Ein Besuch in Tanis, einer altägyptischen Stadt im Nildelta nahe dem heutigen Städtchen San Al-Hagar, bietet Sehenswürdigkeiten und Überraschungen.

Halb sieben ist für ein Wochenende wirklich früh, doch das Ziel Tanis liegt im Nildelta beim Städtchen San Al-Hagar, 119 km von Kairo entfernt. Die Straßen im Großraum Kairo sind gut ausgebaut, aber die sandigen Landstraßen winden sich durch die kleinen Bauerndörfer. Unser Minibus erregt Aufsehen, denn er wird lautstark begleitet. Nach Tanis durchquert man von Kairo aus mehrere Regierungsbezirke, und jeder Bezirk stellt seine eigene Polizeieskorte, die sich mit ihren Polizeisirenen lautstark bemerkbar macht. Einige aus der Reisegruppe finden es ganz cool. Aber niemandem ist wirklich klar, warum diese Begleitung notwendig ist, und auch Dalal, die Reiseleiterin, weiß nicht wirklich eine Antwort.

Dalal erzählt bereits während der Fahrt über das Anbaugebiet im Nildelta. Im Moment werden am Straßenrand vor allem Kartoffeln, Mandarinen und Erdnüsse verkauft. Der Regierungsbezirk Al-Sharqqiya sei aber nicht nur bekannt für Landwirtschaft, sondern auch für erstklassige Pferdezucht.

Nach gut drei Stunden erreichen wir das Dorf San Al-Hagar. Eine Weile fährt man an der Mauer der Ausgrabungsstätte entlang, passiert noch einen kleinen Viehmarkt und fährt dann einen Hügel hinauf. Von dort blickt man auf das Städtchen, dessen goldene Moscheekuppel prächtig in der Sonne blinkt. Daneben das weite Ausgrabungsfeld, auf dem erstmalig 1860 Ausgrabungen stattfanden. Es ragen vereinzelt Säulen gen Himmel, die von Ferne zwar zu sehen, jedoch nicht zu erkennen sind. Vier Tempel sollen hier einmal gestanden haben, im Zentrum ein Tempel des Götterkönigs Amun.

Blick auf die Ausgrabungsstätte in Tanis©Monika Bremer

Der erste Weg führt über die dunkle, noch regenfeuchte Erde zu unterirdischen Grabkammern. Viele Herrscher der 21. und der 22. Dynastie haben hier ihre Ruhestätte gefunden, und es wurden einige noch ungeöffnete Gräber mit allen Grabbeigaben entdeckt. 1939 entdeckte der Franzose Pierre Montet die ersten Gräber in Tanis. Noch heute werden die Ausgrabungen von Frankreich und Ägypten gemeinschaftlich betrieben.

Tanis kann nicht mit so prunkvollen Tempeln und Gräbern aufweisen wie beispielsweise Luxor. Aber die Ausgrabungen stehen hier auch noch am Anfang, und die Rekonstruktion hat erst begonnen. Dort, wo man die Fundstücke entdeckt, werden sie erstmal liegen gelassen, nach und nach sortiert und dann rekonstruiert. Dalal zeigt uns eine Reihe von Obelisk-Fragmenten: Eine Schulter, ein Bein, ein Stück vom Kopf, wie ein riesiges 3D-Puzzle sieht es aus, und über den Kommentar "ein Übelisk zum Selberbauen" schmunzeln alle.

Auf unserem Rundgang über das Feld und erzählt die Reiseführerin über Tempel, Bauweisen und Könige, vor allem den angeblichen Macho, König Ramses II.

Tempelfragmente©Monika Bremer

"Eine Tempelanlage ist das Haus des Gottes und besteht immer aus Stein - Kalkstein, Sandstein, Granit, Basalt,“ erklärt unsere Reiseleiterin. „Niemand wohnt in dem Tempel, vielmehr birgt der allerheiligste Raum die Statue des entsprechenden Gottes. Die Menschen glaubten, dass die Seele des Gottes durch die Statue in den heiligen Raum kommt. Der allerheiligste Raum wird als erstes gebaut und es führt immer ein gerader Weg nach draußen. Diese Achse soll einen Sonnenstrahl darstellen. Entlang der Achse werden Nebenräume errichtet und abschließend der Eingang, der von zwei Pylonen eingefasst ist. Dieses sind Obelisken und Statuen von ägyptischen Königen.“

Zum Schutz des Tempels wurde um ihn herum eine Mauer aus ungebrannte Ziegeln errichtet, ohne großartige Befestigung. Damit der Bereich um den Tempel herum erweitert werden konnte, durfte die Tempelmauer nur in leichter Bauweise errichtet werden. Nachdem der Tempel einem Gott und keinem König gehörte, konnte jeder Herrscher kommen und in dem Tempel regieren. Natürlich wollte jeder König seine Spuren und eine Erinnerung an sich selbst hinterlassen. Entlang der Mauer standen zudem die kleinen Häuser der Priester und der Handwerker, die beispielsweise den Schmuck für den Herrscher herstellten. Auf dem Gelände befindet sich zudem der zweitgrößte heilige See zur Reinigung für die Priester, der größte See gehört zum Karnak-Tempel. „Das Waschen vor dem Gebet kennen die Muslime bis heute. Gebete und Gottesdienste gab es im Tempel in Tanis drei Mal täglich, vor Sonnenaufgang, mittags und bei Sonnenuntergang,“ so Dalal.

Tanis wurde erst bekannt in der 21. Dynastie. Ramses II. war der dritte König in der 19. Dynastie im neuen Reich, 1.300 Jahre vor Christus, und Dalal kommt etwas in Rage, als sie von ihm erzählt.

"Ramses hat Ägypten 77 Jahre regiert. Der war doch verrückt und ein Mafiosi und ein Romeo! Überall hat er Tempel gebaut, insgesamt wurden bislang 19 Tempel-Anlagen von ihm gefunden. Wo er nicht selbst gebaut hat, hat er seinen Namen in Form einer Kartusche hinterlassen. Außerdem hatte er viele Frauen. Seine Hauptfrau war Nefertari (Nafret-Ari).“

"Nafret" ist ein weibliches Adjektiv für "schön", ein "ari" angehängt die Steigerungsform, das Superlativ, also "die Allerschönste". Ramses stammt aus einer kleinen Stadt, 30 km entfernt von Tanis: "Berramisu", dem heutigen Qantir. Ramses hat in Tanis zwar seinen Namen hinterlassen, und es finden sich auch Statuen von ihm, gelebt hat er in Tanis jedoch nie.

Seine Statue entspricht der Idealvorstellung von einem Menschen. Die pharaonische Kunst hat ihre Herrscher vorzugsweise nach idealen Vorstellungen dargestellt und nicht als Abbild der Realität. Zudem ging man davon aus, dass man entsprechend des Abbildes wiedergeboren würde. Daher wurde auch immer darauf geachtet, dass zum Beispiel alle Finger der Hand zu sehen sind, auch, wenn man dafür zwei linke Hände darstellen musste. Schultern gelten als Zeichen für Stärke, das Gesicht ist im Profil am schönsten. Mit naiver Malerei oder Darstellung hatten die Zeichnungen und Statuen also nichts zu tun, vielmehr sind sie Ausdruck des damaligen Schönheitsideals.

„Hatschepsut beispielsweise war dick und hatte Knochenkrätze und war Diabetikerin - als Abbild jedoch ist sie immer schön und schlank,“ verdeutlicht unsere Reiseleiterin. Der Bart war ein offizielles Symbol wie heute die Krawatte. Auch Frauen trugen diesen Bart. Er war aus Stoff oder Tierhaaren gefertigt und wurde mit einem Bändchen befestigt.

Dalal hat unzählige Informationen und Geschichten parat. Über Respekt und Kunst, über Kartuschen und Namen und wie man Granit für die Säulen aus dem Boden gewonnen hat.

Wir besuchen unter anderem den Platz der allerheiligsten Halle mit den bereits errichteten Obelisken, den heiligen See und einen alten Brunnen, der als Nilometer gedient hat.

Zwei Obelisken ragen in den Himmel über Tanis©Monika Bremer

Tanis ist 570 Feddan groß. EinFeddan entspricht 4.200 qm und Tanis umfasst also in etwa 250 deutsche Hektar. Der Karnak-Tempel hat im Vergleich 600 Feddan, Tanis ist also nur unwesentlich kleiner und noch immer finden dort unter französischer und ägyptischer Leitung Ausgrabungen statt.

Uschebtis im Museum von Al-Sharqiyya©Monika Bremer

Bei schönstem Sonnenschein geht es gegen Mittag weiter nach Tell Basta, einer weiteren Ausgrabungsstätte in Al-Sharqiyya. In dem 2017 fertiggestellten Museum gibt es unter anderem Schmuck, Katzenfiguren und kleine Särge zu bestaunen. Im Außenbereich liegen viele Ausgrabungsstücke nummeriert an ihrer Fundstelle und sollen demnächst zum Tempel rekonstruiert werden. Nur die Merit-Statue, die Tochter Ramses II., blickt erhaben über das Areal und die Stadt im Hintergrund. Wieder einmal sind alle amüsiert, als Dalal eine weitere Geschichte zum Besten gibt. Merit sei nicht nur die Tochter Ramses II gewesen, sondern später auch seine Frau. Tatsächlich ist Merit-Amun, wie ihr vollständiger Name lautet, laut der Prinzessinnenliste in Abu Simbel die vierte Tochter Ramses II, und verschiedene Kartuschen beschreiben sie als „Merit-Amun, Tochter und Große Königliche Gemahlin Ramses II.“

Merit-Statue in Tell Basta©Monika Bremer

Tanis ist auch für Christen von besonderer religiöser Bedeutung: Moses soll dort gewesen sein und der Platz wird im Alten Testament erwähnt. Inmitten der pharaonischen Fundstücke liegt der Brunnen, aus dem Maria, die Mutter Jesu, auf ihrer Reise durch Ägypten getrunken haben soll. Er ist bereits restauriert, ein Hinweis, dass man den Weg, den die Heilige Familie durch Ägypten gegangen ist, touristisch wieder ausbauen will. In Ägypten führt so vieles immer wieder auf die Heilige Schrift zurück. Vor allem bei den männlichen Besuchern ist Tanis natürlich aus dem Film "Indiana Jones" bekannt, der dort die Bundeslade findet.

Nach einem üppigen ägyptischen Essen geht es erneut mit Polizeisirene zurück nach Kairo. Die Polizisten verabschieden sich am Rand von Kairo, wo man vom alten Ägypten über das landwirtschaftliche Ägypten zurück in die Stadt gelangt. Ein lohnenswerter und spannender Tag, fernab vom oft nervigen Massentourismus.