Die Deutsche Seemannsmission (DSM) betreibt in 17 deutschen und 20 ausländischen Häfen Stationen. Am Mittelmeer sind es Genua in Italien, Piräus in Griechenland und Alexandria in Ägypten. Papyrus hat den Leiter der Station Alexandria Markus Schildhauer interviewt.
Herr Schildhauer, seit wann sind Sie Leiter der Station Alexandria?
Ich bin mit meiner Frau im September 2014 nach Alexandria gezogen. Seit dieser Zeit versuchen wir, in Alexandria Ankerplatz sowohl für die Seeleute, wie auch die im Land lebenden Deutschen zu sein. Die konkrete Hafenarbeit konnte leider erst im 2. Halbjahr 2015 starten, da Ägypten eine rund 5000 Jahre alte Verwaltungserfahrung hat und diese leidlich ausnutzt. Wir mussten sehr lange auf die Ausstellung der Dokumente warten, die uns das Betreten des Hafens und der Schiffe ermöglichen.
Was hat Sie bewegt, Mitarbeiter bei der Seemannsmission zu werden?
Die Seemannsmission habe ich 1995 in Douala kennen und schätzen gelernt. Wir waren damals als Entwicklungshelfer in Kamerun, und das Seemannsheim war in dem afrikanischen Umfeld unser Ankerplatz vor Ort. Auch haben wir dort zum ersten Mal von den Inhalten der Arbeit erfahren. Wir planten, zum Abschluss unseres Berufslebens noch einmal ins Ausland zu gehen, und die Seemannsmission war immer unser absoluter Wunschpartner.
Und wieso gerade Ägypten?
Zum einen, weil da gerade eine Stelle frei war, zum anderen aber auch, weil hier das Spannungsfeld Christentum – Islam, die Lebens- und Arbeitssituation eine echte Herausforderung sind.
Wie sieht Ihre Arbeit in der Seemannsmission denn konkret aus?
In Ägypten können Seeleute den Hafen nur sehr schwer verlassen. Entweder sind die Liegezeiten zu kurz oder sie bekommen auch bei längeren Aufenthalten keinen Shorepass. Dadurch sind meine Besuche an Bord sehr willkommen und wichtig. Ich besuche nahezu täglich Menschen an Bord, unabhängig von Nationalität und Religion. Natürlich werden die deutschen Seeleute bevorzugt besucht, alle anderen nach meinen Kapazitäten, denn ich bin in Alexandria allein in dieser Arbeit. Neben allgemeinen Themen wie Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord, persönlichen Problemen aufgrund der langen Trennung von Heimat und Familie oder Spannungen an Bord komme ich mit den Seeleuten fast täglich auf die zwei hier vorherrschenden Themen Flucht und Piraterie.
Wieso das Thema Flucht?
Alexandria ist einer der Hauptausgangspunkte von Fluchtschiffen aus dem östlichen Mittelmeer. Nahezu täglich gehen entweder kleinere Schiffe in Richtung Libyen, wo dann die Passagiere in größere Schiffe umgeladen werden, oder auch direkt nach Europa los. Die Seeleute werden mit diesem Thema entweder direkt durch Rettungsmaßnahmen oder indirekt durch die Furcht vor schlimmen Bildern und Erfahrungen konfrontiert.
Das Thema Flucht und Handelsschifffahrt – wie kommen Sie denn darauf?
Gleich nach meiner Ankunft in Alexandria bekam ich einen Anruf eines deutschen Kapitäns, der kurz vorher flüchtende Menschen auf einem defekten Boot bergen musste. Seine Erlebnisse und die Bilder belasteten ihn so sehr, dass er jemanden brauchte, um sich die Last von seiner Seele zu schaffen. Dies wiederholte sich in den Folgemonaten immer wieder, und seitdem ich Menschen an Bord besuchen kann, werden die Gespräche wesentlich intensiver.
Was erfahren Sie dann von den Seeleuten?
Man kann die Seeleute in zwei Gruppen einteilen. Die Gruppe der Retter und die Gruppe der Verängstigten. Die Retter haben bereits entweder Menschen an Bord genommen, gesichert oder auch „nur“ Menschen und Gegenstände im Meer treiben sehen; die Gruppe der Verängstigten hat davon erfahren und es beschäftigt sie zunehmend, selbst mit hilflosen Menschen im Wasser konfrontiert zu werden. Gerade die letzte Gruppe ist stark wachsend.
Aber was erleben die Seeleute denn so Schlimmes bei der Rettung?
Stellen Sie sich vor, Sie werden um Hilfe gerufen, kommen vor Ort an und allein durch Ihre Anwesenheit geschehen Unglücke. So passiert es den Seeleuten immer wieder, dass bei der Bergung die Fluchtschiffe kentern oder untergehen und damit viele Menschen ins Unglück stürzen. Es ist vorgekommen, dass alle auf einem Boot befindlichen Menschen auf eine Seite gelaufen sind, um auf sich aufmerksam zu machen, das Boot hat Schlagseite bekommen und ist untergegangen. Das sind Bilder, die sie nie wieder loswerden und die sie im Traum verfolgen. Selbstverständlich ist es den Seeleuten bewusst, dass ihre Handelsschiffe nicht zur Rettung ausgerüstet sind, also z.B. es zu wenige Schwimmwesten gibt. Dennoch stellen sie sich nach einem Unglück immer wieder die Frage: Hätten wir etwas besser machen können? Auch ist es manchmal die nicht durchgeführte Rettung, die die Seeleute belastet. So kenne ich einen Kapitän, der nach Rückfrage mit seiner Reederei ein weiter entferntes Schiff nicht retten durfte, weil auch andere auf dem Weg waren und der Umweg von 3 Stunden durch die Reederei nicht akzeptiert wurde. Später erfuhr er, dass das Schiff untergegangen ist und nun steht er mit großen Zweifeln da.
Wie wirkt sich das dann auf die Seeleute aus?
Angefangen von Schlafstörungen bis hin zu massiven depressiven Stimmungslagen gibt es das gesamte Spektrum der inneren Auseinandersetzung. Untereinander sprechen die Seeleute nur sehr selten über Erlebtes oder ihre Ängste. Das machen wir ja auch nicht mit unseren Arbeitskollegen, die vielleicht noch aus einem anderen Land kommen.
Wieso machen Sie das als Seelsorger? Gibt es keine professionelle Hilfe von Psychologen?
Auf den allgemeinen Rettungsschiffen und den Marineschiffen gibt es immer eine professionelle Begleitung. Auf den Handelsschiffen nie, denn ihr Auftrag ist ja nicht die Rettung, sondern der Transport. Daher sind Begleitungen dieser Art nicht vorgesehen und die Seemannsmission ist eine der wenigen Anlaufmöglichkeiten für die Seeleute.
Welche Rolle spielt denn dabei die Reederei?
Im Moment leider keine. Wir würden uns wünschen, dass bei entsprechenden Fällen jemand sofort danach an Bord gesendet würde. Seeleute haben zwar eine harte und raue Schale, aber der Kern ist oft viel weicher als wir annehmen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft mir im Hafen bei Besuchen die zur Verfügung stehende Zeit nicht ausreicht. Wie groß das Mitteilungsbedürfnis ist, wie sehr die Ängste das Tagesleben beeinträchtigen. Bei Gesprächen mit Reedereien stellen wir immer wieder fest, dass diese nichts von ihren Seeleuten in dieser Hinsicht erfahren. Wer von uns würde seinem Arbeitgeber oder dem Kollegen erzählen, dass es uns nicht gut geht, dass wir seelische Probleme haben?
Was tun Sie neben den Gesprächen, um das Thema zu verarbeiten?
Ich biete Seeleuten, die dann doch den Hafen verlassen dürfen, immer Fahrten zu den Pyramiden oder in die Wüste an. Ich versuche, diese Angebote durch Spenden und zusätzliche Einnahmequellen zu finanzieren, damit das für die einfachen Seeleute auch machbar ist. Diese Ausflüge sind ein echtes Highlight in ihrem Leben und lassen so manches Erlebnis vergessen.
Was wünschen Sie sich für Ihre weitere Arbeit?
Ein Wunsch wäre, mehr Zeit für die Gespräche zu haben. Oft sind die Liegezeiten zu kurz und eine Mitfahrt, z.B. durch den Suez-Kanal nur sehr schwer möglich. Leider bin ich aus Kostengründen alleine in Alexandria. So stehe ich immer im Zwiespalt zwischen Besuchen, Angeboten für Seeleute und der Organisation des Seemannsheimes. Natürlich wünsche ich mir auch für die Seemannsmission den großen „Lottogewinn“, also Firmen, die unsere Arbeit für so wichtig ansehen, dass sie uns finanziell so unterstützen, dass wir diese Arbeit, die nicht nur für die Seeleute wichtig ist, ohne Zukunftsängste und Einschränkungen bewältigen können.