Die Magazine des Landes sind rappelvoll mit Mumien und weiteren Antiken. Ist die Rückgabe einer weiteren Mumie sinnvoll?
Die weibliche Mumie Schepenese in der Stiftsbibliothek St. Gallen gilt als Tutanchamun der Schweiz. Von den wenigen Mumien, die es hierzulande überhaupt gibt, ist sie die weitaus bekannteste. Liest man Theaterregisseur Milo Raus «St. Galler Erklärung für Schepenese» entsteht der Eindruck, dass diese einstige Priestertochter, geboren um 700 vor Christus im ägyptischen Luxor, äusserst schlecht behandelt wird; wie eine seit 200 Jahren unter unwürdigen Bedingungen inhaftierte Geisel. Sie sei Raubgut, werde «nackt» ausgestellt, ein «räuberischer, respektloser Zustand». Milo Raus Lösung: Schepenese solle zurück in ihre «spirituelle Heimat» Ägypten gebracht werden, um dort in Würde ihre Totenruhe zu geniessen. Klingt gut. Einige Dutzend Personen haben dieses Manifest unterschrieben.
Schepenese in der Stiftsbibliothek St. Gallen © Stiftsbibliothek St. Gallen
Erhalten, jedoch nicht unterschrieben, hat die Erklärung auch eine führende Ägyptologin, Salima Ikram, Archäologin und Professorin für Ägyptologie an der “American University in Cairo”. Mumifizierung im Alten Ägypten ist ihr Spezialgebiet. Sie ringt um diplomatische Worte: Sie sei sehr erstaunt gewesen über diese emotionale Initiative. Denn diese Mumie habe damals “das Land legal verlassen”, der Staat wolle sie nicht offiziell zurück. Schepenese sei auf keiner Rückforderungs-Liste – und das aus gutem Grund: sie sei zwar schön, aber gewöhnlich. Es dürfte schwierig werden, im an Artefakten enorm reichen Ägypten einen guten Platz für diese dort vergleichsweise unwichtige Mumie zu finden. Die Erklärung von St. Gallen sei zwar eine «sehr nette Geste», sagt Salima Ikram, aber, fügt sie hinzu: «Es ist besser, wenn diese Mumie in der Schweiz bleibt. Da dient sie Ägypten als grossartige Botschafterin. Kinder und Erwachsene können etwas über die altägyptische Kultur lernen und sind angeregt, später das Land zu besuchen. Hier in Ägypten haben wir schon sehr, sehr viele Mumien.»
Da springe jemand «ohne zu differenzieren auf den Restitutions-Hype auf», findet auch der Archäologe Cornelius von Pilgrim, Direktor des Schweizerischen Instituts für Bauforschung und Altertumskunde in Kairo. Denn ihr Grab sei vermutlich bereits in der Antike geplündert worden. Anfang des 19. Jahrhunderts sei die Mumie gekauft und ausser Landes gebracht worden. «Zu jener Zeit gab es dafür keine Gesetze und auch kein Bewusstsein für deren Wert. Viele Mumien sind damals noch als Brennmaterial verfeuert worden!»
Nun liegt Schepenese seit 200 Jahren in St. Gallen. Mittlerweile sei sie ein Schweizer Kulturgut, argumentiert Cornelius von Pilgrim, Teil der Stadtgeschichte und Zeitzeugin der beginnenden Ägyptomanie sowie der damaligen Kuriositätensammlungen. In Ägypten dagegen wäre die berühmte Schweizer Mumie «eine von Tausenden». Sie würde vermutlich in einem Magazin lagern – oder höchstens in einem kleinen Provinzmuseum ausgestellt.
Schepenese ist nicht nackt, wie im Schreiben steht, sondern bis zu den Schultern bedeckt. In Ägypten würde sie kaum eingehüllter präsentiert als in St. Gallen. Davon können sich alle überzeugen, die im Land schon Mumien angeschaut haben. Sogar die verehrten Königsmumien – einstige Pharaos und Pharaoninnen – zeigen Gesicht, Hände und Füsse. Es mache wenig Sinn, abendländisch-christliche Standards auf altägyptische Mumien anzuwenden, findet Cornelius von Pilgrim, und er gibt dazu noch etwas Interessantes zu bedenken: Im Antiken Ägypten galt, dass unsterblich werde, wessen Name immer wieder genannt werde. «In diesem Sinne hat Schepenese damit in St. Gallen ein ewiges Leben nach der Vorstellung ihrer Zeit bekommen.»
Mumiensarg der Schepenese in der Stiftsbibliothek St. Gallen © Stiftsbibliothek St. Gallen
Anders sieht es Tarek Tawfik, Archäologieprofessor an der Cairo University, ehemaliger Direktor des Grand Egyptian Museum sowie Vizepräsident des Internationalen Ägyptologen-Verbands: «Generell hätte Ägypten gerne sämtliche ägyptischen Objekte zurück. Insbesondere jene, die in den letzten Jahrzehnten das Land illegal verlassen haben.» Darunter falle diese Mumie zwar nicht. Doch wenn die Schweiz sogar freiwillig etwas zurückgeben wolle, würde das in Ägypten umso mehr geschätzt. Erst recht, wenn es sich beim Objekt um ein Subjekt handle, um einen Menschen. «Menschliche Überreste sollten wenn möglich nach Ägypten zurückgeführt werden.» Er ist überzeugt, dass man im Land einen guten Platz für Schepenese finden würde. Und in Kairos neuen Museen gäbe es seit einigen Jahren hochkarätige Labore für eine fachgerechte Restauration aller antiken Objekte.
Vor etwa zehn Jahren flog der Zürcher Mumienarzt und Professor für Evolutionäre Medizin, Frank Rühli, mit einem Zehenknochen Echnatons im Handgepäck von Zürich nach Kairo. Ein Forscher in England hatte ihm das entwendete Körperteil anvertraut. Dieser Zeh liegt nun wieder bei der Mumie des Pharaos; Gebein zu Gebein. «Das war sinnvoll.» Dagegen für «eher wenig sinnvoll» hält auch Rühli «aus diversen Gründen» aktuell die Rückführung von Schepeneses Körper. Doch er wünschte sich eine «umfassendere Ausstellung» in der Stiftsbibliothek: «Es wäre wünschenswert, eine bessere Kontextualisierung zu haben – mehr Erklärungen, vielleicht Photos, wissenschaftliche Befunde und zusätzliche Objekte. Die Mumie ist dort bei den Büchern sonst wie eine Art Fremdkörper.» Er fände es zudem prüfenswert, «das Gesicht der Mumie diskret etwa mit einer Gaze abzudecken».
Man muss keine Ägyptologin sein, um zu merken, dass die Erklärung von St. Gallen ungenau und widersprüchlich ist. Vom frommen Wunsch, die Mumien würden in ihrer Heimat bedeckter ausgestellt bis zur inkorrekten Behauptung, sie falle unter die Verordnungen einer Unesco-Charta zur Restitution geraubter Kulturgüter. Gemeint ist vermutlich eine Resolution von 1978, in welcher die Unesco die Staaten lediglich dazu ermutigt, bei Rückgabeforderungen, die nicht im Übereinkommen von 1970 geregelt sind, zu Verhandlungen zu schreiten. Im selben Absatz der Erklärung von St.Gallen steht zudem, die Mumie sei als Bestandteil der Stiftsbibliothek ebenso Unesco-Weltkulturerbe. Falls das stimmt, gälte es dann nicht, Mumie und Bibliothek als Gesamtpaket zu bewahren?
Es gibt in der westlichen Welt zweifellos viele antike Objekte, die aus moralischen oder rechtlichen Gründen an die ehemaligen Kolonien zurückgegeben werden sollten. Doch Schepenese würde, in Ägypten angelangt, bestenfalls eine kleine Nummer unter Tausenden ihresgleichen, schlechtesten Falls in einem Magazin vergessen gehen. Sollen alle Gegenstände an ihre Herkunftsorte zurückgegeben werden, egal unter welchen Umständen? Wie weit zurück in der Zeit soll man dabei gehen? Eine interessante Restitutions-Debatte treibt die Schepenese-Aktion allemal weiter.