Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend  in Alexandrien

Als der amerikanische Bürgerkrieg in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Süden der USA zur Verwüstung der Baumwollfelder und zum Zusammenbruch der Baumwollproduktion führte, gewann die Baumwolle Ägyptens stark an Bedeutung. Alexandrien, die Drehscheibe des ägyptischen Baumwollhandels, erlebte einen ungeheuren Boom. Diese wichtigste Stadtgründung Alexanders des Grossen war seit alters her bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auch eine europäische Stadt gewesen, bis zur Revolution in den 1950er Jahren mit Marseille oder Neapel vergleichbar.

In den späten 1950er und 1960er Jahren fand infolge der politischen Umwälzungen der Massenexodus der Ausländer aus Ägypten statt. Ein Gang durch die Gräber des britisch-protestantischen Friedhofs in Chatby weckt Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend in der Schweizer Kolonie von Alexandrien, die für mich von 1944 bis 1963 währte.

Gespräche beim Tee vor dem Wächterhäuschen. Hier im Bild der Autor mit Rösly Hilti. © Andreas Knoblauch

Betritt man den Friedhof durch das eiserne Eingangstor, bekommt man einen guten Überblick über das weite Gelände. Links und rechts des Eingangs stehen im Schatten grosser Bäume die Wächterhäuschen. Dort kochen die freundlichen Friedhofsgärtner dem Gast auch gerne einen Tee und es lässt sich im Schatten der Bäume trefflich über vergangene Zeiten, verstorbene Bekannte und über das Alexandrien von gestern und heute schwatzen. Das sorgfältig nachgeführte Register liegt dort auf und steht zur Einsicht zur Verfügung.

Das Verstorbenen-Register © Andreas Knoblauch

Geschichten von damals

Gleich neben dem Eingang ist Walter Hefti begraben - mein Pate. Er starb jung. Deshalb walteten seine Eltern für mich als „Paten". Die Eltern Johannes und Emma Hefti! Sie waren Säulen in der Landschaft meiner Kindheit. Er war in Schwanden, Kanton Glarus, aufgewachsen und sie, mit Mädchenname auch Hefti, im toggenburgischen Wattwil. Frau Hefti war klein und zierlich. Herr Hefti war von grosser, stattlicher Gestalt. Johannes Hefti war technischer Direktor der „Filature National“ in Alexandrien, einer landesweit bekannten Textilfabrik am Mahmoudiah Kanal. Tag und Nacht dröhnten die Motoren der mächtigen Industrieanlage gleich neben ihrem Wohnhaus.

Madeleine Knoblauch, Emma Hefti, Andreas Knoblauch, Johannes Hefti vor ihrem Weekend-Haus im Mariut. © Andreas Knoblauch

Johannes Hefti war von ähnlich dominierendem Charakter wie meine Mutter Madeleine Knoblauch-Wyss. Die beiden hatten eine Affinität zueinander, stichelten sich mit Leidenschaft und nahmen sich gegenseitig auf die Schippe. Als ich geboren wurde fragte Johannes Hefti meine Mutter: „Wie heisst er?“ „Clemens Lukas Andreas“, antwortete sie. „Ich heisse ihn Samuel“, gab er zurück. Seither heisse ich Sämi, die schweizerdeutsche Version von Samuel. Wann immer ein besonderes Problem gelöst werden musste: Johannes Hefti wusste Rat. Als meine Mutter als Präsidentin des Hilfsvereins Helvetia amtete, war sie auch zuständig für den jährlichen Basar, der die Kasse des Vereins auffüllen half. Spritzige Ideen waren gefragt und immer kam Johannes Hefti mit einem Verkaufsschlager aus seinen Werkstätten zu Hilfe. In einem Jahr fabrizierte er altmodische Holzreifen, mit denen wir Kinder begeistert durch die Strasse rannten, ein andermal löste er mit seinen schnurgetriebenen Kreiseln eine „épidémie toupilles“ in der Schweizer Schule von Alexandrien aus, einmal waren es lederne Schulsäcke nach Schweizer Art , die für aufgeregte Begierde sorgten. Sein Grab ziert eine mächtige schwarze Säule - ein schönes Symbol für die prägende Bedeutung Johannes Heftis in der Schweizer Kolonie Alexandriens.

Grabstein von Johannes Hefti (1890-1959) © Andreas Knoblauch

In Ägypten werden Friedhöfe nicht angetastet. Wenn kein Geld vorhanden ist, verlottern sie. Fathi, der gebrechliche alte Friedhofgärtner tat lange Jahre, was ihm möglich war. In den späten 1990er Jahren war der hintere Teil des Friedhofes mit Büschen und Bäumen überwachsen und dem Besucher nicht mehr zugänglich. Der Gegensatz zum benachbarten britischen Kriegsfriedhof konnte nicht schlagender sein. Dort besprinkelter Rasen, Blumen und sauber geputzte Reihen von Grabsteinen, hier zerbrochene Gräber und wuchernde Dornbüsche. Dazwischen selten einmal ein gepflegtes Grab, welches den kürzlichen Besuch eines Angehörigen verriet. Die Pflege des britisch-protestantischen Friedhofs übernahm nach der Jahrtausendwende die britische Auslandvertretung und seither findet unter der aufmerksamen und liebevollen Aufsicht von Frau Konsulin Marie-Louise Archer eine behutsame Instandstellung statt.

Beim Durchstöbern der neu zugänglichen Areale rief meine Frau Theres plötzlich mir zu: „Da ist ein Dr. Jean Pernet begraben, den kennst Du doch?“. Mehr als ein Erinnerungsfetzen schossen durch meinen Kopf!  Arzt, klein von Gestalt und kränklich. Er war bekannt für zwangshafte Chraktereigenschaften, unter anderem hatte er eine Obsession für faltenfrei gebügelte Hosen. Nicht einen Falt durfte die Hose aufweisen! Um dem Faltenwahn Genüge zu tun, liess er sich vom Sattler für Reisen einen langen, schmalen und steifen Koffer herstellen, damit seine Hosen auch unterwegs glatt gebügelt blieben. Der Unglückliche beging Selbstmord im Kriegsjahr 1940. Die Witwe, Frau Dr. Ida Pernet-Berner war eine weit über die Stadt hinaus bekannte Spezialärztin für Augenkrankheiten und beste Freundin meiner Mutter. Gegen Ende des zweiten Weltkriegs schlug in ihrem Garten eine der wenigen Bomben ein, die Alexandrien trafen. Dann, einige Jahre nach dem Ende dieses Kriegs: Frau Dr. Pernet beschloss in ihrem Haus Ordnung zu schaffen. Der Haushalt sollte vereinfacht werden! Ein Anfall von Aufräumen hatte sie erfasst. Überflüssiges schmiss sie weg, den Rest verteilte oder verschenkte sie. Den langen, schmalen Koffer übernahm meine Mutter, wohl wegen des feinen hellbraunen Leders.

20 Jahre später, im Jahr 1963 verliessen meine Eltern Ägypten. Vom Hab und Gut, das gezügelt wurde, fand einiges in Dr. Jean Pernets Koffer Platz und dieser landete in der Schweiz.

Weitere 20 Jahre später: Meine 80-jährige Mutter wollte ihrerseits ihren Haushalt vereinfachen. Sie hatte ihrerseits einen Anfall von Aufräumen.! Überflüssiges musste weg, wer etwas haben wollte, durfte es haben. Meine Frau fand den Koffer interessant, er kam in unseren Haushalt . Im Jahr 1982 wurde er auf 2 Holzblöcken aufgebockt und seither diente er mir als geräumiger Nachttisch in meinem Zuhause in Goldach am Bodensee. An diesem sonnigen Tag auf dem britisch-protestantischen Friedhof in Alexandrien habe ich also das Grab des Mannes gefunden, dessen Koffer seit 30 Jahren über mein Einschlafen wacht.

Dr. Pernets Hosenkoffer © Andreas Knoblauch

Unter einem Dornenbusch versteckt liegt ein anderes Grab, das ich regelmässig besuche: das Grab von Dr. Henry Maurer. Wer war Dr. Henry Maurer? Das Idol meiner Bubenzeit! Er war ein Forscher und Abenteurer, eine Inkarnation all dessen, was meine Bubenträume ausmachte. Er war nach dem Zahnarztstudium in Zürich nach Kanada ausgewandert und hatte dort Frau und Kinder. Die Familiengründung war nicht von Glück begleitet. Wenn er in einer dramatischen Erzählung berichtete, wie er in Kanada von „mon ex-femme“ finanziell aufs Kreuz gelegt wurde, wuchs er zum literarischen Causeur, der mit der Darstellung seiner eigenen Naivität die Zuhörer zum Lachen brachte und sie gleichzeitig von der Macht der Niederträchtigkeit erschauern liess. Das Böse schien er als Ausdruck von Dummheit zu betrachten und er steckte Unrecht schnell weg um in seiner aufregenden und abenteuerschwangeren Gegenwart weiterzuleben. Er unternahm Expeditionen ins geheimnisvolle schwarze Afrika. Er betreute Walter Mittelholzer, als dieser auf seinem Flug nach Afrika in Alexandrien zwischenlandete. Er flickte die Zähne von halb Alexandrien - vom Königshaus bis zum armen Schlucker - und er war sogar im „Baedecker“ erwähnt, als Auskunftsperson für Reisende in Alexandrien. Atemlos hörte ich zu, wenn er von der Hochzeit eines afrikanischen Königs erzählte, zu der er geladen war. Ja, ich wusste: ich wollte so werden wie er! Er hatte seine Zahnarztpraxis im Stadtzentrum Alexandriens an der berühmten Rue Nabi Daniel, unweit vom Büro meines Vaters. Hier sorgte Gina, seine warmherzige zweite Ehefrau dafür, dass für Konsultationen hin und wieder auch bezahlt wurde. Denn dieser begeisterte Idealist schenkte jedem sein Vertrauen. Er glaubte jedem, dass er gerade jetzt keinen „Millim“ mehr habe zum Bezahlen! Ein Bauarbeiter versuchte die Rechnung mit dem Frauenkopf einer lebensgrossen hellenistischen Statue zu bezahlen, die er unter der Gallabia in die Praxis mitbrachte. Henry Maurer starb 1973 an meinem Geburtstag. Ich hatte damals in meinem Lümmelalter den Kontakt zum alten Mann nicht mehr gepflegt. Ich bin dankbar, dass ich diesem wunderbaren Menschen in diesem Text ein Denkmal setzen darf.

Henry und Gina Maurer auf der Fahrt zu ihrem Weekendhaus in Gharbaniat © Andreas Knoblauch

Ein weiteres Grab weckt Erinnerungen: Carl Leonhardt Burckhardt. Er war einer der Grossen im Baumwollhandel, was ich als Kind natürlich nur ahnte. Ich kannte ihn als einer vom Ältestenrat der Kirche. Aller Augen richteten sich auf ihn, wenn der grosse stattliche Mann den Kirchenraum betrat. Sobald er seinen Platz gefunden hatte, blieb er stehen, den Hut vor sich herhaltend, und betete still, ganz in der frühen Tradition der protestantischen Kirche. Eine andere, die calvinistische Tradition, wehte durch die Kirche wenn Pfarrer Charles Dubois auf Französisch in charismatischem Duktus die Predigt hielt um zum Schluss, im schwarzen Talar, die Augen geschlossen und die Arme weit ausgebreitet, eindringlich und feierlich den Segen austeilte. Am Ende des Gottesdienstes blitzte noch eine weitere Tradition auf, die osteuropäische, wenn nämlich Izko Orlovetsky, der russische Organist, als Ausgangsspiel Hayden’s mächtiges „Gott erhalte Franz den Kaiser“ durch die Kirche brausen liess.

Und dann ein Grab mit besonderem Klang: hier, Besucher, musst Du innehalten! Hier ist Johannes Schiess-Pascha begraben! Bei diesem Namen läuft vor meinem inneren Auge ein ganzer Film ab. Ein Theologe und Arzt, wird 1837 in Herisau im Kanton Appenzell-Ausserrhoden geboren. Fasziniert vom Orient reiste er 1869 nach Ägypten mit dem Ziel, an der Einweihung des Suezkanals teilzunehmen. Er wurde persönlicher Arzt des Russischen Generalkonsuls, kämpfte in Ägypten gegen die Tuberkulose und die Cholera und wurde 1885 in Alexandrien zum Direktor des „Hôpital National Miri“, des späteren Universitätsspitals ernannt, das er zu einem modernen Spitl ausbaute. Unter seiner Leitung arbeiteten im Labor dieses Spitals Grössen des Fachs wie Professor Rudolf Virchow und der spätere Nobelpreisträger Professor Robert Koch. Johannes Schiess-Pascha gründete eine Bibliothek, sorgte für die Pflege öffentlicher Gärten, förderte als Direktor des griechisch-römischen Museums die archäologische Forschung, liess mit einer Säule der Schlacht von Omdurman gedenken und wurde vom Khedifen zum Dank für seine Verdienste zum Pascha ernannt. 1910 starb er und wurde auf seinen Wunsch hin einbalsamiert und in einem 10 Tonnen schweren Sarkophag im Garten „seines“ Spitals, dem „Hopital National Miri“, begraben. Der Sarkophag gehörte zum ptolemäischen Palais, das beim Aushub für das Spital gefunden wurde und war aus rotem Granit gefertigt. Sein Grab flankierten zwei Säulen.

52 Jahre später: die medizinische Fakultät plante ein neues Gebäude, weshalb 1962 die Verlegung des Grabs von Schiess-Pascha auf das Gelände der benachbarten literarischen Fakultät beschlossen wurde. Äussere Attribute wie die beiden Säulen des Grabes wurden nicht gezügelt und in der Folge verloren sich die Spuren des Grabes. Weitere 30 Jahre später, im April 1992, wollte auch die literarische Fakultät baulich erweitern. Beim Aushub des Innenhofes entdeckte man im Erdboden die Leiche von Johannes Schiess-Pascha, wohlerhalten und in voller Galakleidung. Der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung berichtete in der Ausgabe vom 31.08.1992, dass der buschige Pascha-Schnauz die Jahrzehnte bestens überstanden habe! Der zehn Tonnen schwere Sarkpophag jedoch war von Grabräubern mitgenommen worden und blieb verschwunden. Die Stadtverwaltung wurde beigezogen und wusste Rat. Erstens liess sie die Leiche ins Leichenhaus bringen und zweitens rief sie die Schweizer Botschaft in Kairo an um das weitere Vorgehen zu besprechen.

Weil keine Geschichte so unglaublich, so fantastisch, so unwahrscheinlich ist wie diejenige, die das Leben schreibt, geht diese Geschichte abenteuerlich weiter! Der Botschaftsattaché, der in Kairo die Meldung über den Leichenfund entgegennahm, war niemand anderes als der Ur-Enkel von Johannes Schiess-Pascha, ein Mann namens Claudio Mazuchelli. Dieser hatte zuvor vergeblich nach der Bestattungsstätte seines Ur-Grossvaters gesucht. Nach gegenseitiger Konsultation wurde die Leiche schliesslich neu bestattet und zwar hier auf dem britisch-protestantischen Friedhof von Alexandrien, in dem schlichten Grab vor dem wir stehen.

Grab von Johannes Schiess-Pascha © Andreas Knoblauch

Lebendiges nach dem Sterben

Sicherlich, Ägypten ist andersartig - auch wenn es ums Sterben geht. In den fünfziger Jahren erzählte mein Vater an einem Montag am Mittagstisch von einer Exhumation, die an eben diesem Morgen stattgefunden habe. Übers Wochenende sei ein reiches Mitglied der griechischen Kolonie gestorben und wie in heissen Ländern üblich, tags darauf beerdigt worden. Als man das Testament nicht fand, wurde vermutet, es könne sich in der Busentasche des Kleides befinden, in dem der Verstorbene beerdigt worden war. Die sofortige Exhumation wurde bewilligt. Als man den Sarg öffnete lag der Tote im Sarg aber.... nackt! Lange Jahre verbannte ich diese Geschichte aus meinem Gedächtnis. Sie schien übertrieben, zu abenteuerlich um wahr zu sein, ja man setzte womöglich als Erzähler gar seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel! Später, als ich in Nagib Machfus’s „Die Midaq Gasse“ las, wie der Zahnarzt Booshy und der Gliederbrecher Zaita nachts heimliche Exkursionen in den Friedhof von Bab al-Nasr unternahmen, frische Gräber öffneten um den neulich Verstorbenen die Goldzähne zu ziehen, kam mir die Geschichte des Griechen wieder in den Sinn und ich begriff dass es im heutigen Ägypten auf dem Friedhof auch nach der Beerdigung ziemlich „lebendig“ zu und her gehen kann.

Dank

Mein Dank geht an Frau Helen Knoblauch für die kritische Durchsicht und Organisation des Textes, an Frau Astrid Knoblauch für die formale Bearbeitung und das Korrekturlesen und Herrn Fredi Zahn für die fotographische Dokumentation.

Den British Protestant Cemetery erreicht man von der Ramlh-Bahnstation nahe dem Platz Saad Zagloul mit dem Tram 1, 2, 23 und 36. Man fährt bis Station Shatby, nahe der Station geht es quer zur Tramlinie südwärts in die Scharia Abdel Hamid Abou Heaf. Der Friedhofeingang ist dann ca. 150m links. Auf der Eingangstafel steht:  NEW BRITISH-PROTESTANT CEMETARY und die Öffnungszeiten werden angegeben als von Samstag bis Donnertsag von 08:00 bis 15:00. Wer am Freitag oder an öffentlichen Feiertagen kommt, steigt aufs Autodach und von dort über die 2 Meter hohe Friedhofmauer. Der Friedhof ist Teil der östlichen Nekropolis, wo schon im Altertum begraben wurde. Sechszehn christliche Denominationen, die Juden und die Freidenker haben hier ihren Friedhof. Südlich dieser Totenstadt lag zu ptolemäischen Zeiten das Sonnentor, welches das östliche Ende der Kanopischen Strasse (heute Scharia Horreya) markierte.