Der Nil hat es dem Norweger Terje Tvedt angetan. Seit Jahrzehnten liest und forscht er zur Geographie und Geschichte des Nils. Jetzt hat er eine ebenso spannende wie kundige Geschichte über den Nil geschrieben.
Noch ein Buch über den Nil? Noch mehr Geschichten von Dahabeya-Fahrten und alt-ägyptischen Tempeln, von Cleopatras und Caesars legendärer Nilfahrt, von Nubiens Krokodilen und Skorpionen, von der sagenumwobenen Suche nach den Quellen des Blauen Nils und den Spuren des mäandernden Weißen Nils? Gibt es das nicht alles schon? Braucht es dieses Buch überhaupt?
Ja, braucht es. Wer nur die ersten dreißig Seiten dieser knapp 600 Seiten starken Flussgeschichte durchblättert und hineinliest in die schlanken, kundigen Kapitel, der ahnt schon, dass hier Nil-Stories anders erzählt werden: als Fluss der Geschichte, als Reisebeschreibung, als Geschichtsbuch, als Bericht darüber, wie sich Zivilisationen und Kulturen am Wasser und mit dem Wasser entwickelt haben.
Doch der Reihe nach. Der Autor heißt Terje Tvedt, ist norwegischer Geograph und lehrt an den Universitäten von Bergen und Oslo. Wasser ist sein Thema und der Nil seine Leidenschaft. Glaubt man seiner Publikationsliste im Anhang, so begleitet ihn die Nil-Forschung seit Jahrzehnten. Der Fluss der Flüsse hat es ihm angetan und dabei gilt sein besonderes Interesse der Gesellschaftsgeschichte. Also, was macht der Nil mit Menschen und Kulturen? Wie schreibt sich der Fluss ein in die Lebensweise und in die Lebensgeschichten der elf afrikanischen Völker, die sich den Wasserlauf teilen? Das erzählt Tvedt alles andere als professoral. Im Gegenteil, was er am Nil und auf dem Nil erlebt hat, was er gelesen, erforscht und erfahren hat, fasst er mit leichter Feder in smarten Abschnitten zusammen.
Blick auf Agouza/ Kit Kat © Roshanak Zanganeh
Neun große Kapitel sind es an der Zahl und sie folgen der Flussgeschichte von der Mündung bis zu den Quellen. Begonnen wird zunächst mit einer Einleitung, die wie ein Appetizer Lust auf mehr macht. Denn hier entfaltet der Autor auf wenigen Seiten die Eigenheiten des Nils. Und die machen Staunen: 6800 Kilometer lang ist dieser längste Fluss der Erde, Gesellschaften und Kulturen von etwa 1000 Ethnien sind an seinen Ufern entstanden und Flora und Fauna haben ganze Regionen geprägt. Unfassbar erscheint die Tatsache, dass der Nil trotz seiner gewaltigen Ausdehnung nur sehr sehr wenig Wasser führt - gerade einmal sechs Prozent des Kongoflusses und nur ein Prozent des Amazonas. Warum nur? Weil er erstens über weite Strecken keine Zuflüsse hat und zweitens 2700 Kilometer durch die staubtrockene, glühend heiße Sahara fließt.
Corniche in Kairo © Roshanak Zanganeh
Für Kenner und Freunde Ägyptens mögen gerade die ersten beiden Kapitel reizvoll sein. Es beginnt mit dem Faszinosum Fayoum, wo sich vor 7000 Jahren die ersten Klimaflüchtlinge niederließen. Die Sahara wurde zur Wüste und im Fayoum fanden die Menschen Zugang zum Wasser. Feste Wohnsiedlungen entstanden und „die allererste Landwirtschaftsregion der Weltgeschichte“. Der fruchtbare Nilschlamm, der nach jeder Flut auf den Äckern zurückblieb, bescherte den Bewohnern reiche Ernte.
Außerordentlich fruchtbar und umgeben von Wüste, so sieht der Autor im Fayoum ein Spiegelbild Ägyptens. Denn wie in der Oase, wird im ganzen Land die Wasserknappheit immer größer, obwohl dem Land immer mehr Wasser zugeführt wird. Eine prekäre Situation.
In großen Schritten schreitet Terje Tvedt durch die Flussgeschichte, berichtet vom Alten Ägypten und deren Einteilung in ein diesseitiges und jenseitiges Flussufer, also vom Westufer als dem Reich des Lebens und vom Reich des Todes an der Ostseite. Er beruft sich auf Herodot, der vor 2500 Jahren beschrieb, wie Bauern im Delta Flussbewässerung betrieben, wie im Delta eine der allerersten Landwirtschaftsregionen der Weltgeschichte entstand. Er geht auf die Ägypten-Eindrücke von Literaten wie Gustave Flaubert und Hendrik Ibsen ein, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ersterer war fasziniert vom „verwirrenden Chaos von Farben“ der arabischen Welt, der zweite eher abgestoßen von einer Gesellschaft in „Stillstand und Unfreiheit“.
Wie unterschiedlich die beiden Quellflüsse sind, wird in den folgenden Kapiteln kenntnisreich erläutert: Der Blaue Nil entspringt in Äthiopien und legt von seiner Quelle 2500 Kilometer zurück, ehe er Khartum erreicht. Er wird von vielen Quellflüssen gespeist und liefert 80 Prozent allen Wassers, das nach Ägypten fließt. Dramatisch sind seine saisonbedingten Schwankungen: 90 Prozent der gesamten Wassermenge, die er transportiert, laufen im Herbst durch sein Bett.
Dagegen schwankt die Wassermenge des Weißen Nils deutlich weniger. Der Weiße Nil hat nur wenige Zuflüsse im Süden und durchquert einen gigantischen Sumpfsee. Von Juba im Südsudan legt der Weiße Nil nochmals 4800 Kilometer zurück stromaufwärts durch Uganda, wo die großen Seen Zentralafrikas das riesige natürliche Reservoir des Weißen Nils bilden.
Beide Quellflüsse und seine Anrainerstaaten werden in großen Kapiteln mit ebenso spannenden wie unterhaltsamen Anekdoten, Erfahrungsberichten, aber auch mit Fakten erläutert. Vom Sudan (und den häufigen Spannungen mit Ägypten wegen der Wasserrechte) geht es weiter nach Uganda, Kenia, Tansania und zu den Nilquellen in Zentralafrika. Jedes Land hat für sich Projekte zur Stromversorgung und Bewässerung entwickelt. Ganz zu schweigen von den Abenteuern und besonderen Gästen am Nil: Etwa wenn „The African Queen“ mit Humphrey Bogart und Kathrine Hepburn an den Nilquellen drehten oder wenn Barak Obama zu Besuch an den Viktoriasees kam.
Im letzten Kapitel folgen Eritrea und Äthiopien. Auch hier belegt der Autor, wie tief der Fluss in die Kultur der Länder eingeschrieben ist. Etwa wenn Zehntausende von äthiopisch-orthodoxen Christen in Bahia Dar alljährlich mit heiligem Nilwasser feierlich getauft werden.
Diplomatisch äußert sich der Autor zum Grand Ethiopian Renaissance Dam. Die Zukunft des Nils hänge von der Frage ab, „ob die Anrainer den Fluss kooperativ nutzen“. Immerhin sei der Nil die Lebensader für fast eine halbe Milliarde Menschen. Und die Zukunft des Nils habe existentielle Folgen für die regionale und die globale Politik.
Tvedt fordert Solidarität der Länder mit dem Fluss und verweist auch auf die Umweltsünden, die begangen worden sind, wie beispielsweise in Oberägypten, wo zehn Prozent seiner Wassermenge abgezwackt werden, die „in der nubischen Wüste verdampfen“.
Nilfähre in Kairo © Roshanak Zanganeh
Die Lektüre von Terje Tvedts Nil-Buch ist lohnenswert, leicht und angenehm zu lesen. Das Buch ist sorgsam ediert mit Zeitleiste und kommentierten Anhängen versehen und überaus kenntnisreich geschrieben. Leider liest sich die Übersetzung nicht immer geschmeidig. Und wir Augenmenschen wünschen uns mehr Bilder zu den vielen Geschichten. Vor allem aber Karten als geografische Hilfestellung.
Terje Tvedt: Der Nil, Fluss der Geschichte. Links Verlag Berlin, 2020, 35 Euro