Flaubert wuchs ohne Zuneigung auf, da er ein ungewolltes Kind war. Er galt in der Familie als dumm und zurückgeblieben. Auf Drängen seines Vaters nahm er in Paris das Jurastudium auf, folgte aber gleichzeitig seinen literarischen Neigungen. Wegen des Ausbruchs einer Nervenkrise brach er 1844 seine erfolglosen Studien ab. Es folgten Reisen nach Korsika, Italien, Griechenland, dem Orient und Nordafrika. Seit 1864 lebte er in selbstgewollter Isolation in Croisset, wo er am 8.5.1880 starb.
…noch an die Mutter, aus Ipsambul, – d. 24. März 1850. Palmsonntag
Wenn wir keinen ungünstigen Wind gehabt hätten, oder vielmehr so vollständige Windstille, so wären wir schon wieder in Assuan (beim ersten Katarakt). Aber wir haben auf sechzig Meilen vierzehn Tage gebraucht. An einzelnen Tagen haben wir keine halbe Meile gemacht. Heute Morgen setzt der Wind wieder ein, wir fahren ein wenig, und wir hoffen, Wadi-Halfa ohne Verzug zu erreichen; von dort wollen wir langsam wieder abwärts fahren und alles in Muße besehen. Seit wir aus Kairo fort sind, haben wir die Canja auch kaum verlassen. Jetzt wollen wir Stationen machen, um die alten Kerle von Ruinen zu untersuchen. Die Hitze beginnt zu brüten, gestern Abend hatten wir abends um acht 34 Grad, und den ganzen Tag war die Sonne hinter Wolken verborgen gewesen. In der Sonne haben wir vorgestern am Tage 55 Centigrad gehabt. Wir waren gezwungen, auf unsere schrankenlose Vorliebe fürs Barfußgehen zu verzichten. Selbst durch starke Stiefel macht sich die Hitze des Bodens kräftig fühlbar, als ginge man auf heißen Herdplatten. Im Ganzen lebt man unter der nubischen Sonne wie in einem riesigen Backofen. Aber eins ist seltsam, es ist uns keineswegs unbequem. In diesem Klima erträgt man die Hitze weit besser als die Kälte, die, so gering sie auch (relativ) ist, sehr lästig fällt. In diesem Moment sitze ich ohne Hose und Rock und trage statt aller Kleidung nur meine Unterhose und darüber ein großes, weißes Hemd.
Die Katarakte haben wir ohne Unfall passiert. Übrigens sind wir aus übertriebener Vorsicht sogar an Land gegangen. Es gehört zu dem Merkwürdigsten und Schönsten, was wir noch gesehen haben. Ich habe Dir in meinem letzten Briefe von Leuten aus Assuan und Elephantine erzählt, die den Nil auf Binsen sitzend passieren. Etwas weiter, bei den Katarakten, reiten sie ganz nackt auf Palmenstämmen. Es ist amüsant, sie auf die Schaumwirbel zuschießen, verschwinden und wieder über dem Wasser erscheinen zu sehen; der Strom reißt sie wie einen Strohhalm rasch und beängstigend zwischen die Felsen, ihre schwarzen Rücken rieseln von Wasser, ihre weißen Zähne lächeln. All das ist von einer wilden Eleganz, die aufs tiefste entzückt.
Vorgestern haben wir zwei Sklavenhändlerboote getroffen, die mit Negerinnen geladen waren. Sie kamen von Darfur, aus dem Lande der Gallas im Inneren Afrikas, zum größten Teil gestohlene Frauen. Sie waren in den Canjen zusammengepfercht, daß sie, wie bei uns das Heu auf den Wagen, überragten.
Als Kostüm trugen sie Amulette und kleine Lederhosen. Wir haben (keine Frauen) sondern Schürzen (ihre Hosen) von ihnen gekauft. Die sind so wenig mit Schmutz und Hammelfett bestrichen, daß sie unseren Divan vergiften. Wir haben Straußenfedern eingehandelt und ein kleines Mädchen aus Abessynien, um länger an Bord bleiben zu können und dieses Schauspiel zu genießen, das Schick hatte.
Einige mahlten Mehl auf Steinen, und ihr langes Haar fiel über sie wie die lange Mähne eines Pferdes, das am Boden weidet. Die Säuglinge weinten. Man kochte. Die einen kämmten das Haar ihrer Gefährtinnen mit Stachelschweinzähnen. Es war sehr traurig und eigenartig. In jedem solcher Boote gibt es immer ein paar alte Negerinnen, die die Reise immer wieder mitmachen, um die Neuangekommenen zu ermutigen, damit sie den Mut nicht zu sehr verlieren und sich durch zu große Traurigkeit krank machen. Weißt Du, arme Geliebte, daß wir nur noch um einen Monat vom Lande der Affen und Elefanten entfernt sind? Aber man muß sich Grenzen setzen und daran denken, daß der Boden des Beutels nicht unausschöpfbar ist.
An dieselbe: Philae, d. 15. April 1850
Da sind wir, wie wir aufgebrochen sind, in gutem Zustand aus Nubien zurück, wenn man so sagen kann, wenn es zwei lange Monate her ist, seit man Nachricht von allem erhalten hat, was einem das Liebste auf der Welt ist. Gestern Abend sind wir mit sinkender Nacht in Philae angekommen. Ich bin alsbald mit Joseph zu Esel nach Assuan (eine Meile von hier) geritten, in der Hoffnung, ein Briefpaket vorzufinden: Nichts! Ich denke mir, Du hast einen Kurier versäumt, und alle anderen liegen auf der Kanzlei in Kairo, wohin ich sofort geschrieben habe, damit man sie mir nach Kesneh schickt, sonst erhielte ich Briefe von Dir erst bei unserer Rückkehr nach Kairo, Ende Mai. Das sind (oder wären) fast vier Monate ohne Nachricht, was aus Dir geworden ist.
Der Himmel war gestern Abend wundervoll, die Sterne glänzten, die Araber sangen auf ihren Dromedaren. Es war eine echte Orientnacht, wo der Himmel unter der Fülle der Sterne verschwand. Aber mir war das Herz sehr traurig, meine arme, so sehr geliebte Mutter. Schreibe mir doch lieber zweimal, lieber hundertmal als einmal, mit allen Kurieren. Ein Brief geht so schnell verloren. Max hat schon mehrere eingebüßt. Wenn ich wenigstens wüßte, daß meine Dich erreichen, würde ich nicht klagen. Aber das ist meine größte Angst. Wenn ich mir Dich in Qualen vorstelle, so macht mich das trostlos. Vielleicht bist Du krank, arme alte Mutter. Du weinst vielleicht in diesem Moment und wendest Deine armen schönen Augen, die ich liebe, auf die Karte, die Dir nichts ist als ein leerer Raum, in dem Dein Sohn verloren ist. O, nein, sieh, ich komme zurück, Du kannst nicht krank sein, denn ein starker Wunsch gibt Leben. Jetzt bin ich bald sechs Monate fort; in sechs Monaten werde ich nicht mehr weit von der Heimkehr sein; sie wird wahrscheinlich nächstes Jahr gegen Januar oder Februar stattfinden.
Gestern Abend lagen bei dem Effendi, wo ich sie abholen wollte, Briefe für Maxime, einer sogar für Sassetti, der niemals welche erhält. Aber von Dir nichts, auch nicht von Achille, der mir doch ein wenig Nachricht von Dir geben sollte, auch nicht von Bouilhet, auch nicht vom Vater Parain, der doch bisweilen schon morgens früh aufstehen sollte, um mir mit einerlei welcher Orthographie zu schreiben. „Deiner Mutter geht es gut“; weiter verlange ich nichts, das scheint mir nicht viel. Denkt man nicht mehr an mich? Wäre das Sprichwort wahr: Die Abwesenden haben unrecht?
Von unserer Reise werde ich Dir ein andermal erzählen. Ich bin eilig: wir wollen den Katarakt hinunterfahren und laden das Gepäck und uns aus. Das Boot soll allein fahren, und wir zu Fuß gehen. Und dann bin ich zu wütend, um mir die Muße zur Sammlung zu nehmen. Unsere Gesundheit ist blühend, nur ermüdet das Klima Sassetti ein wenig. Ich weiß nicht, wie Maxime es anfängt, daß er vor der Photographierwut, die er entfaltet, nicht platzt; übrigens gelingt es ihm ausgezeichnet; ich selber sehe mir nur die Natur an, rauche Tschibuks und gehe in der Sonne spazieren, ich werde fett. Aber ich werde häßlich. Meine Nase wird rot, und mir wachsen Haare darauf wie dem Kapitän Barbet.
Adieu, arme Angebetete: ich umarme und umarme Dich.
An dieselbe: Zwischen Kaff und Kesneh, d. 17. Mai 1850
Gestern Morgen haben wir Theben endlich (und leider!) verlassen. Man kann dort lange und in beständigem Staunen bleiben. Es ist bei weitem das Schönste, was es in Ägypten gibt, und vielleicht das Kolossalste, was wir auf unserer ganzen Reise sehen werden. Heute Abend werden wir wahrscheinlich in Kesneh ankommen. Wenn ich dort keine Briefe finde, habe ich keine Hoffnung mehr, vor Kairo noch welche zu erhalten. Nun! Gott behüte die Post und die Sekretäre. Wenn ich wenigstens wüßte, daß Du all meine erhalten hast! Ich schicke meine Sendungen so regelmäßig wie möglich; ich schicke reitende Boten, wenn ich keine Gelegenheiten finde. Trotz all dem fürchte ich sehr, daß Du oft mehrere Kuriere überschlagen mußt, ehe Du Nachricht von mir erhältst. Aber beruhige Dich, gute Mutter, mir und uns allen geht es gut. Was Reiseunannehmlichkeiten angeht, wirst Du glauben, daß ich vier Tage lang nicht geraucht habe! Aus Mangel an Tabak. Da mir der Tabak der arabischen Bauern zu abscheulich erscheint, so seufze ich nach dem Caporal.
Eben habe ich einen großen Storch gefehlt, der ruhig am Ufer spazieren ging. Meine Kugel ist fünfzig Schritt weiter auf dem Sande aufgeprallt, und der Storch stieg ruhig wieder in die Luft, indem er die Füße hängen ließ und mit den Flügeln weit ausholte.
Wir haben in Theben vierzehn sehr schöne Tage verbracht, arme alte Mutter. Das ist schön! Es muß eine mindestens ebenso große Stadt gewesen sein wie Paris. Man braucht drei Tage, um nur, ohne sich aufzuhalten, die Ruinen zu sehen, die noch übrig sind, obgleich alles zertrümmert und zu drei Vierteln verschüttet ist. Es ist eine Ebene zwischen zwei Gebirgsketten, die der Nil durchquert, besät mit Obelisken, Kolonnaden, Fassaden und Kolossen. Nie werde ich den ersten Eindruck vergessen, den mir der Palast von Karnak gemacht hat. Das ist mir wie eine Wohnung von Riesen erschienen, wo man auf goldenen Schüsseln ganze Menschen, wie Lerchen aufgespießt, serviert haben muß. Wir haben die drei Tage verbracht, Maxime, indem er photographierte, ich, indem ich abgoß oder vielmehr abgießen ließ. Unter meinen Arbeitern hatte ich einen Führer, der ein wenig Englisch sprach; wir verstanden uns halb in einem Kauderwelsch aus Englisch, Italienisch und Arabisch:
- Allah! Allah! allons, go on! go on! Sacré nom de
- Si, signor, si, signor, è questo bene!
- T'is not very bad, but your paper ist not
- Taieb,
Und so weiter. Wir wohnten, das heißt, unsere Sachen waren in einem kleinen Zimmer, das als Decke große, himmelblau bemalte Fliesen hatte. Und vor uns, auf den Mauern, sahen wir Königinnen mit großen Frisuren, die Könige um die Hüften faßten. – Nachts schlief ich draußen auf einem großen Stein (auf dem meine Matratze lag); ich schlief auf dem Rücken, die Nase den Sternen zugekehrt, beim Lärm der Taranteln und beim Bellen der Schakale, das mit dem der Hunde in den benachbarten Dörfern abwechselte.
Dann sind wir aufs linke Ufer des Nil hinübergegangen. Nachdem wir zwei Tage lang in Luksor selber gewohnt hatten, im französischen Palais (einem zur Zeit der Expedition nach Luksor wegen des Obelisken von Mehmet Ali geschenkten Hauses), sind wir fortgezogen, um am Fuß des berühmten Kolosses zu kampieren. Er hat bei Sonnenaufgang nicht gesungen, aber der Schuft hat mir nachts einen Hagel von Moskitos geschickt, die mir die Beine zerfressen und mich am Schlaf gehindert haben; umso mehr als der Wind das Zelt wütend schüttelte. Am Tage darauf haben wir beim Rhamesseion geschlafen (dem Grab des Osymandias). Am folgenden, zu Biban el Moluk oder im Tal der Könige. Das ist ein Wunder. Stelle Dir ein ganzes Tal vor, in ein Gebirge geschnitten, wo es nur noch auf einem Marmortisch Vegetation gibt, und auf beiden Seiten Steinbrüche, die ebenso viel Gräber sind. Man steigt in jedes mit Hilfe einer Reihe von Treppen hinab, deren eine immer am Ende der andern beginnt, und die nicht enden wollen. Dann tritt man in zwei große Säle, die von oben bis unten und auf der Decke bemalt sind. Man reist darin, das Wort ist buchstäblich zu verstehen. Stelle Dir die Grotten von Caumont vor, wenn ihre Wände bezeichnet und mit Gold- und Azurgemälden etc. bedeckt wären. Es sind phantastische oder symbolische Darstellungen, Schlangen mit mehreren Köpfen, die auf menschlichen Füßen gehen, enthauptete Köpfe, die segeln, Affen, die Schiffe ziehen, Könige mit grünen Gesichtern und seltsamen Attributen auf ihren Thronen. Die Gemälde sind frisch, als wären sie gerade gemacht, und schuppen unter dem Daumen ab. Anderswo sind es Harfenspieler, Tänzerinnen, Leute beim Essen ... man weiß sich nicht davor zu lassen. Du kommst noch nicht frei, ich werde Dir noch mehr als einmal davon reden.
Am Eingang des Tals der Könige, über dem Rhamesseion, wohnt ein alter Grieche, der einen Antiquitätenhandel betreibt. Er lebt da wie in einem Turm, mitten im Gebirge; in einem Haus voll Mumien, ganz allein und fern von den Menschen. Alte Leichen, verknöchert und aufrecht gegen die Mauer gestellt, schneiden in einem Winkel seines Hofes Grimassen. Sein Erdgeschoß ist voll Särge gepfropft, und das Zimmer, wo er uns empfangen hat, hat als Fensterladen ein bemaltes Brett, das einem Bürger aus der Zeit des Sesostris als Decke gedient hat. Er hat unsern Besuch einen Morgen erwidert, als wir am Fuß des Memnonskolosses gelagert waren. Er trug einen weißen Turban, ein weißes Nubier Hemd und einen Regenschirm aus weißer Baumwolle. Außerdem hatte dieser alte Lemnossohn seinen Tschibuk in der linken Hand und einen Stock aus weißem Holz, den er selber gedrechselt hatte, und der in eine Eisenspitze auslief, um sich beim Gehen auf den Felsen zu stützen. Die Füße staken nackt in alten Schuhen, und er schleppte sich keuchend dahin.
Mumien nach Frankreich mitzubringen, wäre schwierig, die Ausfuhr ist jetzt verboten. Wir hätten viele Umstände, sie als Kontrebande nach Kairo zu schaffen und sie in Alexandria einzuschiffen. Das würde uns viel Zeit und Geld kosten. Von Keneh aus wollen wir einen Abstecher bis Kosseir machen, um das Rote Meer zu sehen, das wir sonst nicht kennen lernen würden, da die Reise nach dem Sinai nicht gemacht wird. Dafür hätten wir zwanzig Tage Wüste zu durchziehen (im Juli wäre das vielleicht hart), zwölf Tage Lazarett in Gaza und dreitausend Franken Durchzugsgebühr an den Sheikh von Lagabat zu zahlen. Das wäre absurd. Die Reise nach Kosseir dagegen kostet uns vier oder fünf Tage, das ist ein Spaziergang.
Ehe wir gestern Theben verließen, haben wir Pferde genommen und einen großen Ritt in das Land hinter Karnak und Luksor gemacht. Um die Mitte des Tages haben wir in einem Dorfe Halt gemacht und sind in einen Garten getreten. Die Bäume, Orangen, Zitronen, Palmen, standen so eng aneinander, daß man sich bücken mußte, um darunter durchzukommen. Dort haben wir uns im Schatten ausgeruht, auf einem Bündel trockener Palmenzweige. Der Bursch, der uns zu Fuß folgte, hat den Wächter des Gartens gesucht, und der brachte uns eine große Schale geronnener Milch mit kleinen, heißen Broten, die auf einem flachen Korbe aus geflochtenem, buntem Stroh lagen. Der Bach, der den Garten wässert, einen Fuß breit und einen halben Zoll tief, lief vor uns hin, unter der Sohle unserer Stiefel durch, und zog genau wie ein Fluß Blätter auf seinem Wasser mit. Wir sind zwei gute Stunden dageblieben und haben geplaudert. Dann sind wir zu Pferde gestiegen und auf Karnak zugeritten. Wir haben ihm mit gedrücktem Herzen Adieu gesagt. Wie seltsam! Man ist bewegt, wenn man Steine verläßt, und während einen so viel andere Dinge bewegen.
In Theben habe ich ungeheuer viel an Alfred gedacht. Wenn das System der Saint-Simonisten wahr ist, reiste er vielleicht mit mir! Dann dachte nicht ich an ihn, sondern er dachte in mir. Und ich denke auch viel an die anderen, arme Mutter! Ich kann nicht schweigend bewundern, ich habe Schreien, Gesten, Expansion nötig; ich muß reden, muß Stühle zerschlagen, mit einem Wort, muß andere zur Teilnahme an meinem Vergnügen rufen – und welche anderen als meine geliebtesten?
Adieu, arme Geliebte, tausend Zärtlichkeiten; komm, erhole Dich ein wenig, „Du zehrst Dir am Blut“ –
„Du denkst nicht genug an Dich“.
Kesneh. – Große Freude! Liebe Mutter, mir springt das Herz darüber. Zehn Briefe für mich, darunter einer von Vater Parain und einer von Bouilhet. Und Du, Dich umarme ich bis zum Ersticken, ich sehe, es geht Dir gut, Du bist vernünftig; dafür liebe ich Dich noch tausendmal mehr. Du führst Dich gut. Wie hübsch Deine Briefe sind! Ich habe sie wie ein Ausgehungerter verschlungen. Adieu, tausend Küsse.
An dieselbe Mai 1850
Wir sind mitten im Sommer. Um sechs Uhr morgens haben wir regelmäßig zwanzig Grad Reaumur im Schatten, am Tage gegen dreißig. Die Ernte ist längst gewesen, und vorgestern haben wir eine Wassermelone gegessen. Wo bist Du, arme alte Mutter? In Croisset? In Nogent? In Paris? Und diese Reise nach England? Schicke mir so lange Briefe wie möglich; sprich mir von Dir, von Deinem Leben, von allem, was vorgeht. Wie allerliebst die kleine Liline nächsten Winter sein wird, macht sie viel Fortschritte im Lesen?
Wir führen ein recht gutes Leben. Nun ist die nubische Reise zu Ende. Auch der Schluß der ägyptischen rückt nahe. Wir werden unsere arme Canja nur mit Schmerz verlassen. Jetzt fahren wir langsam mit Hilfe der Ruder diesen großen Fluß hinab, den wir mit unsern zwei weißen Segeln hinaufgefahren sind. Wir halten vor allen Ruinen an. Man vertäut das Boot, wir steigen an Land. Immer ist es irgendein Tempel, der bis zu den Schultern im Sand verschüttet ist, und den man teilweise wie ein altes Skelett wieder ausgegraben sieht. Götter mit Krokodils- und Ibisköpfen sind auf die Mauern gemalt, die vom Mist der Raubvögel weiß sind, die in den Steinnischen nisten. Wir gehen zwischen den Säulen spazieren. Mit unseren Palmstöcken und unsern Träumereien rühren wir all diesen Staub auf. Wir betrachten durch die Breschen des Tempels den Himmel, der vor Blau vergeht. Der Nil, der zwischen vollen Ufern hinfließt, schlängelt sich mitten durch die Wüste, auf beiden Seiten mit einem grünen Streifen. Das ist das ganze Ägypten.
Oft umgibt uns eine Herde schwarzer Schafe, die weidet. Irgendein kleiner Junge, nackt, behände wie ein Affe, mit Katzenaugen, Elfenbeinzähnen, einem silbernen Ring im rechten Ohr und großen Feuermalen auf den Wangen, einer Tätowierung, die mit einem rotglühenden Messer gemacht ist. Oder aber es sind arme Araberfrauen in Lumpen mit Halsbändern, die Joseph Hähne verkaufen wollen, oder die mit den Händen Pferdemist sammeln, um ihr mageres Feld zu düngen. Eins ist wunderbar: Das Licht, alles glänzt in ihm. In den Städten blendet uns das immer, wie es das Farbenflimmern eines ungeheuren Kostümballs täte. Weiße, gelbe oder azurblaue Gewänder lösen sich in der durchsichtigen Luft mit einer Härte des Tones los, daß alle Maler in Ohnmacht fallen könnten. Ich selber träume von jener alten Literatur, ich suche all das zu fassen. Ich möchte mir gern etwas vorstellen, aber ich weiß nicht was. Mir scheint, ich werde dumm wie ein Topf.
Wir lesen in den Tempeln die Namen der Reisenden; das scheint uns schrill und eitel. Unsere haben wir nirgends hingesetzt. Wir haben welche gesehen, die zu gravieren drei Tage in Anspruch genommen haben muß, so tief sind sie in den Stein geschnitten. Ein paar findet man mit der Beharrlichkeit erhabenen Blödsinns immer wieder. Vor allem verläßt uns einer, namens Vidua, nirgends. Vorgestern hat Max in Ombos, den des armen d'Arcet entdeckt. Die Buchstaben werden da in freier Luft zernagt, während sein Körper unten in einem dritten Teil der Welt verfault. Ohne Zweifel wird dieser arme schon halb verlöschte Name am längsten von ihm leben. Er ist hergekommen und hat ihn in Ägypten geschrieben, er hat in Paris gelebt und ist nach Amerika gegangen, um dort zu sterben. Was für philosophische Reflexionen, wie Fellacher sagen würde!
So oft wir in einem Tempel vor Statuen ankommen, vollzieht Max den arabischen Gruß vor ihnen, indem er die Hand zur Stirn hebt und sich nach ihrem Befinden erkundigt. Das wechselt nie. Sassetti hat seit einiger Zeit eine Jagd-Wut, die nichts aufhält. Er ist ägyptisch gekleidet, was ihm ein ziemlich lächerliches, schwerfälliges Ansehen gibt. Er ist ein Bursche von sehr gutem Herzen, der uns sehr ergeben ist. Er hat viele nützliche Talente. Jetzt ist er Schuhmacher und flickt unsere Stiefel mit gewachster Peitschenschnur. Unsere Sachen nutzen sich ab. Der Schick beginnt. Ich gäbe, ich weiß nicht was, dafür, wenn Du diesen wackeren Joseph kennen lernen könntest. Er ist eins der merkwürdigsten Bündel, die man sehen kann. Er widmet sich immer noch der Herstellung von „douces“ süßen Schüsseln und von „bé-fils-tecks“ (Beefsteaks). Wir haben großartiges Glück gehabt, daß wir auf einen solchen Dragoman gestoßen sind. Er ist sehr erfahren und von gutem Begriffsvermögen.
Wir haben einen alten Matrosen an Bord, der Fergalli heißt und mich an den guten Pitchef erinnert. Je mehr Ulk man mit ihm treibt, je mehr Maulschellen und Fausthiebe man ihm versetzt, umso zufriedener ist er. Bisweilen wirft man ihn sogar ins Wasser, dann lacht man viel. Die Scherze laufen immer darauf hinaus, ihn zu töten, ihn lebendig zu schinden, ihn auf den Spieß zu stecken. Da er kahl ist, zieht man ihm die Mütze ab und versetzt ihm tüchtige Kopfnüsse. Mitunter tun die Matrosen, als wollten sie ihm zu seiner Ernennung zum Pascha gratulieren, und man bringt ihm eine Katzenmusik, die darin besteht, daß man mit den Händen und dem Mund künstlich pupt; man rasiert ihn mit einem Messer; man zieht ihn aus, damit er tanzt. Vor ein paar Tagen haben sie ihn als Frau angezogen, mit einem Schleier vor dem Gesicht und einem Stück Schleierleinen als Kleid. Das war die Braut, man feierte Hochzeit. Es hätte als eins jener Schauspiele gelten können, „in die ein Familienvater nicht gut seine junge Tochter mitnehmen kann“. Darauf begannen diese guten Araber unter Niederwerfen mit „Allahs“ und „Mohammeds“, wie die bravsten Leute von der Welt ihr Gebet zu verrichten. Es gibt nichts Lustigeres als diese Leute, oder besser, nichts Kindlicheres; ein Nichts schlägt sie nieder, wie wenig sie amüsiert.
Die Herren der oberen Klasse verachten den Alkohol nicht. Die Statthalter der kleinen Städte, durch die wir kommen, machen uns an Bord Besuche in der Hoffnung, eine Flasche Branntwein zu ergattern. Die Halunkerei dieser Kerle wird durch all die Achtungsbezeugungen, mit denen man sie umgibt, nur gesteigert. In Wadi-Halfa haben wir die Bekanntschaft des Gouverneurs von Ibrim gemacht, der beauftragt war, in der ganzen Provinz die Steuern zu sammeln. Das ist keine geringe Arbeit. Sie wird mit Hilfe von Stockschlägen, Verhaftung und Fesselung ausgeführt. Wir sind drei Tage lang Seite an Seite mit ihm stromab gefahren. Ein Dorfbewohner hatte nicht zahlen wollen, der Sheikh fesselte ihn und nahm ihn in seiner Canja mit fort. Als sie bei uns vorbeifuhr, sahen wir diesen armen Alten auf dem Boden des Bootes liegen, barhäuptig unter der Sonne und gebührend versichert; auf dem Ufer folgten schreiend Männer und Frauen. Das machte unseren braven Türken keineswegs weich, aber er hielt es doch für klug, uns zwei Tage lang nicht aus den Augen zu lassen, in der Hoffnung, wenn man ihn etwa angriffe, würden wir sehr schöne Gewehre haben, die recht weit tragen. Er kam und machte uns, während er wie wir den Nil hinabfuhr, Besuche. Einmal brachte er uns einen kleinen Hammel als Geschenk, was uns merklich angenehm war, denn seit sechs Wochen hatten wir nur Huhn und Turteltauben gegessen. Wir haben uns mit diesem braven Mann über seine Spezialität unterhalten, das heißt, er hat uns viele Details über die Art gegeben, wie man einen Menschen in einer Zahl entschlossener Hiebe mit Stockschlägen tötet; sie setzen einem das ganz hübsch und lachend auseinander, wie man vom Schauspiel redet, und sie führen es sehr seelenruhig aus, wie man seine Pfeife raucht.
Um Dir eine Vorstellung von allem zu geben, was ich sehe – geh auf die Bibliothek von Rouen und verlange das große Werk über Ägypten zu sehen, den Band mit den Altertümer Tafeln. M. Pottier oder der Freund Lebreton wird sich ein Vergnügen daraus machen, Dir das zu zeigen. Übrigens ist dieses Werk nicht selten, vielleicht hat es irgendein Privatmann. Da hast Du, scheint mir, einen langen Brief, arme, liebe alte Mutter; möge er Dich schnell erreichen, möge er Dich ermuntern, möge er Dir wohltun wie ein guter, frischer Wind, belebend. Adieu, ich schicke Dir meine ganze Zärtlichkeit.
Quellen:
Projekt Gutenberg; Gustave Flaubert; Reiseblätter/Briefe aus dem Orient; JCC Bruns Verlag