Cesar Francks Prelude, Fuge et Variation op. 18 zieht Stefan Kießling alle Register. Die Orgel jubiliert farbig, abwechslungsreich, flötet gleichzeitig sanft.

Doch bei dem Werk „Variationen über das chinesische Lied ´Groß ist deine Barmherzigkeit´" der chinesischen Komponistin Lee Wai-shan scheint sie unentschlossen. Zwar lässt Kießling seine Finger in asiatisch klingenden Scalen über ihre Tasten laufen, doch wirkt unsicher, ob sie sich bei dieser postmodernen Komposition entsprechend zeitgenössisch mit fremdartigen Klängen  oder weniger modern und eher bieder präsentieren soll.

Dann aber kommt ein Feuerwerk. Die Königin darf in dem bekanntesten Orgelwerk von Johann Sebastian Bach, der Toccata und Fuge d-Moll, jubilieren. Kießling lebt seine Fantasie aus, so wie es damals der große Meister Bach sicher gewollt hätte. Er musiziert wie ein Gaukler mit allen Körperteilen: Die Finger schnellen über die Tasten, sein Oberkörper bewegt sich zur Musik, er bewegt den Kopf nach unten, um seine Füße zu sehen, die das Pedal traktieren und flink darüber hinweg laufen. Durch seinen ganzen Körpereinsatz kann die Königin sich ausleben und allen zeigen, was für eine beeindruckende Symbiose Königin und Liebhaber eingehen.

Der Gaukler an der Orgel © Roshanak Zangeneh

Der Liebhaber

Stefan Kießling, geboren 1980 in Görlitz, betont mehrmals, dass er „immer sehr viel Ehrfurcht   vor dem Instrument“ Orgel, der Königin der Instrumente, hatte. „Damals, als ich … ein kleines Kind war, kam mir das so vor wie etwas Großartiges, Unerreichbares.“, erzählt Stefan Kießling heute. Damals, als er zuerst mit sechs Jahren Klavier- und mit 10 Jahren dann Cembalounterricht bekommen hatte. Er kam aus einer Musikerfamilie, jeder spielte ein Instrument, Flöte, Geige, Klavier. Aber die Orgel seiner Stadt hatte er immer nur in der Kirche von weitem bewundert aufgrund ihrer Größe und „Raumfülle“. Sie war für ihn „ein Instrument für Leute, die wirklich Könner sind“. „Deshalb habe ich mich lange nicht getraut, ihn (den damaligen Cembalolehrer, der gleichzeitig Kantor war) mal zu fragen, ob ich auch mal Orgel spielen darf, und irgendwann habe ich dann doch den Mut gehabt … Seitdem habe ich nur noch Orgelunterricht gehabt.“ Dieser Moment sollte sogar später seinen Lebensplan verändern: Denn als er mit 15 Jahren das erste Mal bei der Orgel stand, sich zu ihr setzte, die Finger auf ihre Tasten legte, begann eine immer stärker werdende Vertrautheit und Liebe. „Das wurde peu a peu immer mehr.“ Später wusste er, dass er sein Leben lang bei ihr bleiben würde. Er studierte nicht Naturwissenschaften, wie ursprünglich fest geplant, sondern Orgel in Leipzig. Diese stärker werdende Verbundenheit mit der Orgel gehört für ihn zu den Geheimnissen seines Lebens. „Darüber rätsel ich heute selber auch noch. Was genau dazu geführt hat, weiß ich nicht. Ich kann darüber nur spekulieren.“ Als Konzertorganist trifft Stefan Kießling später Königinnen in der ganzen Welt: in Westminster Abbey, in Washington in der National Cathedral oder in New York City in der St. Thomas Church. Er empfindet  es „als Geschenk“, die verschiedenen Orgeln besuchen und in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit kennen lernen zu dürfen.

Heute hat er sich ihr voll und ganz verschrieben: Er ist u.a. freischaffender Konzertorganist, gibt Kurse für angehende Konzertorganisten und ist Assistenzorganist an der Thomaskirche zu Leipzig, also in einer der bekanntesten Kirchen der Welt, in der schon Johann Sebastian Bach wirkte und heute der berühmte Thomanerchor oder das Gewandhausorchester zu hören sind, was für ihn ist  „eine besondere Ehre und Freude“ darstellt.

Ein großer Organist an seinem Lieblingsinstrument © Roshanak Zangeneh

Die Königin 

Die Kairoer Königin hatte lange geschlafen. Viele Jahre war sie in der Kirche der evangelischen Gemeinde in Kairo im Stadtteil Bulak stimm- und klanglos geblieben. Sie ist das einzige in dieser Region noch existierende Instrument dieser Art und 2012, zum 100. Jahrestag der Kirche, sollte sie wieder erklingen. Dafür reiste der Urenkel ihres Erbauers höchstpersönlich aus Deutschland an. Gerhard Walcker-Mayer, der weltweit die von seinem Urgroßvater aufgebauten Orgeln restauriert, kam mit seinem Sohn und einem Mitarbeiter nach Kairo. Sieben Monate renovierten sie das Instrument, das in Deutschland unter Denkmalschutz gestellt worden wäre. Von den 1250 Pfeifen mussten 300  erneuert werden. Jedes zu ersetzende Teil wurde originalgetreu nachgebaut. Und pünktlich zu den Jubiläumsfeiern konnte so auch die Kairoer Königin zur Freude aller Besucher wieder jubeln.

Diese große Operation war notwendig geworden, da sie eine alte Dame Baujahr 1911 ist: Sie ist eine spätromantische Orgel mit deutschen Wurzeln. Oscar Walcker, einer der seinerzeit weltweit renommiertesten Orgelbauer mit einem bereits 1780 gegründeten Orgelbaubetrieb, hatte ihr 1911 im baden-württembergischen Ludwigsburg das Leben eingehaucht. Er verschiffte sie, damit sie im Februar 1912 den Hafen von Alexandria erreichen und bei der Eröffnung der neuen evangelischen Kirche im April 1912 in Bulak/Kairo eingeweiht werden konnte. Denn in einer Zeit, in der viele Europäer nach Ägypten kamen, um sich niederzulassen, war auch die Gemeinde der Deutschen größer geworden. Daher benötigte man eine neue Kirche, in der ein für die damalige Zeit hochmodernes Instrument eingebaut werden sollte, das dem Orgelklang eines „dynamischen Orchesters“ entsprach und damit dem spätromantischen Klangideal angepasst war. Dies erfreute sich um die Jahrhundertwende weltweit großer Beliebtheit. So besitzt die Kairoer Königin berauschend feine Klangfarben, ein Fernwerk, das die Töne in die Kirchenkuppel steuert und so einen voluminösen Kuppelklang erzeugt, oder eine „Vox Humana", das Register, das die menschliche Stimme nachahmen soll. Sie zählte mit 17 Registern zu den großen Orgeln. Ein baugleiches Modell wurde in der Hamburger Michelskirche aufgestellt. Sie kostete 9130 Reichsmark und war damals schon eines der teuersten Instrumente der Welt.

Ihre Auferstehung verdankt die Kairoer Königin vielen Unterstützern. Christen und Muslime spendeten Geld für die Restaurierung, so dass sie auch als ein Symbol für die glaubensverbindende und –überzeugende Kraft der Musik aufgefasst wird. Das Auswärtige Amt, deutsche Firmen, reiche ägyptische Geschäftsleute, Gemeindemitglieder, Freunde der Gemeinde, sogar Schüler, die ihr Taschengeld spendeten, trugen in einem gemeinsamen Akt dazu bei, dass diese bezaubernde Königin heute wieder die Zuhörer erfreut und immer wieder ausländische Organisten um ein Rendezvous mit ihr bitten.