Betrachtet man Kairos informellen Abfallsektor, die sieben Abfallverwertungsviertel im Großraum von Kairo, und die Arbeits- und Lebensbedingungen der zumeist koptischen Müllsammler und -sortierer (Zabbalin), so stellt man sich recht schnell die Frage, welche Perspektiven die Menschen vor Ort – und natürlich auch zukünftige Generationen – hier haben (werden); besonders in Zeiten, in denen Flüchtlinge, sichere Herkunftsländer und Wirtschaftsmigration zu Schlagworten deutscher und internationaler Medien geworden sind und Politiker darüber diskutieren, in welcher Form Fluchtursachen bekämpft werden können.

Geographisch liegen Kairos Verwertungsviertel oftmals nicht weit entfernt von gehobenen Wohnvierteln wie Muhandesin, 6.Oktober-Stadt oder Maadi; und doch liegen Welten zwischen den Bewohnern, ihren Lebensweisen und den unterschiedlich ausgestatteten Wohn- und Arbeitsvierteln.

Soziale Unterschiede sind heutzutage – besonders in Ägypten und in den vielen „sich entwickelnden Ländern“ dieser Welt – zur Normalität geworden. Die ungleiche Verteilung von Geld, Bildung, (Luxus-) Gütern und Privilegien prägt nicht nur die soziale Entwicklung eines Landes, sondern im Besonderen auch deren bauliche Entwicklung.

Die sich in Kairo schnell vollziehende Stadtexpansion (innerhalb der letzten 100 Jahre hat sich Kairos Stadtfläche mehr als verzwölffacht) führt(e) zu unterschiedlich verlaufenden, baulichen Entwicklungen:

Einerseits zu einer formellen (geplanten und vom Staat kontrollierten) Bebauung, welche sich heute zumeist in den um Kairo liegenden Wüstenstädten vollzieht, andererseits zu einer informellen (ungeplanten, im rechtlichen Sinne illegalen) Entwicklung, die sich zum Großteil der staatlichen Einflussnahme entzieht.

Den großflächig angelegten und dünn besiedelten formellen Vierteln mit ihren nach amerikanischem Vorbild angelegten „Gated Communities“, Luxuswohnungen, Villen, privaten Clubs und „Shopping Malls“ in Wüstenstädten stehen die vielen überbevölkerten informellen Wohnviertel der Hauptstadt gegenüber. Die charakteristischen roten Backsteinbauten informeller Gebiete entstehen oftmals auf wertvollem Fruchtland an den Rändern der Agglomeration.

Der Großteil von Kairos Bevölkerungszuwachses wird in informellen Siedlungen absorbiert. Geschätzte 60-70% der Großraumbevölkerung (>10 Mio. Menschen) bewohnt heute diese ungeplanten Siedlungen. Man kann davon ausgehen, dass dieser Trend – trotz enormer Baulanderschließungen in der Wüste und der Planung einer neuen Hauptstadt – sich fortsetzen wird, so dass informelle Gebiete stetig und ungeplant weiter wachsen werden.

Kairos informelle Siedlungen © Manshiet Nasser

Das Abfallverwertungsviertel Moytamadeia befindet sich in einer dieser informellen Siedlungen in Ard el Liwa. Auf der westlichen Nilseite und im Gouvernorat el Giza gelegen, entwickelte sich Moytamadeia seit Anfang der 1970er Jahre zentrumsnah auf privatem Fruchtland. In den Anfangsjahren lebten die koptischen Müllsammler und Sortierer mit ihren Familien unter katastrophalen hygienischen Bedingungen in Wellblechhütten direkt an ihrem Arbeitsplatz, an dem oftmals ein Pferch mit Schweinzucht angeschlossenen war. Erst die Errichtung von mehrstöckigen steinernen Wohnhäusern mit Infrastruktur rund um die Hütten in den 1980 und 1990er Jahren brachte die Trennung von Arbeitsplatz und Wohnbereich.

Heute zählen zur koptischen Mar-Girgis-Gemeinde in Moytamadeia etwa 5000 Familien. Schätzungsweise 10.000 bis 15.000 Personen stehen in Kontakt zum Abfallsektor und sind in die verschiedenen Arbeitsvorgänge des Müllsammelns und der Mülltrennung involviert.

Die Trennung der Haushaltsabfälle erfolgt innerhalb der Hütten; auf den Dächern und Wegen werden die sortierten Abfälle gelagert. In den umliegenden Wohnstraßen vollzieht sich in den Erdgeschossen der ein- bis zehnstöckig informell errichteten Häuser ebenfalls vereinzelt Abfallsortierung und deren Lagerung. Zwischenhändler und Sammelstellen für bereits sortierte Abfälle finden sich in der nahen Umgebung, ebenso wie einige Geschäfte, Dienstleistungsbetriebe, Imbisse und Cafés.

Nach den Schweinetötungen im Mai 2009 besitzen viele Zabbalin noch immer Tiere wie Ziegen, Hühner und Schafe, die neben den vielen Hunden und Katzen des Viertels in der Nähe des Gehöftes zu finden sind.

Während in der Vergangenheit Abfallverwertungsbereich und Wohnhäuser klar voneinander zu trennen waren, entsteht in jüngster Zeit im Arbeitsbereich eine Vielzahl an neuen mehrstöckigen Wohnhäusern. Die hohe Nachfrage nach bezahlbarem Wohnraum lässt die Abfallrecyclingflächen schwinden.

Einst von der im Westen gelegenen „Ringroad“ begrenzt, haben sich Moytamadeias Recycling- und Wohnbereiche auf der anderen Seite der Hauptverkehrsachse bereits auf die doppelte Fläche des einstigen Abfallverwertungsbereichs ausgeweitet. Alle neuen baulichen Entwicklungen vollziehen sich hier informell, also ohne staatliche Kontrollen, Bauvorschriften und ohne adäquate technische und soziale Infrastruktur.

Doch auch Moytamadeia befindet sich im Wandel. In den Anfangsjahren ausschließlich Lebens- und Arbeitsmittelpunkt für eine sehr arme, ausgegrenzte koptische Minderheit (oftmals mittellose Zuwanderer aus Oberägypten), findet man hier heute ein breiteres gesellschaftliches Spektrum: sehr arme Familien, die bereits generationsübergreifend mit der Sammlung und Sortierung von Abfällen ihre Existenz sichern und damit nicht selten weit unter der Armutsgrenze leben; bessergestellte Zabbalin (oftmals Grundbesitzer und Arbeitsvermittler im informellen Abfallsektor); aber auch Mittelklassehaushalte, die zum Teil erst später – auf Grund günstiger Häuser und Mieten – ins Viertel zogen, sowie Personen und Familien, die sich im Laufe der Zeit vom Abfallsektor lösen konnten und ihr Einkommen heute aus einem normalen Beruf in Kairo beziehen.

Während sich die Wohnsituation in Moytamadeia über die Jahrzehnte hinweg deutlich verbessert hat (steinerne Wohnhäuser, technische Infrastruktur wie Strom, Wasser, Abwasser, Straßenasphaltierung, Beleuchtung etc.), blieben die Arbeitsbedingungen weitestgehend unverändert.

Man findet nach wie vor eine Vielzahl an Familien und Kleinbetrieben, die ein sehr effektives Recycling per Hand betreiben. Wiederverwertungsraten liegen hier mit 80-90% etwa doppelt so hoch wie in der Bundesrepublik Deutschland. Dieser erfreuliche Wert ändert allerdings nichts an den katastrophalen, menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen.

Ohne Schutzkleidung und oftmals ohne Wasseranschluss am Arbeitsplatz findet man nicht selten ganze Großfamilien und auch Kleinkinder bei ihrer täglichen Arbeit im stinkenden Müll.

Oftmals ungebildet und ohne Möglichkeit eine andere Arbeit zu finden, bleibt vielen nur die Wahl zwischen Abfallrecycling und Arbeits-losigkeit. Bildung ist in Moytamadeia Mangelware. Staatliche Schulen und Kindergärten existieren nicht; ebenso wenig wie öffentliche Einrich-tungen und soziale Infrastruktur (Krankenhäuser, Gemeindezentren etc.).

Arbeitsbedingungen der Zabbalin © S. Drabinski

Trotz einer staatlichen Schulpflicht in Ägypten kann man davon ausgehen, dass viele Kinder in Moytamadeia keine Schule besuchen. Hierfür gibt es verschiedene Gründe: Zu wenige Schulen in der Umgebung mit zu geringen Kapazitäten, die mit der Ausbildung verbundenen Kosten, sowie der Umstand, dass Kinder nicht selten im Familienbetrieb beim Abfallrecycling mitarbeiten müssen. Der Staat ist im Viertel quasi nicht präsent. Lediglich die koptische Kirche, sowie einzelne private Initiativen und NGOs treiben Entwicklungen im Viertel voran und bieten mit einigen Bildungs- und Arbeitsangeboten eine kleine Alternative zum Abfallrecycling.

Maria Grabis © M. Schwerberger

Seit den 1980er Jahren wurden soziale und bauliche Entwicklungen in Moytamadeia auf Initiative der deutschen Ordensschwester Maria Grabis (gest. Okt. 2015) vorangetrieben. Schockiert über die Lebensumstände der Zabbalin, gründet sie im Jahre 1981 die Kooperative zur Entwicklung der Umwelt und begann gemeinsam mit den Menschen vor Ort das Viertel aufzuwerten. Beginnend mit einer Arzt- und Sozialstation sowie einer Näh- und Haushaltsschule folgte ein Jahr später ein Selbsthilfe-Siedlungsprojekt, bei dem Wohnhäuser für rund 350 Personen des angrenzenden Verwertungsbereichs erbaut wurden.

1988 wurde die private El-Salam-Schule errichtet und 1994 sowie 2014 nach reger Bautätigkeit erweitert. Im Sr.-Maria-Kindergarten werden zwei Klassen betreut und auf die Schule vorbereitet. Rund 450 Kinder werden aktuell in den beiden Bildungseinrichtungen unterrichtet.

Nähschule Moytamadeia © S. Drabinski




El-Salam-Schule © M. Schwerberger

Das am Meer liegende Gesundheitszentrum (Health Beach Camp) in Ras Sidr (Sinai) dient seit der Eröffnung im Jahre 1995 Familien aus Moytamadeia zur Erholung. Die 2013 wiedereröffnete Nähwerkstatt bietet Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen und Mädchen des Viertels.

So trostlos der Alltag und die Gesamtsituation in Moytamadeia auch scheinen mag; die Menschen haben gelernt sich selbst zu organisieren und ihre Umwelt im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu gestalten. Für Viele ist es ein täglicher Kampf um Geld, Arbeit und Lebensmittel. Familien müssen ernährt und Primärbedürfnisse erfüllt werden. Viele träumen hier von Anerkennung und sozialem Aufstieg. Die Realität sieht meist anders aus.

Wer die Möglichkeit hat, verlässt das Viertel. Dies trifft oftmals auf junge Menschen zu, die weiterführende Schulen und Universitäten besuchen und anschließend eine Arbeit in Kairo finden. Für diejenigen ohne Schul- oder Ausbildung ist es dagegen fast unmöglich, sich aus dem Dunstkreis des Abfallrecycling zu lösen.

Für die Zukunft bleibt zu hoffen, dass der ägyptische Staat sowie private und internationale Entwicklungsprogramme in unterschiedlichen Bereichen eine Verbesserung herbeiführen werden. Eine geregelte Stadtplanung, die Eindämmung der sich immer weiter ausbreitenden und ungeplanten informellen Bauten, eine verbesserte technische und soziale Infrastruktur, Gesundheitseinrichtungen, Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sowie eine Verbesserung der katastrophalen Arbeitsbedingungen der Zabbalin sind hierfür dringend notwendig.