West-östliche Erkundungen von Navid Kermani, auf den Spuren von Kunstschmugglern mit Günther Wessel, eingefangene Sinnbilder aus Kairo von Roshanak Zangeneh und ein neuer Roman von Alaa al-Aswani u.a. unser Lesestoff für den Sommer 2016.

Zwischen Kafka und Koran

West-östliche Erkundungen

Text: Dr. Margret Ruep

Dem Orientalisten und Literatur-wissenschaftler Navid Kermani gelingen mit seinem Buch „Zwischen Koran und Kafka“ überaus lesenswerte „west-östliche Erkundungen“, für die er im Jahr 2015 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat. Kermani setzt in diesem Buch den Koran in Beziehung zur arabischen, zur europäischen, insbesondere zur deutschen Literatur und führt den Leser dadurch ein in eine Welt der Poesie und Literatur, die zur Veränderung gewohnter Perspektiven zwingt. Dabei zeigt der Autor in sprachlich brillanter Weise die Verbindung von Poetik und Offenbarung im Koran.

Die ästhetische Wirkung des Korans liege vor allem in der gekonnten melodischen Rezitation. („Singe den Koran...“, Sure 73.4).

Die arabische Kulturgeschichte erweist sich als tief geprägt von der engen Verbindung zwischen der Offenbarung des Korans und der traditionellen sprachgewaltigen arabischen Poesie. Der Offenbarungstext wird dabei als so vollkommen angesehen, dass er nur unmittelbar von Gott kommen konnte, da kein Mensch ihn so hätte schreiben können. Die Orientierung an dieser Vollkommenheit ist die Wurzel der arabischen Poetik, die sehr früh bereits Erkenntnisse moderner Linguistik und Literaturwissenschaft vorwegnimmt, etwa das Phänomen der Ordnung bzw. Struktur (nazm). Die Sprache selbst wird bis heute bestimmt durch den Koran, in der Gott sich durch die Rede bzw. Rezitation zeigt.

In 15 Kapiteln lässt der Autor den Leser teilhaben an seinen Reflexionen über deutsche Kultur und Nation, über Dichtung und Religion, über Literatur und Koran, über weltliche oder religiöse Motive in der Literatur, über Gott. Letzterer tritt in Erscheinung als derjenige, dem man sich unterwirft, gegen den man sich ob der ungerechten leidvollen Welt auflehnt und mit ihm hadert. Bei Shakespeare stellt sich die Welt ohne Gott dar, bei Lessing wird die Toleranzidee heraufbeschworen. Besonders eindrücklich ist das „Gott-Atmen“ bei Goethe, der wie kein anderer ein Tiefenverständnis für die arabische Sprache, ihre Kultur und Religion entwickelt und in seinen Texten, etwa dem westöstlichen Diwan, vertreten hat. In „Kleist und die Liebe“ stellt Kermani die Verbindung her zu Ibn Arabi, einem Mystiker aus dem 12. Jahrhundert, der im „Seufzen der sexuellen Verzückung“ zugleich das Atmen Gottes durch die Liebenden hindurch sieht. Ibn Arabi vertrat wie Lessing die Idee der Toleranz auf islamischer Seite, einige Jahrhunderte vor der europäischen Aufklärung.

Schließlich gilt Kafka dem Autor als einer, der deutsch schreibt in einer nicht deutschen Umgebung und stellt sich selbst die Frage: Was ist deutsch an der deutschen Literatur? Dies scheint ihm, dem Literaturwissenschaftler mit Migrationshintergrund in Deutschland, einfacher zu beantworten zu sein durch die Sicht eines Prager Juden, denn durch einen typisch deutschen Autor. Dem Phänomen der Einfühlung geht Kermani nach durch die Darstellung des schiitischen Passionsspiels „Taziyeh“, in dem ein an Bert Brecht erinnernder extremer Verfremdungs-Effekt in besonderer Weise zur Einfühlung hinführt. Dass er diese Einfühlung – ungewollt und mit anfänglichem Widerwillen – dann persönlich bei einer Aufführung in Bayreuth durch die Musik Wagners erlebt, erstaunt gleichermaßen, wie genau die Beschreibung dieses Erlebnisses eine typisch deutsche Kultur zum Ausdruck bringt: Das Gefühlvolle, die Verführungskraft der Musik und die „metaphysische Tiefgründigkeit“. Dagegen stellt er schließlich die Kraft des Geistes, der Vernunft und des klaren Denkens bei Hermann Hesse und Hannah Arendt. Die eine aus ihrer philosophisch-politischen, der andere aus der literarischen Perspektive des Glasperlenspiels.

Kermani spürt der Differenz zwischen deutscher Kultur und deutscher Geschichte nach, in der das Böse – trotz der tiefgründigen Denkansätze – in übersteigerter Weise Realität werden konnte. In seiner Rede zum 65. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes weist er auf den „Kniefall von Warschau“ hin. Durch diese große Geste habe der damalige Bundeskanzler Willi Brandt Demut gezeigt und Schuld auf sich genommen. Dadurch habe der Staat seine Würde zurückerhalten.

Die großartige Leistung dieses Autors liegt in der Verbindung von West und Ost in einer Zeit, in der das Unverständnis um sich zu greifen scheint. Durch die Darstellung seiner sehr besonderen Perspektive des Korans entstehen Einsichten, die nachdenklich stimmen und zugleich zu neuem Denken anregen, zu einem Mehr-Wissen-Wollen – kurzum: ein Lesevergnügen auf höchstem literarischem Niveau.

Navid Kermani: Zwischen Koran und Kafka – West-östliche Erkundungen. C.H.Beck Verlag. München 2015. 315 Seiten. 24,95 €

Das schmutzige Geschäft mit der Antike:

Der globale Handel mit illegalen Kulturgütern

Aussichtsreiche Perspektiven scheinen derzeit Kunstschmuggler zu haben. Denn: Wer hätte das gedacht? Der Umsatz, der mit dem illegalen Handel antiker Güter erzielt wird, wird nur noch im Drogen- und Waffenmetier überboten. Das Geschäft mit geraubten Kulturgütern boomt förmlich.

Im Schatten der politischen Erschütterungen im Nahen Osten und in Nordafrika kommt es zu beispiellosen Plünderungen antiker Stätten. Gleichzeitig werden Kunstgegenstände als Geldanlage international immer gefragter.

Auch Terrorgruppen wie der IS finanzieren sich wohl durch geraubte Kulturgüter. Der Autor Günther Wessel begibt sich auf die Spuren des illegalen Handels mit Statuen und Mosaiken, Schriftrollen und Siegeln.

Er recherchiert in Europa, Ägypten und den USA. Und er findet heraus, dass Deutschland eine Drehscheibe für den illegalen Handel zu sein scheint. Spannend und pointiert vermittelt Wessel seine Eindrücke. Sein Aufruf an den Leser: Kaufen Sie keine Antiken aus fragwürdigen Quellen!

Günther Wessel: Das schmutzige Geschäft mit der Antike. Der globale Handel mit illegalen Kulturgütern. Ch. Links Verlag. Berlin 2016. 184 Seiten. 18,00 €

Ostraka.

Kairoer Sinnbilder

Ostraka ist der Fachbegriff für Scherben oder auch Felssplitter, auf die die Alten Ägypter ihre Texte und Botschaften schrieben. In der Archäologie sind Ostraka eine der wichtigsten Quellen für Informationen über das Leben vor 3200 Jahren. Auch im heutigen Ägypten gibt es sie, die vielen kleinen Scherben, Überbleibsel, Botschaften – wenn auch im übertragenen Sinne.

Die Fotografin Roshanak Zangeneh hat sich auf den Weg gemacht, um für ihren Bildband „Ostraka. Kairoer Sinnbilder“ genau diese kleinen Scherben des ägyptischen Alltags vor die Linse zu bekommen. Sie garniert ihre Bilder mit kurzen Prosatexten von Menschen, die sie zwischen 2011 und 2015 portraitiert hat, und stellt ihren Alltag, ihre Geschichten in den Mittelpunkt dieses Buches.

In den Hintergrund rücken der sogenannte Arabische Frühling und die militärische Macht in Ägypten, die immer wieder in das Buch hineinragen, aber nie die Hauptrolle spielen. Kunstvoll lässt Zangeneh die Menschen für sich sprechen und vermittelt so Einblicke in ein Leben in einem Land, das uns nie zuvor so nah und gleichzeitig so fern war. Roshanak Zangeneh wurde in Teheran geboren. Sie studierte Kommunikationsforschung und Mediale Künste, arbeitete lange als Journalistin und lebt zurzeit als Künstlerin in Kairo.

Roshanak Zangeneh: Ostraka Kairoer Sinnbilder. Verlag Gudberg Nerger 2015. 200 S. 24,90 Euro

Die arabische Welt im 20. Jahrhundert

Aufbruch, Umbruch, Perspektiven

Diese Ländergeschichten aus der arabischen Welt behandeln den Zeitraum des 20. Jahrhunderts, vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ausbruch der "Dritten Arabischen Revolte" ab 2011. Im Mittelpunkt der Darstellung steht die Entwicklung aller 22 Mitgliedsländer der Arabischen Liga. Die Einzeldarstellungen sind in die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Zusammenhänge innerhalb der arabischen Welt als ganzer sowie in den Kontext der internationalen Politik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs eingebettet. Ein eigenes Kapitel ist der Rolle Deutschlands im Nahen Osten gewidmet.

Ein Ausblick auf das 21. Jahrhundert „der Araber" projiziert die Ergebnisse der historischen Untersuchung in die Zukunft: Welche Perspektiven zeigen sich für den arabischen Raum? Ein gutes Sachbuch, um sich einen Überblick über die Situation in den einzelnen Ländern zu verschaffen und aktuelle Entwicklungen besser einordnen zu können.

Udo Steinbach, Die arabische Welt im 20. Jahrhundert. Kohlhammer-Verlag 2015. 414 S. 49,00 Euro

Der Automobilclub von Kairo

Der mondäne Automobilclub von Kairo in den vierziger Jahren stellt in diesem Roman von Alaa al-Aswani die Bühne für ein gesellschaftskritisches ägyptisches Drama zwischen Mächtigen und einfachem Volk dar. An diesem Treffpunkt der dekadenten Kairener Elite einschließlich der königlichen Familie öffnet der gerne als bedeutendster ägyptischer Autor der Neuzeit bezeichnete Al-Aswani für seine Leser den Vorhang für einen Mikrokosmos von Despotie und Tyrannei.

In einem perfiden System hierarchischer und rassistischer Abstufungen und Privilegien für Handlanger und Ausländer leidet die große Anzahl der einfachen ägyptischen Dienstkräfte unter einer uneingeschränkten Abhängigkeit von einzelnen Personen, deren entwürdigenden Misshandlungen und Instrumentalisierungen sie fast hoffnungslos ausgeliefert sind.

Hauptpersonen sind Kamil und Saliha, Kinder des aus Oberägypten stammenden Abdalazis und seiner Frau Rakija. Nachdem der in seinem Dorf hochgeschätzte Bauer seinen gesamten Grundbesitz verloren hat, muss er in Kairo als Hilfslagerist im Automobilclub den Lebensunterhalt für sich und seine fünfköpfige Familie verdienen.

Neben historisch authentischen Darstellungen werden in den Mechanismen der Unterdrückung und Korruption auch aktuelle Bezüge deutlich. Interessant am Erzählstil sind die sich ergänzenden Perspektiven des Erzählers und der beiden Hauptpersonen.

Alaa al Aswani: Der Automobilclub von Kairo. Fischer-Verlag 2015, 656 S. 12,99 Euro

Mein neuer Freund, der Mond

Und hier noch etwas für verschiedene Kinderperspektiven: Walid Taher erzählt in seinem Kinderbuchklassiker „Mein neuer Freund, der Mond“ die Geschichte des kleinen Jungen Karim, der nach dem Besuch bei seinem Großvater allein mit dem Fahrrad nach Hause fährt.
Es ist Abend geworden, der Mond scheint und plötzlich entdeckt Karim, dass ihm der Mond überallhin folgt. Er erschrickt und versteckt sich hinter einem Baum, doch die Neugier ist stärker. Und dann leuchtet es ihm ein, warum er den Mond mal links, mal rechts von sich entdeckt: Natürlich, er will mit ihm spielen!

Eine wunderschöne Geschichte für Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren, eingebettet in leichte und lustige Farbillustrationen des Autors. Das Besondere an diesem Buch, abgesehen davon, dass eine wunderschöne Geschichte erzählt wird: Die hier gerade neu aufgelegte Ausgabe ist zweisprachig und wird arabische und deutsche Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren gleichermaßen verzaubern. Das Buch wurde bereits 2004 mit dem »Sonderpreis der Kreuzberger Kinderstiftung für ein besonders engagiertes Kinder- und Jugendbuchprojekt« ausgezeichnet.

Walid Taher/ Petra Dünges: Mein neuer Freund, der Mond. Edition Orient2016. Arabisch-Deutsch. 22 S. 15,90 Euro