Jetzt spricht die Mutter der Mumie: Renate Siegmann, die Ägyptologin, die Schepeneses Geschichte untersucht hat.
Wenn es jemand verdient, in der Causa Schepenese – die Mumie, deren Rückführung aus der St.Galler Stiftsbibliothek nach Ägypten heiss diskutiert wird – angehört zu werden, dann ist es Renate Siegmann. Die Ägyptologin hat monatelang die Inschriften und Bilder auf ihren Särgen wissenschaftlich bearbeitet und die Geschichte dieser vor etwa 2800 Jahren verstorbenen Frau erforscht. 1998 publizierte sie gemeinsam mit Peter Müller darüber ein Buch. Bis heute gehört die 86-Jährige zum Team des „Swiss Coffin Project“, das ein Standardwerk über altägyptische Särge und Sargausstattungen in der Schweiz erarbeitet.
Renate Siegmann im Interview mit Susanna Petrin © privat
Frau Siegmann, hat Sie die Schepenese-Aktion überrascht?
Ja, wir vom Coffin Project und die Stiftsbibliothek sind davon total überrollt worden. Ich denke, dass Milo Rau diesen Coup zusammen mit der Ägyptologin Monica Hanna von langer Hand geplant hat. Trotzdem enthält seine „St. Galler Erklärung“ viele gravierende Fehler. Wir haben ihn darauf hingewiesen, was ihn überhaupt nicht interessierte. Es geht ihm offensichtlich nur um ein maximales Spektakel. Jetzt gibt es ein Tauziehen um die Rückführung von Mumie und Särgen nach Ägypten.
Was würde wohl Schepenese selber wollen – bleiben oder gehen?
Ich bin sicher, dass es ihr Wunsch ist, in der Bibliothek bleiben zu dürfen.
Ist das nicht Ihre Projektion?
Nein, das glaube ich nicht. Sie ist mittlerweile seit 200 Jahren in die Stiftsbibliothek integriert. Umgeben von ihren Särgen mit mächtigen Schutzgottheiten, ausgerüstet durch Inschriften für das Jenseits, abgeschirmt vom Publikum ruht Schepenese wohlbehütet in ihrem Glassarg. Der Erhalt des Körpers, in Kombination mit der Wissenschaft vom Jenseits, galt den alten Ägyptern als wichtigste Voraussetzung für den Verbleib in der Ewigkeit. Schepeneses ursprüngliches Grab in Theben-West, der antiken Nekropole gegenüber dem heutigen Luxor, ist nicht mehr auffindbar. Also wohin will man denn diese arme Frau bringen?
Wäre es nicht sinnvoll, diese Mumie wenigstens zurück in ihre Heimat Ägypten zu führen?
Schepenese gehört niemandem. Sie ist eine eigenständige Person. Sie hat im Alten Ägypten gelebt und dieses Ägypten existiert nicht mehr. Dazu kommt, dass es im heutigen Ägypten schon unzählige Mumien gibt. Vielleicht würde am Anfang noch ein Hype um die zurückgeführte Schepenese veranstalten werden, aber bald schon würde sie in einem Magazin in Vergessenheit geraten. Für mich ist das eine sehr traurige Vorstellung.
Es gibt inzwischen ein paar Hundert Personen, die entweder Milo Raus St.Galler Erklärung oder eine neue ägyptische Petition, welche ebenfalls die Rückführung der Mumie verlangt, unterschrieben haben. Darunter auch einige Ägyptologen. Wie erklären Sie sich das?
Die sehr umtriebige Ägyptologin, die Ägypterin Monica Hanna, hat ihr gesamtes Beziehungsnetz aktiviert. Ich war ein Gründungsmitglied und lange Zeit die Präsidentin des Ägyptologieforums Zürich. Wäre ich dort noch aktiv tätig, wäre es ein leichtes, mindestens so viele Unterschriften zu sammeln, die gegen eine Rückführung der Schepenese sind. Aber ich bin inzwischen 86 Jahre alt und nicht mehr aktiv vernetzt. Der vorauseilende Gehorsam der Behörden von St.Gallen, die nun eine Rückführung überprüfen, ist mir unverständlich.
Ein Argument der Rückführungs-Fraktion ist, dass die Mumie nackt sei, also pietätslos ausgestellt werde. Ist das eine christliche oder muslimische Sichtweise oder war das für die alten Ägypter tatsächlich problematisch?
Das ist eine masslose Überspitzung. Schepenese ist bis zu den Schultern ausgewickelt, so dass der Hals und der schöne Kopf sichtbar sind. Das Auswickeln von Mumien war eine weitverbreitete Praxis im Europa des 19. Jahrhunderts, das würde man heute natürlich nicht mehr tun. Aber einen Kritikpunkt lasse ich gelten: Man muss ein internationales Symposium mit Experten aus allen möglichen Fachgebieten veranstalten, um einen Leitfaden für den allgemeinen Umgang mit „Human Remains“ festzulegen.
Milo Rau und sein Team suggerieren auch, dass Kolonialmächte den Ägyptern die Mumie gestohlen hätten. Sie weisen dagegen in einem Schreiben des „Swiss Coffin Project“ darauf hin, dass Ägypten damals um 1820 de facto selber eine Art Kolonialmacht war, die etwa den Sudan eroberte.
Ja, richtig, Ägypten war kein Opfer kolonialer Mächte, sondern bestimmte eigenständig über sein kulturelles Erbe. Vizekönig Muhammad Ali regierte das Land von 1805 bis 1848 souverän; Erneuerung und Industrialisierung standen im Vordergrund. Die pharaonischen Altertümer entbehrten aus religiösen Gründen meist einer Wertschätzung. Sie dienten als diplomatische Geschenke und Handelsware im Kunsthandel. Tempel wurden als Baumaterial von Zucker- und Salpeterfabriken abgetragen. Man soll sogar erwogen haben, Steine der Pyramiden zum Bau von Brücken oder Staudämmen zu verwenden. Ein Bewusstsein für das kulturelle Erbe fing erst an sich zu entwickeln.
Die Initianten betonen aber, dass Schepenese geraubt worden sei.
Fakt ist: Es lässt sich nicht mehr ermitteln, wann genau und unter welchen Umständen die Särge der Schepenese ursprünglichen aus ihrem Grab in Theben-West entnommen wurden. Sie gelangten unter ungeklärten Umständen nach Alexandria, und von dort kamen sie 1820 auf dem Land- und Seeweg in den Besitz von Karl Müller-Friedberg, dem Gründer und Politiker des Kantons St. Gallen. Sein Freund Philipp Roux hatte das für ihn in die Wege geleitet. 1835 hat Muhammad Ali erstmals ein Gesetz zum Schutz der Antiquitäten erlassen – Mumien und Naturschätze ausgenommen.
In Ägypten heisst es, man brauche heute jedes Objekt, erst recht jede Mumie, um das eigene Kulturgut zusammenhängend zu erforschen.
Das verstehe ich in diesem Fall wirklich nicht. Den ägyptischen Wissenschaftlern sind unsere Forschungsergebnisse uneingeschränkt zugänglich. Wir verstecken die Ergebnisse ja nicht, wir teilen sie mit. Wir hätten durchaus gerne ägyptische Ägyptologinnen und Ägyptologen in unserem Team. Wir sind für die Wissenschaft zuständig: die Interpretation und die Vermittlung zwischen Damals und Jetzt.
Der Trend heute ist, möglichst viele Objekte zu restituieren. Wäre es nicht ethisch korrekt, alle Objekte den Herkunftsländern zurückzugeben?
Gerade die kulturelle Vielfalt bereichert doch unsere ganze Welt. Die Artefakte sind Botschafter ihrer Kultur. Natürlich gibt es Objekte, die illegal erworben oder als Beute in Kriegszeiten entwendet wurden. Sie müssen schleunigst zurückgegeben werden. Doch letzteres hat mit Schepenese schon gar nichts mehr zu tun.