Zum Jahresende 2019 stellen wir unseren Leserinnen und Lesern eine breite Palette an Literatur vor, angefangen mit zwei nicht mehr ganz frischen ägyptischen Romanen. „Der Ibis“ und „Tante Safiya und das Kloster“ sollte jeder lesen, der sich für gesellschaftliche Veränderungen in Ägypten interessiert. Der Bogen reicht weiter über islamische Freiheitskämpferinnen ganz unterschiedlicher Provenienz, politische Analysen zur Genese der Konfliktherde im arabischen Raum bis hin zu einem im pharaonischen Zeitalter angesiedelten Schmöker. Für fast jeden etwas!

Der Ibis

Das Café Awadallah ist der wichtigste Treffpunkt für die Männer rund um den Midan Kit Kat in Embaba, einem am Westufer des Nils gelegenen dichtbesiedelten Stadtteil Kairos. Seine Schließung droht und damit der Verlust des zentralen Orts für soziale Kontakte.Seine Gäste sind die Bewohner des Viertels, eine bunte Mischung unterschiedlichster Charaktere aus der „Kit-Kat-Clique“ wie der „Blindenfänger“ Scheich Hosni, der, selber blind, mit Hilfe des Cafèhausbetreibers blinde Besucher des Viertels täuscht und ihnen ihr Geld aus der Tasche zieht. Zu den Gästen gehört auch Meister Kadri, der auf Grund seiner früheren Tätigkeit bei der englischen Firma Marcony, den Beinamen „der Engländer“ führt. Oder der Schriftsteller Jussuf al-Naggar, der statt zu schreiben über das Schreiben reflektiert, aber sich dennoch verpflichtet fühlt, die Geschichte und die Veränderungen des Viertels festzuhalten. 

Zusammen mit weiteren Männern organisieren sie die Trauerfeier für einen toten Freund und spekulieren über den Bestand ihres Cafés. Dabei offenbaren sich in ihren episodenhaften Erlebnissen und Erinnerungen ein Mikrokosmos rund um das Café und seine Veränderungen im großen politischen und sozioökonomischen Kontext.

Aslan schildert mit augenzwinkerndem ägyptischen Humor die burleske Lebensrealität der Bewohner Embabas, ihren verzweifelten Überlebenskampf und ihre schier unerschöpfliche Überlebenslust und -kunst. Ein Kaleidoskop von anekdotischen Erzählungen aus vielen Perspektiven verbindet sich zu einem Portrait dieses Viertels, seiner Bewohner und seiner Geschichte und spiegelt die gesellschaftliche Realität und ihre Entwicklung in Ägypten in den 70er und 80er Jahren wider. Der Roman diente als Vorlage für den Film „Al Kit Kat“ aus dem Jahre 1991. Mit dem Hauptdarsteller Mahmoud Abdel Aziz in der Rolle des blinden Scheich Hosnis erlangte der preisgekrönte Film Kultstatus.

Ibrahim Aslan: Der Ibis. Lenos-Verlag. Basel 2002. 204 Seiten. 19,50 Euro

Tante Safija und das Kloster

In einem kleinen ägyptischen Dorf bei Luxor spielt sich in den sechziger Jahren eine Liebestragödie ab, eine Dreiecksgeschichte zwischen einer wunderschönen jungen Frau, dem für sie vorgesehenen jungen Helden und einem reichen alten Mann. Die ägyptische Dorfgesellschaft bildet den Rahmen für eine tragische Handlung,  die uns befremdlich erscheint, aber in ihrer Unvermeidlichkeit ein Schlaglicht auf Denk- und Verhaltensweisen der Menschen wirft.

Diese Novelle wird erzählt aus der kindlichen Sicht eines Jungen, der in seine wunderschöne Tante verliebt ist und diese bizarre Liebesgeschichte erlebt. In eindrücklicher Schlichtheit schildert der Erzähler die alltägliche Lebenswelt und die dramatischen Ausbrüche von Leid und Leidenschaft. Berührend sind die Darstellung des gutnachbarlichen und wertschätzenden Zusammenlebens der koptischen Mönche und der moslemischen Dorfbewohner und die Veränderungen der Gesellschaft.

Baha Taher gehört zu der Generation ägyptischer Schriftsteller, die in den 60er Jahren zu schreiben begannen und die „einen Riss im Staat und einen Riss in der Seele“ (Baha Taher) darstellen wollten. Gleichzeitig möchte er sich mit einem neuartigen Stil gegen Naguib Mahfuz abgrenzen.

Baha Taher: Tante Safija und das Kloster. Roman aus Ägypten. Lenos-Pocket-Verlag. Basel 2012. 125 Seiten. 9,95 Euro

Die Rückkehr - Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater

Nach 33 Jahren im Exil kehrt Hisham Matar mit seiner Frau Diana, einer Amerikanerin, und seiner Mutter in seine Heimat Libyen zurück.  Er ist auf der Suche nach seiner Identität, seiner Familie und vor allem nach seinem Vater Jaballa Matar. Dieser gehörte vor der Machtübernahme durch Ghadaffi zu einer einflussreichen patriotischen Familie. Schnell erkannte er den menschenverachtenden Charakter des neuen Regimes und musste 1979 als oppositioneller Monarchist mit seiner Familie aus dem Land fliehen. Aus der neuen Heimat Kairo wurde er 1990 durch den ägyptischen Geheimdienst entführt und nach Libyen ausgeliefert. Dort wird er in das berüchtigte Gefängnis Abu Salim bei Tripolis gebracht, wo sich seine Spur verliert.

Seine Söhne Ziad und Hisham geben die Hoffnung nicht auf und unternehmen alles, um eine Spur zu finden.  Hisham, der mittlerweile in London eine angesehen Stelle als Journalist und Schriftsteller erreicht hat und öffentlichen Druck aufbauen kann, ist besessen von dem Wunsch seinen Vater zu finden. Es gelingt ihm lediglich vier ebenfalls inhaftierte Familienmitglieder nach 21 Jahren im Gefängnis aus der Haft frei zu bekommen.

Bei seinem kurzen Aufenthalt in Libyen, kurz nach dem Sturz Ghadaffis im Herbst 2011, findet er die Familien seiner Eltern wieder und mit ihnen viele Erinnerungen an seinen Vater, Spuren und Hinweise auf seinen Tod. Hisham Matars Spurensuche ist verknüpft mit Rückblenden in sein eigenes Leben als Exilant, Geschichten seiner Familie und der Geschichte des Landes Libyen und seiner Bewohner. Besonders schockierend bringt der Autor das Nichtvorhandensein der Geschichte dieses Landes und seiner nationalen Identität ins Bewusstsein. Er schildert ein gefoltertes Land und unsägliche Leiden der Bevölkerung, die man nicht einmal für Wert befand zu dokumentieren. Die nationale Vergangenheit spiegelt sich in Geschichts- und Sprachlosigkeit.

Die biografische Dokumentation seiner Suche stellt eindringlich und mit großer Klarheit das Schicksal einer Familie und eines Landes während der italienischen Kolonialisierung und der Diktatur Ghaddafis dar. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, keine leichte Lektüre, aber ein eindringlicher Einblick in die Abgründe libyscher Geschichte.

Matar, Hisham: Die Rückkehr- Auf der Suche nach meinem verlorenen Vater. Luchterhand.München. 2016, 287 Seiten. 15,99 Euro

Frauen dürfen hier nicht träumen. Mein Ausbruch aus Saudi-Arabien, mein Weg in die Freiheit

Rana stammt aus einer einfachen syrischen Familie, die ihren Lebensunterhalt in Riad/Saudi-Arabien verdient. Die familiären Bande sind eng, der jährliche Sommerurlaub in der syrischen Heimatstadt ist selbstverständlicher Höhepunkt in Ranas Kindheit. In der kleinstädtischen Nachbarschaft  der Großfamilie erlebt Rana eine frohe und freie Kindheit, anders als in Saudi-Arabien ist sie nicht in der Wohnung eingesperrt. Diese so harmonischen Sommerwochen werden jedoch zum Albtraum, als sie sich im Alter von 10 Jahren verschleiern muss und ihr das geliebte Fahrrad weggenommen wird. 

Jetzt leidet sie nicht nur unter dem Eingesperrtsein und der Diskriminierung in Riad, sondern insbesondere auch den rigiden religiösen Vorstellungen der Großfamilien. Vor allem ihre Mutter drangsaliert sie. Das wissensdurstige und neugierige Mädchen findet nur Unterstützung und Verständnis bei ihrem Vater, der mit liberaler und humaner Denkweise eine Ausnahme bildet, seine Tochter vorbehaltlos liebt und mit menschlichem und liebevollem Verständnis Licht in ihr Leben bringt. Er ist der einzige, der an sie glaubt. Rana versucht, auf dem konventionellen Weg durch Heirat einen Ausweg zu finden, scheitert aber letztlich an den unmenschlichen Vorstellungen ihrer syrischen Familie und der saudischen Gesellschaft, die für die vermeintlichen Extravaganzen von Rana nur brutale Strafen vorsieht. Nach ihrer Scheidung findet sie mühsam den Weg in einen Beruf. Aus den ihr herzlos erscheinenden Einschränkungen im täglichen Leben flüchtet sie in die Freiheiten des Internets und stößt dabei auf atheistische Gruppen und Kontakte. Letztendlich sagt sie sich von ihrem Glauben los, eine Entscheidung, die in Saudi-Arabien und in ihrer Familie mit lebensgefährlichen Konsequenzen verbunden ist. Nach einem Selbstmordversuch gelingt ihr dank Unterstützern aus den sozialen Netzwerken die Flucht nach Deutschland. Hier findet sie die Unterstützung vieler Menschen und kann endlich ein freies Leben führen als Physikerin und Aktivistin führen.

Rana Ahmeds Bericht über ihr Leben in einer zutiefst rigiden Familie und Gesellschaft verknüpft die Darstellung des diskriminierenden Umgangs mit Frauen mit der Schilderung der Flüchtlingsschicksale. Die Autorin erzählt sehr offen und bewegend, dabei durchaus selbstkritisch und differenziert. Interessante Aspekte sind das Schicksal syrischer Einwanderer in Saudi-Arabien und die Erbarmungslosigkeit der rigiden religiösen Überzeugungen gegenüber Kritik oder Atheismus. 

Rana Ahmed/ Sarah Boukafa: Frauen dürfen hier nicht träumen. Mein Ausbruch aus Saudi-Arabien, mein Weg in die Freiheit. Btb-Verlag. München.2017. 320 Seiten. 16 Euro

Mehr Kopf als Tuch – muslimische Frauen am Wort

Junge Musliminnen aus Österreich und Deutschland schreiben über ihr Leben in einer Gesellschaft, in der sie allzu schnell in eine Schublade der unterdrückten Frau gesteckt werden. In diesem Buch kommen sie mit ihren Anliegen und vielfältigen Themen zu Wort. Von der gesellschaftskritischen  Analyse bis zu sehr persönlichen Erzählungen offerieren sie den Lesern eine Palette unterschiedlicher Lebensentwürfe und verblüffende An- und Einsichten. Ein sehr empfehlenswertes Büchlein  für Menschen, die den Perspektivwechsel schätzen.

Amina Abuzahra (Hrsg.): Mehr Kopf als Tuch – muslimische Frauen am Wort. Tyrolia-Verlag. Innsbruck-Wien 2017. 172 Seiten. 14,95 Euro

Maghreb, Migration und Mittelmeer. Die Flüchtlingsbewegung als Schicksalsfrage für Europa und Nordafrika

von Wolfgang Freud

Maghreb-Literatur deutscher Zunge ist im Vergleich zu dem, was auf dem französischsprachigen Büchermarkt zu diesem Thema existiert, hauchdünn gesät. Das trifft auf den im engen Sinne akademischen Bereich wie auch für Bücher zu, die sich an einen breiteren Leserkreis wenden; der Grund? - Cherchez l’Histoire !

Frankreich hat den zentralen Maghreb, d.h. die nordafrikanischen Länder Tunesien, Algerien und Marokko bis zu rund 130 Jahren kolonisiert, während die Deutschen auf diesem Gebiet in ganz anderen Weltgegenden tätig gewesen waren, einmal abgesehen von Kaiser Wilhelms II. „Panthersprung nach Agadir“ (1911) oder Erwin Rommels Afrikakorps mit seinem nordafrikanischen „Gastspiel“ im 2. Weltkrieg. Die nach 1945 erfolgte deutsche Maghreb-Invasion, in diesem Falle Tunesiens und Marokkos, war und ist bislang massentouristischer Natur. Eine soziokulturell wechselseitige Durchdringung „Maghreb-deutscher Sprachraum“ von einer Vielfalt, wie sie zwischen den Maghreb-Ländern und Frankreich seit Generationen existiert, gibt es nicht.
Nur ein Beispiel: Couscous, die nordafrikanische Variante der italienischen Pasta, gehört längst zu Frankreichs volkstümlichsten Gerichten, gar nicht zu reden von arabisch-maghrebinischen Wendungen, die im Alltagsfranzösischen heimisch geworden sind wie etwa „voir le toubib“ (einen Arztbesuch machen), „aller vivre au bled “ (aufs Land ziehen), „c’est kif-kif “ (ist egal), „complètement mahboul “ (total verrückt), „t’as eu la baraka“ (du hast Glück gehabt) oder auch „fissa-fissa“ (schnell-schnell) und vieles andere mehr. Desweiteren hat ein unterhalb der Gürtellinie liegendes Konvolut arabischer Flüche und Schimpfwörter das Strassenfranzösisch seit Langem bereichert, geradezu wiederbelebt. Selbst ein „Inch’allah“ ( = wenn Gott will, steht ganz einfach für „hoffentlich“) hört man hin und wieder aus stockfranzösischem Mund. Auf Deutsch haben wir nichts Vergleichbares, allenfalls mit Bezug auf das Jiddische, doch da gerieten wir rasch in eher unerfreuliche Zusammenhänge. - Ansonsten: kein Deutscher witzelt oder flucht ... auf Türkisch. In dieses Bild gehört auch, dass viele zentralmaghrebinische Autoren auf Französisch schreiben, darum bemüht, ihre Bücher in Frankreich zu veröffentlichen.
Das Buch in Sachen Maghreb und Migrationen von Beat Stauffer, Jahrgang 1953, Deutschschweizer aus Basel, musste deshalb unsere Aufmerksamkeit erwecken, zumal der Autor, u.a. Journalist bei der Neuen Zürcher Zeitung, in der Schweiz als hervorragender Maghreb-Kenner gehandelt wird. „Hervorragend“ ist er auf jeden Fall; denn auch in der Schweiz wimmelt es nicht gerade von Maghreb-Spezialisten. Er spricht viele Problemkreise im Rahmen seines geografischen Themenraums an und verknüpft sie zu deutlichen Einsichten, die weiteres Nachdenken geradezu aufdrängen. Das pädagogische Tatziel von B. Stauffer, beim Leser „Aha“-Reaktionen hervorzukitzeln, wird erreicht.
Das Buch ist andererseits sehr Tunesien-zentriert; offenbar hat der Autor zu diesem Land besondere Beziehungen entwickelt. Tunesien als Modellfall für den Maghreb, zu dem geopolitisch verstanden auch Libyen und Mauretanien gehören? Seine Sicht der Dinge tendiert ein wenig in diese Richtung. Tunesien ist aber auch vielfach „anders“ als die beiden „Brüder“ des zentralen Maghrebs Algerien und Marokko, von der weiter gefassten arabischen Welt erst gar nicht zu reden. Habib Bourguiba, Begründer und erster Staatspräsident des unabhängigen Tunesiens (1956-1987) formuliert deutlich: „Alles, was östlich von Ben Gardane  liegt, ist vom Übel.“
Das nach 2011 „demokratisch“ gewordene Tunesien hat eine eher ungewöhnliche „postrevolutionäre“ Entwicklung durchlaufen. Die Abwendung vom Regierungsstil des vorausgegangenen „Demokrators“ Zine Abedine Ben Ali (1987-2011), hin auf effektiven parlamentarischen Pluralismus mit neuen bürgerlichen Freiheiten und Zurückdrängung des Faktors „Islam“ im politischen Geschehen ist einmalig in der kurzen Geschichte des sonstwo weitgehend verdunsteten „Arabischen Frühlings“. Wichtigster Faktor, der den tunesischen Sonderweg erklärt: die totale rechtliche Gleichstellung der tunesischen Frau gegenüber dem Mann, und dies seit 1956, dem Jahr der politischen Unabhängigkeit. Sodann: die staatlich geförderte arabisch-französische Zweisprachigkeit des Landes. Habib Bourguiba machte daraus geradezu ein nationales Dogma. Der in Paris ausgebildete Jurist hatte rasch verstanden, dass Tunesiens Zukunft nur durch eine vielfältige Anbindung Tunesiens an das nahe Europa gesichert bleibt. Schließlich: von rund 11 Millionen Tunesiern besitzt aus verschiedenen Gründen eine gute Million die doppelte tunesisch-französische Staatsangehörigkeit. Und was Beat Stauffer überhaupt nicht anspricht: die iberisch-moriskische Komponente der tunesischen Zivilisation, die sich in dieser ausgeprägten Form weder in Algerien noch in Marokko erhalten hat, z.B. heute noch erkennbar an der andalusisch geprägten Architektur eines Städtchens wie Testour, 80 km westlich von Tunis auf dem Weg nach Algerien. Oder auch in einer sehr „andalusisch“ geprägten Esskultur und Musik. Der tunesisch-arabische Dialekt wimmelt von „spanischen“ Brocken, die nirgendwo sonst im Maghreb vorkommen oder als solche verstanden würden: Migrationserbe aus den Jahrzehnten und Jahrhunderten der spanischen Inquisition.
Zurück zu B. Stauffers das ganze Buch durchziehendem roten Faden, dem chaotischen Verlauf der „Völkerwanderung“ zwischen den Maghreb-Ländern und Europa. Seine Analysen treffen ins Schwarze. Er zeigt auf, dass wir, die immerklugen „Westler“, davon nichts im Griff haben. Entweder betreiben wir Mitleidskultur wie „die armen Menschen aus dem schrecklichen Maghreb und Afrika müssen mit offenen Armen aufgenommen werden!“ oder zeigen rassistisch, neonazistisch aufgeheiztes Gebaren, white man’s Überlegenheit trompetend: „Wir wollen in Europa weder Araber noch Neger!“ Solche Attitüden sind naiv wie widerlich und liegen jenseits aller sozialen, wirtschaftlichen und politischen Fakten, mit denen sich die Menschheit „mit Migrationshintergrund“ konfrontiert sieht. Einsetzend mit der großen „Völkerwanderung“ ausgelöst vom Ansturm der Hunnen in den vierten, fünften und sechsten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, sowie deren „multi-verursachten“ Wiederholungen, territorial beschränkte wie auch weitergreifende ... und zwar mit open end, ließe sich vermuten.
Beat Stauffer versucht Lösungen aufzuzeigen, jenseits von Mitleidskultur oder white man’s Rassismus; intelligent, schweizerisch-pragmatisch geht er vor. Doch ist es mehr als Herumdoktern an Symptomen, wie etwa der Versuch, Asyl- oder sonstige Migrationsanträge in europäische Botschaften der jeweiligen Herkunftsländer „zurückzuverlegen“? Ob eine solche „Massnahme“ zur Eindämmung „illegaler“ Migrationsströme führen kann, steht in den Sternen geschrieben; denn der entscheidende Auslöser „realexistierender“ Migrationen bleiben wohl die kommunizierenden Röhren, wo das Übervolle unaufhaltsam ins Leere drängt.

Nochmals zu Tunesien, dem maghrebinischen Modellfall aus Stauffers Sicht: viele Tunesier vor allem der jüngeren Generationen bezeichnen ihre neue postrevolutionäre „demokratische Republik“ als „Schizoland“, d.h. schizophren, bewusstseinsgespalten zwischen Allahu-Akbar-Islamismus und französisch geprägter Westlichkeit. Beide Bewusstseinslagen gehören zur tunesischen DNA-Struktur wie auch, entsprechend, zu jener des gesamten zentralen Maghrebs. Das Buch zeigt an hautnahem Geschehen sowie ausführlichen Interviews mit direkt Betroffenen, z.B. Anwärter für „Schlauchbootmigration“ übers Mittelmeer, wie die jeweiligen Elemente unauflösbar ineinander verhakt sind. Unauflösbar. Nur beiden Tendenzen gerecht zu werden, könnte zu tragfähigen Lösungen führen.  Der Gedankenblitz, der eine derartige Quadratur des Kreises gestattet, hat jedoch bislang nirgendwo eingeschlagen.
Die örtliche Grosswetterlage bleibt somit weiterhin elektrisch hoch aufgeladen. Schwere Gewitterstürme sind jederzeit möglich, mit Schockwellen bis weit nach Europa hinein.

Beat Stauffer: Maghreb, Migration und Mittelmeer. Die Flüchtlingsbewegung als Schicksalsfrage für Europa und Nordafrika. NZZ Libro. Basel 2019. 320 Seiten. 38,00 €.

Der Fluch der bösen Tat – Das Scheitern des Westens im Orient

Hände weg vom Orient! So lautet die Botschaft des bekannten Journalisten und Orientexperten Peter Scholl-Latour an westliche Regierungen und Medien auch in seinem letzten Buch, an dem der über Neunzigjährige vermutlich bis zu seinem Tod geschrieben hat. In einer Bestandsaufnahme zur Situation im Nahen Osten und der Türkei beschreibt Scholl-Latour die von brutalem Chaos und  unendlichen, sich immer verändernden Kriegen und Konflikten zerrissenen Staaten der Gegenwart bis 2014.

Wie gewohnt prangert er die überheblichen Fehleinschätzungen der westlichen Welt und deren dogmatischen Vorstellungen über die Einführung von Demokratiemodellen und ihre opportunistischen Wirtschafts- und Machtinteressen an, ihre Intervention zur Befriedung der Region. Die seit der Kolonialzeit erfolgten Eingriffe, die als Fluch der bösen Tat - wie Öl aufs Feuer - wirkten, Konflikte auslösten und eskalieren ließen. Neben Ägypten, Syrien, Irak, Türkei und Iran weitet er seine Betrachtung  auch auf Algerien und den Kaukasus aus.

Er holt dabei weit aus, präsentiert ein profundes Detailwissen über die Kultur und Geschichte der Region, über die Religionen und Traditionen. Diese ergänzt er mit eigenen Erlebnissen und Erfahrungen seit seinem ersten Besuch dieser Region im Jahre  1952 bis zu seinem letzten Besuch als fast neunzigjähriger in der Grenzregion Türkei/ Syrien im Jahre 2014.

Ein interessantes Buch mit querdenkerischen Ausführungen, vielen Informationen und spannenden sehr authentischen Erlebnissen aus vielen Jahrzehnten. Durch seine Struktur - mit persönlichen Erinnerungen aus verschiedenen Zeiten, Verknüpfung aktueller und geschichtlicher Ereignisse, teilweise sehr detaillierten historischen Exkursionen – ist es keine einfache Lektüre.  Berührend sind seine Leidenschaft, sein Verständnis für orientalische Denkweisen, seine Ehrlichkeit und Furchtlosigkeit, sowie Respekt vor Menschen mit fremden Identitäten.

Das Vermächtnis von Scholl-Latour verdeutlicht in besonderem Maße die verzweifelte Ausweglosigkeit der Entwicklungen in diesen Staaten, bedingt durch Einmischungen westlicher Staaten in eine Region, die man besser ihren eigenen Vorstellungen überlassen hätte.

Peter Scholl-Latour: Der Fluch der bösen Tat – Das Scheitern des Westens im Orient. Propyläen-Verlag, Berlin 2014. 352 Seiten. 24,99 Euro

Die Barke des Re- Gesamtausgabe der Romantrilogie aus dem alten Ägypten

Eine junge Deutsche gerät bei einem Besuch des Tempels in Abu Simbel auf eine Zeitreise in die Regierungszeit von Pharao Ramses VII. Unter dem Namen Satra erscheint sie hier wegen ihrer unbekannten Herkunft als Geschenk des Gottes Osiris. Sie verpflichtet sich sowohl Osiris als auch dem gottgleichen Pharao und seinem Freund, dem Oberpriester im Osiristempel in Abydos zu dienen. Die für die altägyptische Umgebung sehr ungewöhnliche fremdländische junge Frau weckt schnell das Interesse mehrerer mächtiger Männer. Schnell wird sie verstrickt in einen Strudel von Verrat, Intrigen und Machtkämpfen.

In einem gemäßigten Sience-Fiction-Ansatz schildert der Roman lebhaft die Welt des Pharaos Ramses VII. und seines Hofes. Der Nachfolger des berühmten Pharaos Ramses II herrschte nur wenige Jahre um etwa 1100 vor Christus. Die Leser begleiten Satra durch die Machtzentren Memphis, Theben, Heliopolis, Abydos und mythische Halle des geheimen Wissens. Sie erleben den Niedergang des Reiches und den Tod des Pharaos im Kampf gegen fremde Eindringlinge.

Auch wenn der Roman schon aufgrund des Volumens langatmig wirkt, ist er anschaulich und spannend geschrieben und zum Schmökern in Mußestunden gut geeignet.

Anke Dietrich: Die Barke des Re- Gesamtausgabe der Romantrilogie aus dem alten Ägypten. Via tolina Media. 2019. 1298 Seiten. 9,99 Euro

Krieg vor der Haustür - Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können

von Wolfgang Freund

Beide Autoren dieses Buches könnte man aufgrund ihres beruflichen Werdegangs und ihrer (vielleicht) eigenen Frohnatur in der Kategorie „Gutmenschen“ verorten. Wie sich das auf den Stil ihrer Darlegungen auswirken mag, ist natürlich eine andere Frage. Sowohl Sarah Brockmeier (geb. 1987) als auch Philipp Rotmann (geb. 1980) sind Politologen und stammen aus dem nationalen bzw. internationalen Friedenszirkus ohne Frieden, wie Auswärtiges Amt mit Afghanistan-Erfahrung (Rotmann) und Vereinte Nationen in New York (Brockmeier). 

Sie wirken heute am Global Public Policy Institute (GPPi), einem in Berlin festgemachten Think Tank, wo über den Weltfrieden bzw. dessen gelegentliches Nichtvorhandensein nachgedacht wird. Wie gesagt Think Tank, kein(e) Action Tank(s). Das vorliegende Buch versteht sich als Frucht solcher Bemühungen.

Doch zunächst einmal: wo genauer liegt diese „Haustür“ eigentlich? Vor einer Handvoll Jahrzehnten wäre die Antwort ziemlich klar gewesen: gesehen aus der deutschen inneren Linie wohl die jeweilige „Reichsgrenze“, wie es damals noch hieß. Heute, im Zeitalter des sich gegen alle zyklischen Politfluten und -orkane dennoch allmählich zusammenstückelnden Europas liegen diese „Haustüren“ vielleicht woanders, etwa auf Zypern, hinter Sizilien, Kreta, Südspanien oder Nordmarokko mit den spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, möglicherweise bald wieder am Ärmelkanal (could Brexit do it?), aber auch an der polnisch-russischen Grenze oder sonstwo auf dem Balkan ... Richtung Asien, versteht sich.
Echt „kriegeln“ tut es schließlich in der östlichen Ukraine, im Vorderen Orient als einer Art pseudo-olympischer Flamme (Türkei, Syrien-Irak, Afghanistan, Israel-Palästina, Iran, Saudi-Arabien, Jemen usw.), sodann Libyen, Mali. Und das sind nur die lichterlohen, von weitem sichtbaren hotspots solcher Zustände. Das Gerücht hingegen, Franzosen und Italiener könnten sich demnächst wieder bekriegen, sei als massive verschwörungstheoretische Verirrung beiseite gelassen. Trotz des wenig europafreundlichen Getues von gilets jaunes und cinque stelle sowie anderen Gesinnungskameraden von Rechtsaußen quer durch den Alten Kontinent. Immerhin gilt weiterhin die von Jean Cocteau getroffene Feststellung, dass Franzosen nichts anderes sind als „Italiener, die schlechte Laune haben“. Warum sollten dieselben sich also ernsthaft prügeln? Es bliebe wohl, wie fast immer unter römischen Ur-Ur-Urenkeln, auf dem Niveau eines Familienstreites.
Ja, die „Europawelle“ flaut derzeit spürbar ab. Hier vermuteter Hauptgrund: die neuen Generationen haben keine eigenen Erinnerungen mehr daran, was wirkliche Kriege wie etwa der Zweite Weltkrieg an Scheußlichkeiten für betroffene Individuen und Menschengruppen an die jeweils existenzielle Oberfläche spucken. Auch neunmalkluge „Friedensstifter“ schaffen das nicht. Man muss mit dem eigenen Leib auf der passiven Seite der Ereignisse gestanden haben, um verstehen zu können, was in kriegsgeschüttelten Regionen tatsächlich abläuft. Selbst eigene, auf Zeit empirisch gewonnene Erfahrungen – in Afghanistan oder einem anderen Hexenkessel – bringen es nicht; denn solches Geschehen findet gerade derzeit aus unserer Perspektive immer an Örtlichkeiten in weiter Ferne statt, „dort wo die Völker aufeinanderschlagen“, wie schon Goethe zu wissen glaubte. Die persönlichen Betroffenheiten bleiben indirekt und relativ, es geht nie voll ans Eingemachte. Der heute beobachtende oder auch handelnde „Spezialist“ hat seinen Flugschein back home in der Tasche, was um ihn herum auch immer explodieren mag. Da und dort lässt ein UNO-Soldat oder NGO-Experte trotzdem seine Haut; aber die Regel ist das nicht. Die Meisten kehren unversehrt nach Hause zurück sowie mit einem die erfahrenen Widrigkeiten vergessen lassenden Saldo in schwarzen Zahlen auf ihrem Bankkonto.
Selbstverständlich bietet das Buch Lesenswertes. Ein alle Kapitel durchziehender Roter Faden sei hier als herausragendes Beispiel erwähnt. Es ist das Phänomen des „Autopiloten“, wie die Autoren es ausdrücken. Gemeint ist damit der Vorgang, dass Dinge wunderbar wie von alleine laufen, da von einer individuell nicht mehr kontrollierbaren Automatik gesteuert, wenn man sie erst einmal administrativ so richtig in Gang gebracht hat. Kleine Illustrierung: eine größere Gruppe Jesiden im nördlichen Irak war vor den sie verfolgenden und zuschlagenden Daech-Islamisten in eine naheliegende unwegsame Bergwelt geflüchtet, wo es aber nicht das Geringste zu essen und keinen Tropfen Wasser gab. Es wird somit im Generalstab der die Daech-Islamisten bekämpfenden multinationalen Koalition beschlossen, über den von jesidischen Flüchtlingen inzwischen bevölkerten Bergen entsprechende Hilfsgüter (Zeltplanen, Nahrungsmittel, Trinkwasser, Medikamente, ja sogar Waffen usw.) an Fallschirmen vom Himmel abzuwerfen. Zunächst funktionierte alles. Die Jesiden aber flohen weiter, doch die Hilfsgüter fielen immer noch aus luftiger Höhe, in eine nunmehr „jesidenreine“ Bergwelt, d.h. ins Leere oder auch in die Hände der sie verfolgenden Daech-Banditen. Der administrative „Autopilot“ konnte nicht mehr rechtzeitig abgestellt oder umprogrammiert werden. Eine Massnahme kippt in ihr Gegenteil. Und das ist nur ein kleines Beispiel, „idealtypisch“ aufbereitet, unter vielen. Helfer werden zu „Schreibtischtätern“, die nicht mehr wissen, was sie tun, beziehungsweise: die Beruh- und Betulichkeit ihrer Funktion wird am besten dadurch erhalten, dass dieselben ungebremst weitertun, was sie einmal angeworfen haben. Die Folgen vor Ort? Nicht ihr Problem. Das ist eine wichtige Lektion, die dem Buch entnommen werden kann. Anders formuliert: je ferner die „Zentrale“, desto abstruser droht deren Handeln zu werden, unter der Einwirkung des „Autopiloten“ bezogen auf einen bestimmten Globuspunkt und die Entwicklung der Dinge vor Ort.
Die Autoren entlarven den „Autopiloten“ in seiner Rolle des perfiden Krümelmonsters an einer ganzen Reihe von Stellvertreterkriegen, die gerade geführt wurden oder weiter geführt werden. So appellieren sie etwa an Individuen und geeignete Vereine, an Medien, Politiker, Parteien und sonstige gesellschaftlich relevante Gruppen Druck auszuüben, um das Aufkeimen von Gewalt in Europas Nachbarschaft auszutrocknen oder erst gar nicht entstehen zu lassen. Viele Empfehlungen „was wir dagegen tun können“ (Buchtitel) und was besser gemacht werden könnte, wirken jedoch eher blauäugig. Auch verhaspelt man sich da oder dort in Details und verliert damit den Röntgenblick auf die grossen Zusammenhänge, die weltweit die verschiedenen Kriegsspiele verursachen. Der Stil der Autoren kommt oft ein bisschen hausbacken daher. Büroluft weht durch die Seiten. So mögen Leser, die von den Hintergründen des beschriebenen Geschehens schon Einiges wissen, sich mitunter langweilen.

Bleiben als Ergebnis schließlich „Wasser und Nutellabrötchen“ für direkt Betroffene? Man legt das Buch aus der Hand, ohne auf diese rhetorische Frage der Autoren eine klare Antwort gefunden zu haben.
Also „Krieg vor der Haustür“? Man kann halt nie so recht wissen. Wir leben alle auf einem blubbernden Vulkan. Und vielleicht mag es, mutatis mutandis, auch einmal so kommen, wie schon vor Jahrzehnten karikiert: ZK-Generalsekretär Stalin sitzt hinter seinem Büro im Kreml, da salutiert ein Ordonnanzoffizier und meldet: „Genosse Generalsekretär, draußen auf dem Roten Platz gibt es einen Menschenauflauf von 12 Personen, und sie essen ... was tun? Stalin: „Na und? Lasst sie doch essen!“  Eine halbe Stunde später: „Genosse Generalsekretär... es sind jetzt 100 Personen, und sie essen ...?“ Stalin, leicht gereizt: „Ich hab’ doch schon gesagt: lasst sie essen!“ Die Szene wiederholt sich in den nächsten Stunden, mit 1.000, 10.000, 100.000 Menschen, und alle Gemeldeten essen weiter. Stalin tobt ob der Borniertheit seines Melders, läuft schliesslich puterrot an und droht diesem mit sofortiger Verbannung nach Sibirien. Doch dieser fasst letzte Reste seiner Kominterncourage zusammen und stottert: „Ja, Ge-geno-osse Ge-ge-generalsekretär; aaaa-ber da draußen ist es jetzt eine Million, und sie alle essen mmmitt ... Stäbchen!“   

Sarah Brockmeier/ Philipp Rotmann: Krieg vor der Haustür. Die Gewalt in Europas Nachbarschaft und was wir dagegen tun können. Verlag J.H.W.Dietz Nachf.  Bonn 2019. 240 Seiten. 22,00 €.