Nach über 30 Jahren voller Höhen und Tiefen schlossen Roswitha und Edouard Lambelet, die Eigentümer der dritten Generation, ihr Geschäft in der Sh. Sherif. Sie hinterlassen ein geschrumpftes aber dennoch großartiges Erbe.
Die Rollläden sind herunter gelassen, die Tür verschlossen, die Schaufenster dunkel und leer. Kein Buch, kein Foto – einzig das Ladenschild erinnert noch an die traditionsreiche Buchhandlung Lehnert & Landrock in der Sh. Sherif in Down Town Kairo. Bereits im Oktober vergangenen Jahres gaben die Erben des Orient-Fotografen Rudolf Lehnert und des Geschäftsmannes Ernst Landrock die berühmte Deutsche Buchhandlung in aller Stille auf. „Nach über 80 Jahren, das war ganz schwierig, die Auflösung der Buchhandlung in der Sh. Sherif. Aber es ging nicht mehr", erklärt Roswitha Lambelet sichtbar schweren Herzens. Denn die Ereignisse, die das Paar zwangen, den einzigartigen in museal-historischer Art gewachsenen Buchladen zu schließen, entzogen sich gänzlich ihrem Einfluss.
Januar-Revolution 2011
Das 1935 eröffnete Geschäft hatte unbeschadet die Wirren des 2. Weltkriegs überlebt. Es hatte die Enteignungswelle im Zuge der 23. Juli-Revolution 1952 überstanden. Es hatte während der Januar-Revolution 2011 und der Proteste auf dem nahen Tahrir-Platz keinen Schaden genommen. Doch den folgenden Einbruch des Tourismus konnte das traditionsreiche Geschäft auf Dauer nicht verkraften. „Ein großer Teil unserer Kunden kam nicht mehr. Das war finanziell eine sehr schwierige Zeit. Der Tourismus ist total eingegangen, zumindest in Kairo", so Edouard Lambelet.
Eine Postkarte aus dem Hause Lehnert & Landrock © Rudolf Lehnert
Nicht die Revolution von 2011 per se, vielmehr die angespannte Sicherheitslage in Ägypten belastete das Geschäft und jagte den Lambelets, die seit einem Vierteljahrhundert die Geschicke von Lehnert & Landrock leiten, zum ersten Mal Angst in ihrer Wahlheimat ein. In Dokki nahe ihrer Wohnung am Shooting Club sahen sie wie Geschäfte zerstört, Häuser angegriffen und Menschen beraubt wurden. „Das erfüllte uns mit einem unglaublichen Schrecken." Das Paar verkroch sich, „wie Schnecken ins Schneckenhaus".
Sog in die Trabantenstädte
Die nachfolgenden Jahre blieben schwierig. Nur noch 15 von einst 35 Mitarbeitern konnten Edouard und Roswitha noch beschäftigen. Im Sommer 2013 gab es erneut Massenproteste auf dem Tahrir-Platz und wenig später gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Anhängern des gewählten Präsidenten Mohamed Mursi, seinen Gegnern sowie dem Militär. Die Lambelets, unterstützt von ihren Managern Hassan Risk und Said Ali Mohamed Said, kämpften weiter für den Erhalt der Buchhandlung in der Sh. Sherif. Aber diesen Teil des Erbes von Lehnert & Landrock konnten sie nicht mehr retten. Denn nicht nur die Touristen blieben dauerhaft aus, auch die ägyptischen Kunden kamen nicht mehr. Sie seien in die Trabantenstädte außerhalb Kairos gezogen, glaubt Edouard Lambelet: „Und einmal draußen, kommen die Leute nicht mehr zurück ins Stadtzentrum, weil der Verkehr so fürchterlich ist."
Neuanfang 2017
Doch die beiden 79jährigen Nachfahren von Ernst Landrock hoffen, dass es in Kairo bald wieder aufwärts geht und legten den Grundstock für einen Neuanfang. Sie überließen dem ägyptischen Manager-Duo Risk und Said leihweise den bekannten Namen, übergaben ihnen das Bücher-Depot und die begehrten Schwarz-Weiß-Negative des Orientfotografen Rudolf Lehnert. Mit diesem Startkapital eröffneten die beiden im Januar 2017 unter dem traditionellen Namen Lehnert & Landrock ein neues Geschäft im 1. Stock der Sh. Abd El-Khalik Tharwat Nr 36 in Down Town Kairo.
Roswitha und Edouard Lambelet freuen sich über den Neustart © Yvonne Krause
Das Haus erscheint ein wenig heruntergekommen, hat aber den für das Viertel typischen Charme. Viele der alten Möbel aus der Sh. Sherif stehen nun hier. Unzählige wunderschöne Schwarz-Weiß-Fotos warten inmitten des epochal anmutenden Ambientes auf neue und alte Liebhaber der Orientfotografie aus dem frühen 20. Jahrhundert. „Die Fotos sind in meinen Augen Kunst und Dokumente ägyptischer Geschichte zugleich", schwärmt Said Ali Mohamed Said. Auf Bestellung fertigt er auch neue Abzüge an. Es kann aber ein paar Tage dauern, denn bei Lehnert & Landrock wird wie gehabt nicht gedruckt, sondern wie vor 100 Jahren belichtet und entwickelt.
Hassan Risk (mitte) und Said Ali Mohamed Said (rechts) © Yvonne Krause
Die Fußstapfen sind groß, in die Said Ali Mohamed Said und Hassan Risk nun treten. Doch nach bereits Jahrzehnten bei Lehnert & Landrock haben sie nicht nur die nötige Erfahrung, sie fühlen sich auch als Teil der Familie. „Deshalb können wir das Unternehmen nicht sterben lassen. Wir haben all unser Arbeitsleben hier verbracht." Die neuen Chefs haben viel vor. Sie wollen expandieren, vielleicht nach Zamalek, Maadi oder auch Fayoum. Buchmessen an deutschen Schulen seien vorstellbar und natürlich Ausstellungen der Fotos in Ägypten.
Glück und Leid begleiten die Lambelets seit den 80iger Jahren
Der Stiefenkel von Ernst Landrock stieg 1979 in das Unternehmen ein, seine Frau Roswitha arbeitete bereits seit vier Jahren an der Seite ihres Schwiegervaters Kurt Lambelet, führte die Zweigstelle und das „Le Café du Musée“ im Ägyptischen Museum. Das Familienunternehmen florierte. Dessen Kunstdrucke, Postkarten und Kalender waren beliebt und gefragt, die Abteilung der Touristik-Bücher eine der besten des Landes.
Doch die private Welt der Lambelets wurde jäh zerrissen, als Sohn André im Oktober 1981 tödlich verunglückt. Der 18jährige war mit Freunden auf eine der Pyramiden von Gizeh geklettert. Vermutlich verhedderte sich beim Abstieg sein Rucksack. Er stürzte kopfüber in die Tiefe. „Das haben wir bis heute nicht verarbeitet. Es war ein Einschnitt, der uns für immer begleiten wird. Und dass unsere Tochter Eveline keine Nähe zu Ägypten hat, hängt sicher auch mit dem Verlust des Bruders zusammen. Den Schmerz hat sie, genau wie ich, noch nicht verarbeitet. Und wir beide, als Eltern, haben da vielleicht auch noch vieles nachzuholen", so Roswitha Lambelet.
Die damals zehn Jahre alte Eveline wuchs von nun an noch behüteter auf. Sie machte Abitur an der Deutschen Evangelischen Oberschule Kairo und ging anschließend auf Anraten ihrer Eltern in die Schweiz zum Studium. „Wir haben sie ein bisschen aus dem Nest geworfen, um ihr zusagen: Schau, auch das sind deine Wurzeln, und das wäre gut für dich." In Genf lernte Eveline Lambelet ihren zukünftigen Mann kennen und wanderte mit dem gebürtigen Amerikaner 2004 nach Denver Colorado in den USA aus. Roswitha Lambelet erträgt die große geographische Distanz nur schwer: „ Man hat zwar Skype, man hat zwar Mail, aber wir spüren auch eine gewisse Entfremdung, auch weil sie in Amerika so unglaublich starke Wurzeln gefunden hat. Aber wir sehen, dass sie dort sehr glücklich ist. Und was wollen wir mehr?" Die 79jährige ist überaus stolz auf ihre Tochter, ihren Schwiegersohn und ihre beiden Enkeltöchter. Doch die Gewissheit, dass die vierte Generation das Familiengeschäft in Kairo nicht weiterführen wird, kann sie nicht so leicht hinnehmen. „Ich hatte eine so exzellente Beziehung zu meinem Schwiegervater. Ich betrachtete es als eine Verpflichtung, dieses Erbe weiterzuführen. Und jetzt sehe ich meine Tochter, die es strikt ablehnt, hier zu leben. Aber ich werde von meinem Mann angehalten, mit Recht, es zu akzeptieren."
Ein überraschender Fund
Aus geschäftlicher Perspektive prägten Erfolg und Glück die 80iger und 90iger Jahre. Ausschlaggebend war Edouard Lambelets überraschende Entdeckung von Hunderten nach dem 2. Weltkrieg ausrangierter Foto-Glasplatten von Rudolf Lehnert. Der Schatz, den rund 30 Jahre nur feinster ägyptischer Staub berührt hatte, bildete den Grundstock für ein neues Geschäftsfeld, die „Orient Art Gallery".
Ouled Nail Tänzerin © Rudolf Lehnert
Lambelet reinigte und katalogisierte Lehnerts Werk aus dem frühen 20. Jahrhundert, ließ Abzüge entwickeln. Die Kunden waren begeistert und nach einem Artikel in der französischen Zeitung „Libération" wurde Lehnerts fotografisches Werk international bekannt. „Zu Lehnerts Zeit wollte ja im ganzen Nahen Osten kein Mensch fotografiert werden. Deshalb sind die Aufnahmen so besonders", schwärmt der Entdecker. Er erzählte einem Cousin in der Schweiz von den Fotoplatten und bekam einen unbezahlbaren Tipp sowie eine Telefonnummer.
Das Straßen-Café „Mohamed al-Muayyad Club" in Kairo um 1930 © Rudolf Lehnert
Der Cousin berichtete von Charles-Henri Favrod, der das heute renommierte Musée de l´Elysée, ein Museum ausschließlich für Fotografie, 1985 in Lausanne gegründet hatte. „Ich hab ihn angerufen, und er war zunächst mal verdutzt, denn er kannte Lehnert & Landrock aus der tunesischen Zeit sehr gut. Es war sein Spezialgebiet. Aber er wusste nicht, dass die weiter in Ägypten gelebt haben. Und als ihm das bewusst wurde, wurde er wie elektrisiert", erinnert sich Edouard an das Telefonat. Favrod holte kurz darauf einen großen Teil der Original-Glas-Fotoplatten in sein Museum. Edouard brachte nach und nach den Rest. Schwer sei ihm die Trennung von seinem Schatz nicht gefallen, denn die Platten seien Eigentum der Familie Lambelet geblieben und die Copyright-Einnahmen teile man sich mit dem Museum. „Das öffentliche Interesse an der Sammlung ruht vielleicht noch ein bisschen, aber der ganze Schatz ist dort. Das heißt, andere Generationen werden darauf basieren können und ich würde meinen, mein Mann kann darauf wahnsinnig stolz sein, dass er das geschaffen hat: dass das Werk von Lehnert & Landrock in einem sicheren Land ist und zu den wichtigsten Sammlungen des Museums gehört", verdeutlicht Roswitha die Tragweite dieser Entscheidung.
Nilschwemme an den Pyramiden © Rudolf Lehnert
Schon Ende 1985 ging die erste Ausstellung unter dem Titel „Lehnert & Landrock, Tunesische Periode 1904 – 1914“, in Frankreich und Belgien auf Wanderschaft. Weitere folgten in der Schweiz, Ägypten, Palästina und Deutschland. Zahlreiche Bücher über die Fotosammlung erschienen. Die „Orient Art Gallery" florierte, auch dank des kanadischen Fotografen Chris Langtvet. Der Fan historischer Fotos fertigte von allen Glasplatten Inter-Negative an und schulte Mitarbeiter der Galerie in Dunkelkammer-Techniken, um Abzüge in höchster Qualität zu machen, auch ohne die zerbrechlichen Glasnegative Lehnerts zur Verfügung zu haben. Rund 13 Jahre arbeiteten Langtvet und Lambelet zusammen. „Diesen Mann kennengelernt zu haben, das war neben dem Fund ein weiteres großes Glück", betont Edouard Lambelet.
Eine folgenschwere Entscheidung
Doch zu Beginn des Jahres 2001 trafen Edouard und Roswitha Lambelet eine folgenschwere Entscheidung. Sie machten ihren Geschäftsführer und langjährigen Mitarbeiter Ahmed M. (Name von der Red. geändert) zum Anteilseigner von Lehnert & Landrock und zogen sich aus dem alltäglichen Geschäft Stück für Stück zurück. Edouard widmete sich der Erforschung von Lehnerts Fotosammlung und Roswitha fand ihre neue Rolle als Ratgeberin in der Galerie sowie im Café und in der Filiale im Ägyptischen Museum. Ahmed genoss das vollste Vertrauen der Lambelets, kontrollierte die Finanzen und die Geschäfte. Doch er enttäuschte sie zutiefst. Es habe finanzielle Unregelmäßigkeiten gegeben, drückt es Edouard freundlich aus. Nun stehen sich gegenseitige Schadensersatzforderungen gegenüber. Der Streit dauert bis heute.
Lehnert & Landrock geriet in erste Turbulenzen. Die folgenden Jahre brachten Schließungen und Neueröffnungen. Die Filiale im Ägyptischen Museum wurde aufgegeben, im Nile Hilton und im Khan-Khalili wurden neue aufgemacht. Zum 100. Geburtstag des traditionsreichen Unternehmens erschien das Buch „Tunis 1900 - Lehnert & Landrock Photographes“, und das Erbe der Gründer weckte 2005 erneut das Interesse von Kunden und Medien. Noch weitere elf Jahre behauptete sich Lehnert & Landrock in der Sh. Sherif trotz widriger Umstände.
Kairo verlassen?
Mit dem Gedanken, Kairo zu verlassen, haben die Lambelets noch nie gespielt. „Freiwillig nicht. Nein. Wir haben unsere Freunde hier. Und mittlerweile kann man hier auch einen guten Wein bekommen", lacht Edouard. Obwohl sie die Übergabe von Lehnert & Landrock in ägyptische Hände mit Wehmut betrachtet, Roswitha empfindet sie zugleich als Befreiung: „Die Last ist nun weg. Und das ist gut für mich." Und der promovierte Geologe Edouard nutzt seit dem Rückzug aus dem Geschäft seinen neu gewonnenen Freiraum, um ein historisches Buch über Lehnert & Landrock zu schreiben. Er sei schließlich Wissenschaftler und Familiengeschichten hätten ihn schon immer fasziniert, begründet er sein Vorhaben. Seit geraumer Zeit recherchiert er die Lebenswege der mitunter L&L genannten Partner und fördert dabei nahezu vergessene Geschäftspraktiken aus dem Ägypten des frühen 20. Jahrhunderts zu Tage.
Bäuerin mit Goldschmuck © Rudolf Lehnert
So sei zum Beispiel der Goldschmuck den Bäuerinnen auf Lehnerts Fotos tragen nichts anderes als eine „sichere Bank". Denn nach dem Verkauf der Ernte erstanden die Bauern kleine Amulette aus 24-karätigem Gold und die Frauen trugen sie als Schmuckstücke. Sobald die Familie Geld brauchte, für neue Saat oder Düngemittel, verkauften sie die Goldanhänger wieder. „24 Karat hatte den Vorteil: Zwischen Kaufs- und Verkaufspreis gab es kaum eine Differenz. Das war eine sichere Bank. Das weiß heute kein Mensch mehr", so Edouard Lambelet.