Lange Zeit wusste ich nichts von den unterirdischen Kirchen im Muqattam-Berg. Erst als ich mich mit der Müllsiedlung Manshiet Nasser zu beschäftigen begann und auf den Verein „Solar Cities“ stieß, entdeckte ich sie. So kam es, dass ich eine Reise nach Kairo plante und die Kirchen im Berg ins Programm aufnahm.

Schon nach den ersten Fotos, die ich im Internet recherchierte, fragte ich mich, warum es dort so viele Höhlen und Grotten gibt. Die Hügelkette des Muqattam liegt östlich der Altstadt von Kairo und zieht sich hinter der Zitadelle noch zwanzig Kilometer in südlicher Richtung bis nach Heluan. Der Muqattam-Steinbruch war schon im Altertum unter dem Namen Tura bekannt, wo Kalkstein erster Klasse abgebaut wurde. Seien es die Pyramiden von Giza, gebaut aus Millionen Kalksteinblöcken, Grabbauten aus unterschiedlichen Epochen, mittelalterliche Gebäude aus der Fatimiden- und Mamlukenzeit oder moderne Regierungsgebäude - Kalkstein war und ist vielseitig verwendbar. (...) Durch die Verwitterung stürzten Bereiche ein und es bildeten sich Höhlen und Grotten. Schon die Alten Ägypter bauten das Gestein nicht nur im Tagebau ab, sondern gruben sich auch unterirdisch durch den Berg und höhlten ihn weiter aus.

Kein Weg führt an der Müllstadt Manshiet Nasser vorbei, wenn man den Kirchen im Berg einen Besuch abstatten will. Wir treffen uns mit Christine, einer Koptin, und Wagdy vom Verein Solar Cities, die uns zu diesen speziellen Orten begleiten. Die Route führt uns nach Osten, hinter den Azhar-Park und am besiedelten Nordfriedhof vorbei, nach Manshiet Nasser und in Serpentinen den Berg hinauf.

Atemberaubende Reliefs biblischer Szenen©Andreas Morawetz, Leone Strizik

Ein atemberaubender Anblick bietet sich, als wir ein Plateau mit hoch aufragenden Felstürmen erreichen. Die Wände sind voll von Reliefs mit Heiligen und biblischen Szenen, herausgeschlagen aus dem Kalkstein und teilweise bemalt. Wir entdecken den „Stall von Bethlehem“ mit der Heiligen Familie, den Hirten und den Heiligen drei Königen.

In Stein geschlagene Reliefs zur biblischen Geschichte©Andreas Morawetz, Leone Strizik

Auf dem Dach stehen ein altes Schöpfrad und ein Holzkreuz. Schriften in Arabisch und Englisch überziehen teilweise die Felsen. Über dem auf seinem Thron sitzenden Jesus Pantokrator, dem Weltenherrscher, kann ich „Will see the son of man coming in the clouds with great power and glory“, entziffern.

Das Grab Jesu an einer Seitenwand©Andreas Morawetz, Leone Strizik

Auch das Grab von Jesus findet seinen Platz. Ein Loch im Felsen mit einem zur Seite geschobenen Mühlstein markiert die Stelle: „He is not here, he has risen, just as he said“.  

Vor dem mächtigen Felsen erheben sich zwei Kirchtürme in den Himmel. Das Gebäude wirkt wie eine Bastion vor einem Heiligtum. Es markiert den Eingang in die größte Höhlenkirche, die der Jungfrau Maria und dem heiligen Simon oder Samaan, dem Gerber, geweiht ist.

Der Felsen entpuppt sich als Überhang, in dem eine Art Amphitheater untergebracht ist. In Viertelkreisen reihen sich Betonbänke mit Holzauflagen aneinander, um Tausenden von Gläubigen Platz zu bieten, bis hinunter zu einem Vorplatz mit einer Holzschranke. Mehrere spitzbogige Türen leiten ins Innere der Kirche, die mittlere mit sechs, die beiden seitlichen mit jeweils vier Flügeln.

Ein großes Auditorium für Gottesdienste im Innern des Berges©Andreas Morawetz, Leone Strizik

 Im mittleren Spitzbogen findet sich eine Darstellung des letzten Abendmahls mit einem stehenden Jesus und elf sitzenden Aposteln (ohne den Verräter Judas). Zwei Engel mit Posaunen fliegen auf sie zu. Kleine Altäre mit bunten Heiligendarstellungen heben sich von grauen Felswänden ab. Über den Türen verläuft eine Galerie mit zwölf Ikonen.

Ein Spitzbogen über dem Eingang©Andreas Morawetz, Leone Strizik

Auf der seitlichen Felswand können Szenen aus dem Leben Jesu betrachtet werden: die Verkündigung Mariens, die Geburt im Stall von Bethlehem und die Flucht nach Ägypten. Gerüste und im Entstehen begriffene neue Reliefs deuten auf die Arbeit des polnischen Künstlers Mario hin, der hier seine Lebensaufgabe gefunden hat.

Die Geburt Jesus als Relief an einer Seitenwand©Andreas Morawetz, Leone Strizik

Unsere Begleiterin Christine weist auf ein Bild hin, dessen interessante Geschichte sie schon angedeutet hatte. In der koptischen Gemeinde reden heute noch Gläubige gerne über das „Muqattam-Wunder-Fasten“, die Geschichte des Kalifen al-Mu’izz und des koptischen Papstes Abraham ibn Zar’ah. In einem religiösen Gespräch mit dem Wesir Ibn Killis und dem Juden Moses erinnerte der Wesir den koptischen Papst an den Ausspruch von Jesus: „Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, so könnt ihr zu diesem Berg sagen, hebe dich hinweg und er wird sich heben und nichts wird euch unmöglich sein“. Der Kalif verlangte daraufhin vom Papst, diesen Ausspruch vor seinen Augen zu verwirklichen, andernfalls würde er ihn enthaupten lassen. Wissend, dass das keine leere Drohung war, bat der Papst um drei Tage Vorbereitungszeit. Am dritten Tag erschien Abraham die Gottesmutter. Sie sagte ihm, dass es auf dem Markt einen Einäugigen gäbe, durch den das Wunder geschehen würde. Papst Abraham traf Samaan, den Gerber, der ihm riet, mit seinen Priestern und dem christlichen Volk zum Berg zu ziehen. Dort solle er sich dreimal niederwerfen, den Berg dreimal segnen und dreimal „Herr, erbarme Dich“ rufen. Tatsächlich erhob sich der Muqattam und schwebte von Alt-Kairo an jenen Ort, wo er sich heute befindet. Durch diese Legende beträgt das koptische Weihnachtsfasten nicht vierzig, sondern 43 Tage und beginnt schon am 25. und nicht erst am 28. November. Samaan, der Gerber, lebte im 10. Jahrhundert in Alt-Kairo während der Zeit des fatimidischen Kalifen al-Mu’izz. Als sein Skelett und ein Tontopf 1991 in der al-Muallaqa Kirche gefunden wurden, brachte man alles in die Höhlenkirche, die seinen Namen trägt, was sie dadurch zu einem Wallfahrtsort macht. Seine Reliquien befinden sich nun an Ort und Stelle in einem Glaskasten. Die Arbeiten an der Kirche begannen zwischen 1974 und 1979, als ein Relief der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind plötzlich an der Decke „wie aus dem Nichts“ auftauchte. Die hier wohnenden Menschen, die Zabbalin oder Müllsammler, sahen das als eindeutiges Zeichen von Gottes Werk und Wohlwollen.

Ein Priester beobachtete uns mit Interesse, schloss sich uns an und berichtete von den Schwierigkeiten, die beim Bau der Kirche entstanden waren. Mit den Ausgrabungen hätten sie während des Ramadan begonnen, erzählte er. Immer wenn auf der Zitadelle die Böller krachten, um das Fasten zu beenden, zündeten sie Sprengstoff in der Höhle. Letztendlich kam eine staatliche Kommission, um das Relief zu begutachten. Da seitens der Behörde die Echtheit festgestellt wurde, durften die Arbeiten fortgesetzt werden. Zu Beginn bestand die Kirche nur aus einer Kalksteinhöhle, wo die Gläubigen auf Strohmatten um den Altar herumsaßen. Als immer mehr Menschen herbeiströmten, „segnete Gott den Ort“ und die Kirche konnte zwischen 1986 und 1994 vergrößert werden. Wir erfahren auch, dass einmal wöchentlich unzählige Gläubige zur Kirche kommen, um vom koptischen Bischof den Segen zu empfangen. Bei solchen Zusammenkünften werden auch Krankheiten behandelt und Exorzismen durchgeführt, an denen nicht nur Christen, sondern auch Muslime teilnehmen. Muslime kommen zum Priester, wenn der Scheich nicht weiterhelfen kann, und der Christ konsultiert den Scheich, wenn der Priester keine Lösung findet. Bei den Muslimen spielen die Dschinns eine große Rolle, die nach islamischer Auffassung in uns und um uns herum existieren und Einfluss auf uns ausüben. Die Samaan-Kirche und Manshiet Nasser sind mittlerweile in ganz Ägypten für Erlösungsgottesdienste und „Teufelsaustreibungen“ bekannt. Mit kyrie eleison und der Bekanntgabe des Namens des Dschinn sind beide erfolgreich, der Priester und der Scheich. Wir folgen Wagdy, der uns einen weiteren Höhepunkt ankündigt, die Felsenhalle von Samaan. Ein gemauerter und mit Reliefs bearbeiteter Durchgang leitet uns in einen mit Stoffen überdachten Gang. Eine Kuppel ragt aus dem Boden, jene der unterirdischen Markuskirche. Sie ist mit bunten Mosaiken gestaltet, die wieder Szenen aus der Bibel zeigen. Der Gang führt weiter zu einer beeindruckenden Felsenhalle, mit der es eine besondere Bewandtnis hat. Als sie 1979 entdeckt wurde, war sie immerhin an die siebzehn Meter hoch und bis obenhin mit Tonnen von Gestein gefüllt. Erst nach mehreren Jahren mühseliger Arbeit, das Gestein musste auch abtransportiert werden, ging es voran und Räume entstanden auf zwei Ebenen. Auf der oberen Ebene liegt die Halle des Samaan mit rund 2.000 Sitzplätzen. Ein Podium mit einer Leinwand und Scheinwerfern lässt vermuten, dass hier Versammlungen stattfinden, was Wagdy bestätigt. Viele Szenen aus der Bibel, in erhabenem Relief gearbeitet, füllen auch hier die Wände. Eine Szene zeigt eine sitzende Frau, die den Mantel eines Mannes festhält, der anscheinend weggehen will. Die Beschreibung lautet „she caught him by his cloak and said, come to bed with me. But he left his cloak in her hand and ran out”. Ob es sich wohl um den heiligen Samaan handelt, der der freundlichen Einladung nicht folgen wollte? Das Gelände birgt noch eine weitere unterirdische Kirche, jene des heiligen Bola, des ersten Einsiedlers Paulus von Theben. „Sie wurde nach dem ersten rechtschaffenen Pilger benannt“, erklärt Christine. Jener Bola lebte siebzig Jahre als Eremit in Höhlen. Sein Auge traf in dieser Zeit auf kein menschliches Antlitz. 1986 wurde während Bauarbeiten eine Grotte entdeckt, als ein großer Felsbrocken herunterstürzte und ein Loch erzeugte. Aus diesem Raum wurde die Bola-Kirche. 1992 brach durch einen elektrischen Funken ein Brand aus, wobei alles, bis auf ein Bild von Jesus und den Altar, zerstört wurde. Die pharaonischen Steinbrucharbeiter ließen mehrere massive Pfeiler, die mit Arkaden verbunden sind, stehen, um die Stabilität der Höhle zu gewährleisten. Die Decke der Bola-Kirche ist bis in die Rundbögen hinein rußgeschwärzt. Es ist sehr schwül im Bauch der Erde, Ventilatoren an der Decke und am Boden verschaffen uns etwas Kühlung. Um die Pfeiler gemauerte Bänke mit schwarz-weiß gemusterten Sitzauflagen laden zum Bleiben ein. Ein roter Teppich bedeckt den Boden, er schluckt den Staub. Bilder von Heiligen, der Jungfrau Maria und Jesus hängen an den Wänden. Vor einem roten Samtvorhang, der den Altarraum abschirmt, kniet eine junge Frau, in Andacht versunken.

Der Text ist ein Auszug aus „Das Wunder Kairo. Geschichten aus der Mutter aller Städte" von Leone Strizik. Sisile-Verlag Wien 2021