Iftah ya simsim! Eine interessante Geschenkidee zum Spielen und Singen für Kinder. Absolut lesenswerte und ganz aktuelle Erscheinungen sind zwei auf historischen Fakten basierende Romane von Hein und Hertmans. Zum Schmökern sind die faszinierenden historischen Romane Werke von Amin Maalouf. Der französische Autor mit libanesischen Wurzeln wurde vielfach ausgezeichnet, weil er kenntnisreich, unterhaltsam und mit großer menschlicher Empathie und erzählerischem Können die Geschichte des Nahen Ostens und des Mittelmeerraums vor seinen Lesern entfaltet.  In zwei bahnbrechenden Sachbüchern sind zum einen die Erkenntnisse der beiden Religionswissenschaftler Korchide und von Stosch zum Jesusbild im Islam dargelegt und zum zweiten Shereen el Fekis Forschungen zur Sexualität im Arabischen Raum veröffentlicht. Mit Mohamed Bissati empfehlen wir einen eher unbekannten ägyptischen Schriftsteller, denn sein Büchlein „Hunger“ geht unter die Haut.

iftah ya simsim: Spielend den Orient entdecken

Als Motto zur Einführung sind die bekannten Goetheschen Verse aus dem west-östlichen Diwan zu lesen: „Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen". Es folgen zu ausgewählten Themen des Orients gründlich recherchierte Sachinformationen, fantastische Geschichten zum Vorlesen, Spiele, Basteleien und Rezepte.

Ziel des Praxis-Buches ist die Annäherung der Kulturen und Integration in Kindergruppen. Es enthält gute Ideen und Impulse für Kindergarten, Grundschulfeste und Kinderpartys.

Sybille Günther, Vanessa Paulzen: Iftah ya simsim - Spielend den Orient entdecken (Kinder spielen Geschichte) Okotopia-Verlag Münster 2008, 19,99 Euro 144 Seiten

Pit Budde, Ahmed Bektas: Iftah ya simsim. Audio-CD: Orientalische Lieder und Tänze für Kinder (Ökotopia Mit-Spiel-Lieder), 9,99 Euro

Die Orient-Mission des Leutnant Stern

Eine falsche Zirkustruppe fährt nach Beginn des ersten Weltkriegs von Berlin nach Istanbul, um den Lauf der Geschichte zu ändern. Unter Führung von Edgar Stern, einem jüdischen Leutnant der preußisch-kaiserlichen Armee, reist eine als Artisten getarnte Gruppe von 14 muslimischen Kriegsgefangenen aus der französischen Armee undercover in das damalige Konstantinopel. Das sich im 1. Weltkrieg unterlegen fühlende deutsche Kaiserreich und das schwächelnde osmanische Reich haben sich verbündet. Gemeinsam wollen sie den in Deutschland erarbeiteten Plan umsetzen, dass der Sultan den Heiligen Krieg ausruft, damit die Achsenmächte England, Frankreich und Russland geschwächt werden. 

Im Auftrag der deutschen Regierung sollen die getarnten Artisten den vom türkischen Herrscher ausgerufenen weltweiten Dschihad unterstützen. Nach einer abenteuerlichen Reise zur pompösen „kick off“-Veranstaltung stellt sich die Umsetzung dieses Plans jedoch als ausgesprochen hindernisreich heraus, zumal von britischer Seite Bemühungen im Gange sind, das moslemische Lager zu spalten.

Der wie Sciencefiction anmutende Roman beruht auf wahren historischen Ereignissen aus der europäisch-islamischen Geschichte. Erzählt wird ein Strauß bizarrer Geschichten aus ganz unterschiedlichen Perspektiven der handelnden Personen. Das Buch vermittelt unglaubliche Eindrücke, die, erzählerisch gekonnt ausgeschmückt und dargestellt, Einblick in historische Fakten geben und geradezu konsternierende Parallelen und Zusammenhänge zu aktuellen Geschehnissen aufzeigen. Ein wahrer Lesegenuss mit verblüffenden Erkenntnissen.

Jakob Hein: Die Orient-Mission des Leutnant Stern. Galiani-Verlag. Berlin 2018. 241 Seiten. 18.00 Euro

Die Fremde

In der Ben-Esra-Synagoge in Altkairo wurde im 19. Jahrhundert ein wahrer Schatz an Dokumenten aus einem ganzen Jahrtausend jüdischer Kulturgeschichte gefunden. Darunter befindet sich auch ein Schriftstück aus dem Jahre 1096. Es ist ein von einem Rabbiner verfasster Begleit- und Schutzbrief für eine junge Proselytin, die aus Liebe zu ihrem Ehemann ihre christliche Familie verlassen hat und zum jüdischen Glauben übergetreten ist. 

Nachdem in dem südfranzösischen Dorf Monieux in den gewalttätigen Wirren der Kreuzzüge bei einem Progrom ihr Mann ermordet und ihre zwei Kinder verschleppt worden sind, macht sich die Witwe auf den Weg nach Jerusalem, um ihre Kinder zu suchen.

Im Roman macht sich der Ich-Erzähler mehr als 1000 Jahre später auf die Spurensuche nach dieser jungen Frau und rekonstruiert mit den wenigen Informationen aus dem antiken Dokument die Liebes- und Fluchtgeschichte von David, einem sephardischen Juden, und einer jungen Christin aus vermutlich adeligem Haus. Für seine Erzählung wählt Stefan Hetmans die nordfranzösische Stadt Rouen als Ausgangspunkt und eine normannische Patrizierfamilie für die Herkunft der jungen Frau aus. Behutsam projiziert er die Spuren der beiden in die französische Landschaft, wobei sich die parallel mitlaufende Gegenwart des Ich-Erzählers mit den historischen Schauplätzen verknüpft. Poetische, von Liebe zur französischen Landschaft geprägte Beschreibungen wechseln mit Erzählungen über die Flucht der beiden Protagonisten. Der Erzähler folgt den Spuren der Witwe über Marseille, Palermo und Alexandria nach Kairo, wo sie in Fustat auf eine große jüdische Gemeinde trifft, in der sie wohlwollende Aufnahme findet.

Stefan Hertmans rekonstruiert die Welt des 11. Jahrhunderts und beschreibt eine chaotische Übergangsphase von der Zeit des Religionsfriedens in die Phase religiöser Intoleranz und eines sich ausbreitenden Fanatismus. Machtgierige Herrscher inszenieren und befeuern unvorstellbare Gewaltexzesse und Gräuel für die Menschen. Indem das alltägliche Leben und die Leiden der handelnden Personen übergangslos neben schlicht gehaltenen Aussagen zum weltpolitischen Geschehen stehen, entsteht die ungeheure Spannung in der Erzählung.

Seine historische Recherche füllt Hertmans mit feinfühliger, teilweise poetisch anmutender Phantasie. Überzeugend und mitfühlend stellt er die gefühlte Fremdheit der Heldin dar und dadurch ein heute besonders aktuelles Motiv.

Stefan Hertmans: Die Fremde. Hanser -Verlag.Berlin 2017, 23 Euro. 304 Seiten

Sex in der Zitadelle – Männer, Frauen, Sex und Selbstbestimmung in der arabischen Welt

Shereen el Feki ist promovierte Molekularbiologin und Journalistin. Bei ihren Recherchen und Berichten über die globale AIDS-Epidemie entsetzten sie einerseits die beängstigend hohen Infektionsraten für die Sub-Sahara, Osteuropa und Asien, die von der zuständigen UN-Organisation UNAIDS publiziert wurden. Andererseits verblüffte sie, dass die vergleichsweise geringe Zahl an Infektionsfällen im arabischen Raum nur einen Bruchteil der Fälle in anderen Regionen der Welt ausmachte. 

Stutzig ob dieser bemerkenswerten Diskrepanz begann sie mit der Erforschung der Ursachen. Über fünf Jahre sammelte sie Informationen und Fakten in persönlichen Begegnungen und Interviews mit Betroffenen, Wissenschaftlern, Ärzten, Aktivisten vor Ort, ebenso wie in offiziellen Statistiken und Recherchen. Bei ihren eigenen Recherchen offenbarte sich der Autorin die Ursache der scheinbar geringen Infektionsraten vor allem darin, dass Sexualität ein Tabuthema darstellt, während in der Realität viele Menschen schutzlos Krankheiten ausgeliefert sind. Verzweifelt und allein gelassen haben sie mit physischen und psychischen Problemen zu kämpfen. So mag Sexualität in der arabischen Welt wie eine Zitadelle erscheinen: eine unbezwingbare Festung der heterosexuellen Ehe und Familie. In der Realität zeigen sich jedoch viele Brüche. Die Kluft zwischen Anschein und Wirklichkeit ist zurückzuführen auf einen kollektiven Widerwillen, sich mit einem Verhalten auseinanderzusetzen, das nicht dem Ehe-Ideal genügt, ein Widerstreben, das durch religiöse Interpretation und gesellschaftliche Konvention untermauert wird.

Unerschrocken, aber dennoch feinfühlig, erforscht Shereen el Feki den Alltag von Ehepaaren innerhalb und außerhalb des Schlafzimmers sowie die sexuelle Misere Jugendlicher und unverheirateter Menschen. Sie berichtet von bereits vorhandenen Ansätzen und Projekten, das sexuelle Minenfeld mit Sexualerziehung, Verhütung, Abtreibung und sogar als unverheiratete Mutter zu durchqueren. Offen schreibt sie über die vielen Nuancen der Sexarbeit in der Region sowie über die Situation von homo- und transsexuellen Menschen und gibt eine Einschätzung über eine mögliche zukünftige Entwicklung.

Bei der Recherche half zum einen ihr Amt als stellvertretende Vorsitzende der „UN-Kommission für HIV und Gesetzgebung, Global Commission for HIV and the Law,“ aber vor allem ihr persönlicher Hintergrund. Als Tochter einer irischen Mutter und eines ägyptischen Vaters wuchs sie in Toronto auf, fühlt sich jedoch tief mit ihrer ägyptischen Familie verbunden. Dies erleichterte ihr einen offenen und vertrauensvollen Zugang zu den Menschen sowie ein breiteres Verständnis. Gleichzeitig konnte sie sich dem heiklen Thema Sexualität im arabischen Raum mit der Unbefangenheit und dem Freiraum einer Außenstehenden nähern.

Darüberhinaus stellt die Autorin Sexualität in einen größeren gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang. So verweist sie u.a. auf längst vergessene Schriften aus der kulturellen und wirtschaftlichen Blütezeit im Abbasidenreich des 9. und 10. Jahrhunderts. In einem liberalen islamischen Glaubensverständnis wurden Schriften über Sexualität – Literatur, Poesie, medizinische Abhandlungen, Selbsthilfe-Handbücher – auch von religiösen Persönlichkeiten verfasst, die Glauben und Sexualität nicht als unvereinbar ansahen. Einschneidende Veränderungen führt die Autorin auf die Kolonialisierung der Region und die damit einhergehende europäisch-christliche Einflussnahme zurück. Der politische Niedergang der arabischen Gesellschaft löste konservative Gegenbewegungen aus, wie etwa die Gründung der Muslimbrüderschaft im Jahr 1928, in deren Folge es auch zu einer Neufassung von Gesetzen gemäß einer strengen Auslegung der Scharia kam. Bis heute sind es die rigiden Vorstellungen islamistischer Kreise, die Sexualität als Grundgefahr für eine gläubige Gemeinschaft darstellen. Beschneidung und das Postulat der Jungfräulichkeit bilden die Hauptpfeiler der sexuellen Fremdbestimmung und Kontrolle über Frauen.

Für Shereen el Fekki liegt in der selbstbestimmten Sexualität nicht nur der Schlüssel zu mehr Freiheit in patriarchalischen Familienstrukturen, in denen die Ehre der Frauen über allem steht. Sie sieht darin zugleich die Keimzelle für demokratischere Staatsgebilde. Denn demokratiefähig ist nur jemand, der auch in der Familie selbstbestimmt denken und handeln darf.

Veränderungsprozesse hält sie für unerlässlich und dringend erforderlich. Allerdings betont sie, dass die Entwicklung eines sexuellen Selbstbewusstseins aus der eigenen Kultur heraus und im Einklang mit der Religion und der arabischen Identität vonstattengehen muss. Der Westen biete wegen seiner grundlegenden historischen, religiösen und kulturellen Unterschiede nur wenig Orientierungshilfe.

Ihre Erkenntnisse stellen noch keine wissenschaftliche Feldstudie dar. Sie selber sieht unzählige Einschränkungen und möchte ihre Ergebnisse nicht als allgemeingültig darstellen. Auf jeden Fall sind ihre Veröffentlichungen ein erster mutiger Schritt und ein Anstoß, das Thema Sexualität zu verbalisieren und aus der Sprachlosigkeit hervorzuholen.

Shereen el Fekki möchte mit ihrer Veröffentlichung auch ein sprachliches Tabu brechen, denn - so stellt sie fest - für viele Aspekte der Sexualität existieren im Arabischen nur die Sprache der Wissenschaft oder ein obszöner Straßenslang. Insofern ist es bedauerlich, dass das Buch bereits in mehreren Sprachen erschienen ist, aber noch nicht ins Arabische übersetzt wurde.

Shereen El Feki: Sex in der Zitadelle – Männer, Frauen, Sex und Selbstbestimmung in der arabischen Welt. Hanser-Verlag. Berlin 2013. 416 Seiten. 17,20 Euro

Der andere Prophet - Jesus im Koran

Persönliche Gedanken zu einem islamo-christlichen „Jesus“ - Buch

 von Wolfgang Freund

 Im Islam gilt Jesus als der zweitwichtigste „Prophet“, gleich nach Mohamed. Doch mit dem christlichen Glaubenskern von Jesus als Doppelnatur, d.h. Mensch und Gott als „Gottes Sohn“ zugleich, können Moslems nichts anfangen. Für sie stellt die Lehre von der Dreifaltigkeit von Gott Vater, Gottes Sohn und dem Heiligen Geist  eine Irrlehre, wenn nicht ketzerische Vielgötterei dar.

Das gemeinsame Buchprojekt der beiden Wissenschaftler Mouhanad Khorchide, seit 2010 Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster und Leiter des Zentrums für Islamische Theologie, und Klaus von Stosch, Professor für Katholische Theologie und ihre Didaktik sowie Vorsitzender des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften an der Universität Paderborn, geht einen ungewöhnlichen Weg. Es ist der bislang erste Versuch, die Bedeutung von Jesus im Koran von islamischer und christlicher Seite zu erschließen. Sie zeigen, dass ein gemeinsamer Blick auf Jesus von islamischer und christlicher Seite nicht nur möglich ist, sondern unser Verständnis von Jesus und seiner Botschaft erweitert.

Das Buch verfolgt drei Ziele: Zuerst wird der Streit um Jesus im Koran historisch sehr präzise aufgezeichnet und analysiert und damit eine Grundlage geschaffen für ein produktives Miteinander von Christen und Muslimen heute. Zweitens will man zeigen, welche große hermeneutische Bedeutung die Auseinandersetzung mit der Christologie für ein adäquates Verstehen des Korans hat. Drittens bietet das Buch Perspektiven, wie Christen ihren Glauben an Jesus durch eine Auseinandersetzung mit dem Koran vertiefen und klären können.

Der Rezensent verdankt sein „Antenne“ für diese Thematik insbesondere seiner Frau. Als moslemische Tunesierin der „Bourguiba-Generation“ (geb. 1940) verfügte sie über eine tiefgehende double culture, islamisch-arabischer wie auch aufklärerisch-französischer Prägung, bei gleichzeitiger perfekter Handhabung beider Sprachen in Wort und Schrift, d.h. des Arabischen und des Französischen. Trotz allem war sie eine „gottgläubige“ Person geblieben und deshalb rasch auf das christliche Kerndogma gestoßen, wonach Jesus Christus eine Doppelnatur besäße. Er sei Gott und Mensch zugleich, in einer Person.

Als Moslemin blieb ihr nur, solches Dogma als Vielgötterei und finsteren Aberglauben abzutun. Sie tat dies aber nicht, sondern suchte weiter. Sie stieß schließlich auf eine Koran-Stelle, wo der „Prophet Jesus“ als Ruch Allah, also übersetzt als „Hauch“, „Wind“ oder „Geist Gottes“ bezeichnet wird. Die eher poetischen Ausuferungen der damaligen Sprachen in Rechnung stellend - bitte, siebtes nachchristliches Jahrhundert - ist es wohl vertretbar, die Brücke bis zum „Sohn Gottes“ zu schlagen. „Geist Gottes“ oder „Sohn Gottes“, wo ist da letztlich der Unterschied? Auf meine Frau hatte diese Entdeckung eine erstaunliche Wirkung. Sie konnte plötzlich halbe und ganze Stunden in christlichen Kirchen verbringen, gleichgültig ob römisch-katholischer, evangelischer oder orthodoxer Ausrichtung, um irgendwo in einer dunklen Ecke sitzend über die Sinnhaftigkeit dessen, was Ruch Allah eigentlich bedeuten mochte, zu grübeln. Ob sie das Problem für sich gelöst hatte, kann ich weder bezeugen noch ausschließen. Unsere gemeinsamen Diskussionen zum Thema blieben widersprüchlich, contradictoires, um ein französisches Juristenwort zu benutzen.

Ich erwähne diesen Abschnitt unseres Lebenslaufes deshalb, weil er für mich in einer hautnahen Weise das Kernanliegen dieses Buches resümiert: die notwendige Überwindung von theologisch-ideologischen Mantras, welche Hass und rechthaberisches Gezeter zwischen Juden, Christen und Moslems über Jahrhunderte wenn nicht Jahrtausende hinweg gekennzeichnet haben und weiterhin kennzeichnen. Wer in dieser Ecke landet, hat es bestimmt nicht mehr mit ewig gültigen Wahrheiten zu tun, sondern mit menschlichen Verirrungen und Obsessionen. Die beiden Buchautoren Mouhanad Khorchide und Klaus von Stosch gehen einen anderen Weg. Ohne ihre Herkünfte und damit verbundenen theologischen Überzeugungen zu leugnen, gehen sie aufeinander zu und meißeln das Gemeinsame heraus, dort wo es gemeinsam ist - oder sein könnte.

Vor allem aus diesen persönlichen Gründen besaß das hier präsentierte, überaus gelehrte Buch für mich eine besondere Anziehungskraft es aufmerksam zu lesen. Es ist mir nicht leicht gefallen, denn die Autoren - beide sind universitäre Spezialisten in ihren jeweiligen christologischen oder islamologischen Fachgebieten - scheuen sich nicht, einen religionswissenschaftlichen, theologischen Jargon voll auszufahren. Man muss sich da hindurchlesen, und einem Laien fällt das nicht immer leicht. Also Kirchenlatein auf der ganzen Linie? Nicht unbedingt, doch immerhin: Da und dort übertreiben Khorchide und von Stosch. Sie versuchen dann, einen mitunter eher einfachen Gedanken durch Jonglieren mit lateinisch oder arabisch angehauchten theologischen Seminarbegriffen zu überhöhen. Ich erinnere mich dann gerne der Empfehlung des Kölner Soziologen für Massenkommunikation, Alphons Silbermann (1909-2000), der in einer Vorlesung einmal gesagt hatte, ich zitiere aus der Erinnerung: „Und dann, meine Damen und Herren, einmal richtig Ketchup über die Frikadelle, um den Fleischgeschmack besser zu vertuschen!“ Er wollte damit die Unsitte gewisser Kollegen persiflieren, Banalitäten ihrer wissenschaftlichen Rede mittels geistigem Tiefgang suggerierender Fachsprache „noch wissenschaftlicher“ zu machen.

Dennoch ist dieses Buch wegen seiner mutigen und integrierenden Gedanken als Lektüre zu empfehlen. Ich persönlich solidarisiere mich weiterhin mit jenem „Glaubensbekenntnis“, welches der amerikanische, ehemals österreichische und von Haus aus protestantische Religionssoziologe Peter L. Berger einmal folgendermaßen zusammengefasst hatte, ich zitiere sinngemäß: „Eine Religion, die meinen innersten, intimen Überzeugungen voll gerecht würde, ist noch nicht erfunden.“

Mouhanad Khorchide / Klaus von Stosch: Der andere Prophet. Jesus im Koran. Verlag Herder GmbH. Freiburg im Breisgau 2018. 318 Seiten. 28.00 Euro

Hunger – Roman aus Ägypten

Eine sehr arme Familie lebt in einer ländlichen ägyptischen Kleinststadt und vegetiert in den täglichen von Hunger geplagten Alltagsroutinen. Der Vater ist antriebslos ohne regelmäßiges Einkommen, die Mutter versucht pragmatisch ihr Möglichstes, um an die täglichen Brotrationen zu gelangen und das Beste aus den Umständen zu machen. Ihre beiden Söhne leben zumeist vor sich hindämmernd in den Tag.

Die Leere des Magens breitet sich in einer end- und erbarmungslosen Kontinuität in Gehirn und Emotionen aus. Nur kurze episodenhafte Lichtblicke unterbrechen diese lähmende Starre, wenn Vater, Mutter oder auch die Kinder für kurze Zeit einmal eine Beschäftigung bei wohlhabenderen oder gutmütigen Menschen finden.

Al-Bissati stellt neben den individuellen Auswirkungen des Hungers auf die Familie auch die Familie in ihren dörflichen Verhältnissen dar und beschreibt an ihrem Beispiel, was für tausende andere Menschen im Lande und weltweit gültig ist: die Folgen des Hungers auf physische und psychische Konstitution, aber auch die Ursachen des Hungers, sowie die Fragwürdigkeit religiöser, karitativer und revolutionärer Aktivitäten. In einer schlichten, teilweise kargen Sprache und einer knappen Erzählweise werden existenzielle Vorgänge ebenso beschrieben wie gesamtgesellschaftliche Phänomene aus Sicht der Armen in einer dörflichen Umgebung. Eine gelungene Darstellung des Hungers und seiner Auswirkungen mit allgemeiner Gültigkeit.

Der in Kennerkreisen sehr geschätzte Autor Mohamed al-Bissati ist in Europa wenig bekannt. Dieser Roman lohnt sich zu lesen.

Muhammad al-Bissati: Hunger – Roman aus Ägypten. Lenos-Verlag. Basel 2010. 140 Seiten.17,50 Euro

Der Geograph des Papstes

Hassan al- Wazzan wird im Jahre 1488 in Granada als Sohn von Mohamed, dem Waagemeister geboren. Als Kind erlebt er die Vertreibung der Moslems aus Andalusien und ihre Flucht in das marokkanische Fes. Hier verlebt er seine Schulzeit und Jugend und erhält eine gute Ausbildung in dem damaligen Zentrum moslemischer Gelehrsamkeit. 

Schon früh nimmt ihn sein Onkel, Botschafter beim Sultan von Fes, auf seine Reisen bis nach Timbuktu im Herzen Afrikas mit. Als sein Onkel an einer schweren Krankheit stirbt, übernimmt Hassan die Leitung der Karawane, die am Niger entlang nach Nubien gelangt. In Assuan besteigt er ein Schiff, das ihn nach Kairo bringt, wo er 1513 während der dort grassierenden Pest eintrifft.

Hier kann er als Händler Fuß fassen, wird aber bald durch seine Liebschaft mit einer Tscherkessin, seiner späteren Frau, in die Machtkämpfe zwischen den Mameluken und den sich ausbreitenden Osmanen verwickelt. Er flieht mit seiner Frau und ihrem Sohn nach Marokko, wo er sich einer Rebellenarmee anschließt, die gegen die spanische Armee kämpft, die die nordafrikanische Küste besetzen will. Als die Osmanen weitere Gebiete erobern, kehrt Hassan mit seiner tscherkessischen Frau nach Kairo zurück, damit sie die dortigen Herrscher warnen kann. Trotzdem können die Türken Kairo besetzen und  es kommt zu einer mörderischen Vergeltungsaktion zwischen Mameluken und Osmanen. Hassan flieht mit seiner Frau und den Kindern und macht sich auf die Pilgerfahrt nach Mekka. Auf der Rückreise nach Marokko wird er von Sklavenhändlern entführt und nach Rom gebracht. Hier wird der gelehrte Muslim Papst Leo X. als Geschenk überreicht. Als Schützling des Papstes wird er darauf vorbereitet – im großen Ränkespiel der damaligen Machtinteressen – als Botschafter zwischen Osmanen, Arabern, dem Papst und den abendländischen Kaisern zu dienen. Mit seiner Konvertierung zum Christentum bekommt er den Namen Johannes-Leo verliehen. Später nennt man ihn wegen seines Aussehens auch Leo Africanus oder in der arabischen Übersetzung Youhanna al-Assad. Als Rom im Jahre 1526 von den kaiserlichen Truppen erobert und verwüstet wird, gelingen ihm die Flucht und Rückkehr nach Tunis.

Die Hauptperson des Romans ist einer historischen Person des 16. Jahrhunderts angelehnt. Als Ich-Erzähler schreibt er für seinen Sohn vierzig Jahre seines Lebens auf. In den vier Kapiteln: das Buch Granada, das Buch Fes, das Buch Kairo und das Buch Rom - beschreibt er die Natur und die jeweilige Gesellschaft, schildert die Hauptstationen und Irrfahrten seines eigenen Lebens und seine Abenteuer als Zeitzeuge. Ein sehr anschaulicher und lebendig geschriebener Roman. Wie auch die anderen Werke von Maalouf ist er detail- und kenntnisreich, spannend von der ersten bis zur letzten Zeile.

Amin Maalouf: Der Geograph des Papstes. Insel-Verlag Berlin 2012. 472 Seiten 9,99 Euro

Samarkand

Im Jahre 1072 kommt der bedeutendste persische Mathematiker, Astrologe, Philosoph und Dichter Omar Khajjam nach Samarkand, einer wichtigen Handelsstadt und Regierungssitz der türkischen Seldschuken. Der erst 24jährige ist berühmt und umstritten für seine Rubaijat, seine freidenkerischen Vierzeiler. Von vielen Zeitgenossen wird er als Ungläubiger verfolgt. In Samarkand beginnt er sein mit Rubaijat betiteltes Lebenswerk, das neben seinen in Versen gefasste Weisheiten auch Kommentare und Beschreibungen seiner Umgebung enthält.

Amin Maalouf breitet im ersten Teil des Romans das abenteuerliche Leben des sagenumwobenen Gelehrten in seiner damaligen Welt vor dem Leser aus, seine Beziehungen und Verstrickungen. Einer seiner frühen Gefährten und Protegés, Hassan Sabbah, ist der Gründer des berüchtigten Assassinen-Ordens.

Im zweiten Teil der Erzählung wird der Weg des lange verschollenen Manuskripts in die Neuzeit geschildert. Ein am Orient und Omar Khajjam interessierter Amerikaner entdeckt die Rubaijat zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei einem Aufenthalt in Persien zufällig bei einer persischen Prinzessin. Das Büchlein taucht in einer nicht minder turbulenten Zeit wieder auf: Persien wird gerade unter den Großmächten aufgeteilt. Der damalige Schah finanziert seine Regierung unter anderem über den Verkauf von Konzessionen an europäische Großmächte. Amerika tritt in einer ambivalenten Rolle als Unterstützer demokratischer Kräfte und als Konkurrent der traditionellen Großmächte auf. Machtpoker und Interessenschacher machen Absichten und Werke der im Sinne Omar Khajjams idealistischen freidenkerischen Parteien zunichte.

Schlussendlich geht die wertvolle Handschrift, der Inbegriff früherer orientalischer Weisheit, auf ihrer Reise nach Amerika mit der „Titanic“, dem Symbol der modernen abendländischen Technik, unter. Der Amerikaner ist der Erzähler in diesem Roman. Wie üblich werden historische Umstände, Szenerien und Abläufe in lebendiger und anschaulicher Weise sehr spannend erzählt. Das lesenswerte Buch ist reich an historischen Details von atemberaubender Aktualität.

Amin Maalouf: Samarkand. Insel-Verlag. Berlin 2015. 372 S. 10,00 Euro

Der Felsen von Tanios

In einem libanesischen Dorf um 1820 wird die schöne Lamia schwanger. Als ihr Sohn Tanios zur Welt kommt, ist nicht sicher, ob er der Sohn des feudalistischen Scheichs Francis ist – der auch über die Frauen des Dorfes verfügen darf – oder von ihrem Ehegatten abstammt. Der Junge entwickelt sich zu einem sehr intelligenten Kind und darf im Nachbarort die Schule besuchen, die ein englischer Pastor errichtet hat. Als die Übergriffe der ägyptischen Armee im Kampf gegen Osmanen und Engländer zu Umbrüchen in der dörflichen Gesellschaft führen, zerbricht auch das Leben des jungen Tanios. Nachdem sein Vater den mit den Ägyptern sympathisierenden Patriarchen ermordet hat, müssen die beiden nach Zypern fliehen. 

Von dort kehrt Tanios eines Tages zurück. Er arbeitet jetzt für die Großmächte England und Türkei, die seine Heimat okkupieren. Seine Unerfahrenheit inmitten der politischen Wirrnisse führt jedoch zu weiteren Zerwürfnissen. Kurz vor dem Happy End verschwindet er auf geheimnisvolle Weise und bleibt lediglich in den Dorflegenden erhalten; vor allem erinnert der nach ihm benannte Fels von Tanios an sein Geheimnis. Diese Legenden und Erinnerungen der Dorfältesten nimmt der Chronist und Erzähler des Romans auf, der zwei Generationen später hier geboren wird. Und als er schriftliche Dokumente aus der vergangenen Zeit entdeckt, beginnt er die Mythen und Legenden um Tanios und Lamia zu sammeln und ihr Schicksal und damit die Geschichte der Region zu erhellen und zu erhalten.

In seinem historischen Roman erzählt Amin Maalouf die Geschichte eines libanesischen Dorfes im 19. Jahrhundert, in Zeiten großer politischer Umbrüche. Mit wohlwollender Ironie und vorsichtigem Umgang mit der Wahrheit auf der einen Seite und ergreifend geschilderten Szenen auf der anderen gelingt ihm eine gelungene Verknüpfung von fiktiver Dokumentation und Erzählung. Besonders durch seine distanzschaffenden Brüche auf Erzählerebene gewinnt das Helden- und Legendenepos seine historische Glaubwürdigkeit.

Amin Maalouf: Der Felsen von Tanios. Suhrkamp Taschenbuch. Frankfurt am Main 2004, 293 Seiten, antiquarisch

Die Häfen der Levante

Ein Journalist lernt im Jahre 1976 zufällig in Paris einen alten Herrn, Ossyan Ketabdar, kennen. Dieser erzählt ihm die Geschichte seines Lebens, seiner Familie und seines Landes, vor allem aber seiner Liebe. Ossyan stammt aus einer mächtigen türkischen Familie, sein Vater ist ein türkischer Freigeist, seine Mutter Armenierin. In den Wirren des Ersten Weltkrieges und während der Verfolgung der Armenier flieht die Familie in den Südlibanon, wo der strebsame Ossyan in einem arabischen Umfeld aufwächst. Als er später in Montpellier/Südfrankreich studiert, lässt er sich während des 2. Weltkrieges für die Resistance requirieren. Im Widerstand lernt er die Jüdin Clara aus Graz kennen, die ihre Familie durch die Verfolgung der Deutschen verloren hat. Als er nach Beirut zurückkehrt, wird er dort zum gefeierten Helden des französischen Widerstandes, er und Clara heiraten und leben abwechselnd in Haifa und Beirut.

Ihr Glück wird jedoch in Folge des israelisch-arabischen Kriegs schnell zerstört, weil sie noch vor der Geburt ihres Kindes auseinandergerissen werden. Ossyan zerbricht an der Situation, wird über Jahre in einer Nervenheilanstalt eingesperrt. Erst zwanzig Jahre später spürt seine Tochter Nadja ihn in Beirut auf. Durch die Begegnung schöpft er neuen Lebensmut, aber der andauernde Bürgerkrieg im Libanon macht eine Ausreise nach Frankreich unmöglich. Erst Jahre schafft es Ossyan nach Paris zu fliehen, wo er seine geliebte Ehefrau wiederfindet.

Amin Maalouf, der sich wohl selber in der Rolle des Journalisten darstellt, erzählt die Geschichte von Ossyans Schicksal in dessen eigenen Worten - nur spärlich ergänzt durch Kommentare des Erzählers. Zufälle, Schicksal und Vorhersehung spielen sowohl im Leben der Hauptpersonen als auch auf Erzählerebene eine besondere Rolle, seine eignen „Wahrheiten, die so viel wert sind, wie Wahrheiten es nun einmal sind“.

„Die Häfen der Levante“ ist auch heute noch ein aktueller Roman, zumal sich die Konflikte zwischen den Kulturen im Bereich der Levante – so der altmodische Begriff für den Nahen Osten – noch zugespitzt und ausgeweitet haben. Nostalgisch erscheinende Träume sind zerplatzt, jedoch prägen der Glauben an das Gute im Menschen und die humanistische Grundhaltung der Helden die Erzählung. Es bleibt die Hoffnung, dass am Ende doch noch ein kleines individuelles Glück möglich ist. Der großartig erzählte Roman ist mitreißend und spannend geschrieben. Der Erzähler stellt die Ereignisse aus der Sicht des Romanhelden ohne Werturteil dar, er erhebt keinen Anspruch auf historische Wahrheiten, sondern für ihn zählt nur persönliche Aufrichtigkeit seiner Protagonisten. Amin Maaloufs Geschichten sind geprägt von seiner eigenen Biographie. Er wurde im Libanon geboren und lebt seit langem in Frankreich. Auf Grund seiner verschiedenen kulturellen Identitäten fühlt er sich als Vermittler zwischen der westlichen und der arabischen Welt. Er möchte mit seinen Erzählungen beitragen zur besseren Verständigung zwischen den verschiedenen Kulturen. Sein Anliegen ist nicht die verschiedenen Parteien zu verurteilen, sondern ihre Positionen und Sichtweisen zu klären und die vielen Missverständnisse zu überbrücken.

Amin Maalouf: Die Häfen der Levante. Suhrkamp-Verlag. Berlin 2004. 254 Seiten, antiquarisch

Endlich frei - Ich bin die Tochter aus „Nicht ohne meine Tochter“ - Hier die ganze Geschichte

Wer kennt es nicht: „Nicht ohne meine Tochter“ heißt der Erfahrungsbericht einer Amerikanerin, die mit ihrem iranischen Ehemann und ihrer kleinen Tochter während des Irakkrieges in den Iran reist und dann von ihrem Mann dort festgehalten wird. Nach langen und schwierigen Täuschungsmanövern gelingt ihr mit ihrer kleinen Tochter die lebensgefährliche Flucht zurück nach Amerika. Das Buch gehört zu den am meisten verkauften Bestsellern, erhielt Auszeichnungen und wurde verfilmt.

Nun schreibt Mahtoub Mahmoudy, „die berühmteste Tochter der Welt“, aus ihrer eigenen Erinnerung und ihrer Sicht über ihre Kindheit, die Flucht, aber insbesondere über ihren Überlebenskampf nach der Rückkehr in die USA.

Sie sind dort nicht sicher vor dem Vater, der ihnen mit dem Tod gedroht hat. Sie berichtet über ihre Albträume, den psychischen Terror, ihre Angst vor seiner Rache, ihre lebensbedrohliche Autoimmunkrankheit, ebenso von der grenzenlosen Unterstützung durch ihre Mutter, ihre Familie und Lehrer und über den Rückhalt, den sie in ihrem tiefen christlichen Glauben findet. Sie ist auf der Flucht vor dem Vater, aber auch durch die Berühmtheit der Mutter und ihre Medienkampagnen ständig auf Achse. Ihr Kampf um ihr seelisches Gleichgewicht ist langwierig. Erst zwei Jahrzehnte nach ihrer Rückkehr und nachdem ihr Vater verstorben ist, gelingt ihr die Befreiung von ihrer Angst und ihrem Hass auf ihren Vater. Das Buch schreibt sie als klärende Abrechnung für sich selbst, aber auch gegen die Lügen des offenbar schizophrenen Vaters, der versucht hatte in einer eigenen Medienkampagne und einem Dokumentarfilm sein völlig unterschiedliches Bild der Realität aufzubauen. Das Buch hat sie von der Erinnerung an den Schmerz und die Qualen der Vergangenheit befreit, die sie viele Jahre mit sich herumgetragen hat.

Der Lebensbericht der Tochter ist durchaus lesenswert, sachlicher und differenzierter als die Schilderungen der Mutter. Die Lektüre lohnt sich, auch wenn man das Buch der Mutter nicht gelesen hat oder keinen Gefallen an diesem recht umstrittenen und sehr emotionalen Buch fand.

Mahtob Mahmoudy: Endlich frei - Ich bin die Tochter aus „Nicht ohne meine Tochter“. Hier die ganze Geschichte. Bastei-Lübbe-Verlag. Köln 2015, 416 Seiten. 10,99 Euro.

Lob des Fatalismus

Fatalismus ganz „unorientalisch“ !

von Wolfgang Freund

Der Titel dieses elegant geschriebenen Büchleins des Redakteurs für Kirchenfragen und Religionen der Süddeutschen Zeitung weckte bei dem Rezensenten zunächst Erwartungen der besonderen Art. Denn er, Kairo-und Ägyptenfan seit Jünglingsjahren ab 1957, war auf das ägyptische und/oder vorderorientalische Maalesch-Syndrom eingestellt, sobald der Begriff „Fatalismus“ auftauchte. Er krankt an der karikierenden Kairo-Version des Markenzeichens IBM: Inscha’allah-Bukra-Maalesch (= wenn Gott will - morgen - macht nix).

„Fatalismus“ eben, ein Zustand, in dem sich derjenige befindet, der in einem Kairoer Taxi sitzt und dem Chauffeur Anweisungen erteilt, wie er weiterzufahren habe: „An der nächsten Ampel rechts, bitte!“ Sodann Fahrer: „Inscha’allah“ (wenn Gott will). Nächster Hinweis: „Am Kreisel links ausscheren!“ Prompte Antwort: „Inscha’allah“. Und so geht es weiter über Nilbrücken, Boulevards, sonstige Einbahnstraßen oder Feldwege. „Inscha’allah“ über „Inscha’allah“. Und schließlich geschieht ein Wunder. Die Taxifahrt endet tatsächlich am gewünschten Ziel. Gott hat eben gewollt. Gott sei’s gedankt Al-Hamdullillah. Es hätte auch weniger gut enden können, in einem Nilseitenkanal, mit einem Auffahrunfall wegen des zu kurz geratenen Abstands zum vorausfahrenden LKW. Oder ob der eigenen ausgeleierten Bremsen. Dann hätte der Kairoer Taxi Mann mit glücklichem Lächeln „Maalesch“ gesagt, was so viel heißt wie „Macht nix, wir leben ja noch!“ Fatalismus made in Egypt, made in Arabia!

 Nein, von solchen zeitgenössischen Märchen aus Tausendundeiner Nacht ist nicht die Rede. Matthias Drobinskis Essay spricht vielmehr zu seinen deutschen oder sonst wie westlichen“ Mitmenschen über Dinge im Herzen des Westens, oder besser „der Westler“.

Unter den Überschriften „Pest der Glückssuche und der Lebensoptimierung“, „Sicherheit als höchstes Gut“ und „Weltverbesserungspathos“ setzt er sich mit zeitgenössischen okzidentalen Grundwerten auseinander und stellt ihnen die Geschichte vom „kleinen Sowjetspion“ Rudolf Abel und Schostakowitsch’ Violinen gegenüber. Der Spion, in New York zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt, sitzt kurz vor dem Vollzug vor einem schäbigen Transistorradio und lauscht glücklich lächelnd einer Schostakowitsch-Sinfonie, worin die Geigen virtuose Lieder singen. Er wurde schließlich doch noch begnadigt und gegen US-amerikanische „Kollegen“ in sowjetischer Haft ausgetauscht; aber das konnte er im Augenblick des Konzertgenusses in der Todeszelle noch nicht wissen. Sein situationeller Fatalismus, gezeigt in einer Lage, die er eh nicht ändern konnte, ließ ihn bereits moralisch überleben, noch ehe sich die Zellentür in die Freiheit öffnete. Ein typisch westlicher Nicht-Fatalist hätte möglicherweise Selbstmord begangen, um dem Starkstrom-Henker zu entkommen, und sich nicht mit Schostakowitsch, Mozart oder Beethoven trösten lassen.

Hier hakt der Moralist Matthias Drobinski ein. Er bröselt aktuelle Grundwerte unserer westlichen Lebensgefühle und Daseinsgestaltung auseinander, zeigt ganz pragmatisch, dass es nirgendwo perfekte Problemlösungen gibt, folglich auch nirgendwo „Paradiese auf Erden“.

Wo auch immer: das chthonische, unheimelnd Bedrohliche lauert selbst in den besten und sichersten Verhältnissen. Der Umkipp geschieht in der Regel plötzlich, und ist meist weder vorherseh- noch berechenbar. Ganz wie Krankheit und Tod. Leben und Sterben bilden eine Einheit, ein existenzielles Kontinuum. Man muss damit leben und kann damit leben, mit Hilfe einer gerüttelten Portion an Alltagsfatalismus wie auch Galgenhumor. Solches ist, mit wenigen Worten gesagt, die Botschaft des Autors an uns.

Die intellektuelle Aufrichtigkeit des Theologen und Germanisten besticht. Er sagt genau, woher er kommt und was er für richtig bzw. falsch hält in unseren modernen, postindustriellen Weltgegenden. Matthias Drobinski, Jahrgang 1964, ist praktizierender Katholik, doch kein Weihrauch- oder Hochamt-Fetischist. Seine Öffnung auf die „realexistierende“ Welt bleibt total, Papst Franziskus vielleicht sein Säulenheiliger. Das Büchlein? Kapitelweise mit Vorliebe vor dem Einschlafen zu lesen. Gute Träume folgen in der Regel.

Oder auch: er theoretisiert und modernisiert den Satz des Max und Moritz-Vaters Wilhelm Busch: „Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt."

Matthias Drobinski: Lob des Fatalismus. Claudius -Verlag. München 2018. 132 Seiten. 14,00 Euro.