Im Katharinenkloster führen griechisch-orthodoxe Mönche einen 17 Jahrhunderte alten Lebensstil fort. Gleichzeitig öffnen sie sich der digitalen Welt, um ihre einmalige Manuskriptsammlung online zugänglich zu machen.

Father Justin trägt einen langen weissen Bart und eine weite schwarze Kutte; das Haar im Nacken zusammengebunden, auf dem Kopf eine runde Kappe. In den Tiefen dieser orthodoxen Mönchstracht, wie sie im Katharinenkloster seit Jahrhunderten getragen wird, steckt ein iPhone 6s. Father Justin mag zwar aussehen wie Vater Abraham, aber er hantiert mit der neusten digitalen Technologie. Und er mag zwar in der Wüste Sinai leben, doch das Forschungsprojekt, an dem er hier mitwirkt, ist weltweit führend. Denn das iPhone ist nur ein nettes Gadget im Vergleich zu der Apparatur, die hinter den 15 Jahrhunderte alten Klostermauern installiert ist. Der Bestand der ältesten Bibliothek der Welt wird integral fotografiert und ins Netz gestellt. Hochaufgelöst, in Farbe. Und Father Justin beaufsichtigt als Bibliothekar das Projekt.

«Wir wollen teilen, was wir haben»

Der 71-Jährige, gross und schlank, geht leicht gebückt und strahlt trotzdem Heiterkeit und eine tiefe Würde aus. Er öffnet die Tür zu einem Raum, in dem ein schwarzes Zelt aufgespannt ist. Darunter steht eine Maschine, die aussieht wie ein falsch zusammengebauter Hometrainer. Seit Jahren tritt hier alle zwei Monate ein griechisches Expertenteam an: Es spannt die Manuskripte auf das Gerät und lichtet Blatt um Blatt ab. Tausende Seiten sollen am Ende in die Datenbank der University of California eingespeist werden; daran beteiligt ist die Nonprofitorganisation Early Manuscripts Electronic Library. Wegen Covid-19 pausieren die Arbeiten allerdings zurzeit; es soll im Frühjahr weitergehen.

Father Justin ist der Spiritus Rector beim Digitalisierungsprojekt im Katharinenkloster © Roshanak Zangeneh

Bis zu 17 Jahrhunderte haben die Schriften dank dem knochentrockenen Wüstenklima bereits überstanden. Nun werden ihre Inhalte gerettet bis in alle digitale Ewigkeit – und so zugleich greifbar gemacht für Forscher auf der ganzen Welt. «Wir wollen teilen, was wir haben», sagt Father Justin, «wir möchten unser spirituelles Erbe weitherum bekannt machen und geschätzt wissen.» Die Zahl der Wissenschafter, die Sinai-Manuskripte studierten, wachse bereits exponentiell.

Besteht die Vermutung, dass sich unter einem Text ein noch älterer Text verbergen könnte, so kommt ein komplizierteres Verfahren zur Anwendung – die multispektrale Fotografie. Jede Seite wird in verschiedenen Wellenlängen belichtet, von Infrarot bis Ultraviolett. Wie durch Magie tauchen so für das blosse Auge unsichtbare Buchstaben auf. Ein Algorithmus weiss zwei oder manchmal sogar drei übereinanderliegende Handschriften voneinander zu unterscheiden. Gerettet ist das Palimpsest! Das sind Texte, die Mönche einst wegkratzten, um das rare und teure Pergament, getrocknete Tierhaut, noch einmal überschreiben zu können.

In den jahrhundertealten Schriften ist jede Seite ein Unikat © Roshanak Zangeneh

160 Texte aus dem 4. bis zum 12. Jahrhundert sind in den letzten Jahren dank dieser Methode neu entdeckt worden. Darunter eine mit farbigen Abbildungen von Kräutern illustrierte Heilkunde von Hippokrates sowie zwei Handschriften in längst ausgestorbenen Sprachen. Texte, die Mönche im Mittelalter für nicht mehr relevant hielten, sind heute Sensationsfunde.

Die älteste Bibliothek der Welt

Die klerikale Bibliothek im Katharinenkloster gilt als älteste und zweitwichtigste der Welt – gleich nach derjenigen des Vatikans. Alles in allem rund 5000 Manuskripte werden laut Father Justin heute dort verwahrt. Elf Sprachen sind darin vertreten. 1975 brachen Arbeiter versehentlich eine Klosterwand ein; dahinter wurde ein Raum mit Hunderten Manuskripten gefunden. Und nun geht dank der Erforschung der Palimpseste die wundersame Büchervermehrung weiter.

Arabisch und Griechisch stehen in dieser Handschrift Seite an Seite © Roshanak Zangeneh

Die multispektrale Fotografie sei erst vor wenigen Jahren entwickelt worden, sagt der Bibliothekar, und sie werde im Kloster zum ersten Mal für eine komplette Sammlung angewendet. Anderswo schaue man sich nun gerne ab, was sich hier als beste Methode herauskristallisiere.

Allein, das beste Stück des Klosters fehlt bis auf wenige Blätter. Es ist der Codex Sinaiticus aus dem 4. Jahrhundert, eine der ersten Bibelhandschriften. Im 19. Jahrhundert wurde der Albtraum jedes Bibliothekars wahr: Der Theologe Konstantin von Tischendorf lieh sich den Codex aus und brachte ihn nie mehr zurück. Via Russland gelangte das Manuskript unter Stalin nach England, wo es bis heute zu den Prunkstücken des British Museum zählt. «Sie wissen sehr wohl, dass wir es gerne zurück an seinem rechtmässigen Platz hätten», bemerkt Father Justin trocken.

Die klerikale Bibliothek im Katharinenkloster gilt als älteste der Welt © Roshanak Zangeneh

Die physischen Exemplare bleiben wichtig. Vor drei Jahren ist die Bibliothek in einen frisch renovierten Klostertrakt transferiert worden. Nun soll jedes Buch nach und nach in massgefertigten Metallboxen horizontal gelagert werden – dank finanzieller Hilfe der Saint-Catherine-Stiftung und deren Unterstützern in Genf. Die Metallboxen dienen auch als Schutz für die alten Hüllen, denn während in vielen Bibliotheken alte Bucheinbände durch neue ersetzt wurden, hatten die Mönche auf dem Sinai sich stets dagegen gewehrt. Heute gehören gerade die intakten originalen Einbände mit zur Einzigartigkeit dieser Sammlung.

Massgefertigte Metallboxen sollen dafür sorgen, dass der Bücherschatz auch weitere Jahrhunderte unbeschadet übersteht © Roshanak Zangeneh

Lettern aus purem Gold

Die Klosterbibliothek ist ein hoher Raum mit einer Galerie und einem kleinen Lesesaal. Vorsichtig holt Father Justin ein Lektionar – eine für den Gottesdienst erstellte Sammlung biblischer Lesungen – aus dem 11. Jahrhundert aus dem Regal: das griechische Manuskript 205. Der Einband ist aus vergoldeter Bronze, die im 16. oder 17. Jahrhundert auf das ursprüngliche Leder geheftet worden sei. Er blättert darin. «Jeder Buchstabe auf jeder Seite ist aus Blattgold, der Text leuchtet beim Lesen und blitzt bei jedem Umblättern auf. Atemberaubend.» Früh von der byzantinischen Kultur fasziniert, könnte Father Justin sich auf Erden nichts Besseres erträumen, als hier Bibliothekar zu sein.

Ein Schatz, in dem unvorstellbare Arbeit steckt: Das Manuskript 205 ist in vergoldete Bronze gefasst und ganz mit Blattgold geschrieben © Roshanak Zangeneh

Father Justin kommt aus Texas und ist der einzige Nichtgrieche unter den derzeit 25 Mönchen im Kloster. Er musste sich dafür zunächst in einem griechischen Kloster bewähren und die Sprache lernen. Seit bald 25 Jahren lebt er nun hier, 1585 Meter über dem Meer im kargen, gebirgigen Süden der Halbinsel Sinai.

So kostbar die Bücher sind – die Arbeitsplätze im Lesesaal sind von äusserster Schlichtheit © Roshanak Zangeneh

Im 3. Jahrhundert kamen die asketischsten unter den Christen in dieses Gebirge, um ihr Leben in Höhlen ganz Gott zu widmen. Es wurden ihrer immer mehr. Kapellen und Kirchen entstanden. Im 6. Jahrhundert liess Kaiser Justinian I. das Kloster samt Basilika und Festungsmauern errichten. Der Busch innerhalb dieser Anlage wurde nicht etwa zur Dekoration eingepflanzt, sondern das Kloster vielmehr rund um den Busch erbaut: Es soll der brennende Dornbusch sein, aus dem einst Gott zu Moses sprach.

Die imposante Klosteranlage hebt sich farblich kaum von ihrer Umgebung ab © Roshanak Zangeneh

Geschätzte 3400 Jahre später postet Father Justin ein Foto von dessen lila Blüten in seinem Blog. Täglich bringt er Frömmigkeit und Technikaffinität zusammen. «Heutzutage haben wir Strom, Telefon und das Internet. Die Isolation ist zu einem Ende gekommen», sagt er, «und wenn man so will, auch die Askese. Heute müssen wir Mönche diese Austerität aus eigenem Willen leben, um das spirituelle Erbe zu bewahren.» Um völlige Abschottung zu erleben, verbringe er öfters einige Tage allein auf einem Berg.

Leben wie vor 1700 Jahren

Das Katharinenkloster ist das älteste kontinuierlich geführte christliche Kloster der Welt. Die fromme Lebensweise der Vorväter weiterzuführen, sei die wichtigste Aufgabe der Mönche. Zur Tradition gehört die fixe Tagesstruktur: Drei Gottesdienste am Tag, der erste von 4 bis 7 Uhr 30 in der Früh. Ein Leben lang, von Generation zu Generation, seit 1700 Jahren. Obschon die Region seit dem 7. Jahrhundert muslimisch ist, wurde das Kloster nie angegriffen. Im Gegenteil, muslimische Herrscher wie auch die ansässigen Beduinen schützten und verehrten es. Die Kopie eines Schutzbriefs des Propheten Mohammed gehört zu den interessantesten arabischen Dokumenten in den Beständen des Klosters. Auch eine Moschee samt Minarett innerhalb seiner Mauern zeugt vom friedlichen interreligiösen Miteinander.

Jahrhundertelang ist nichts passiert, bis zum April 2017, als IS-Attentäter einen Polizisten bei einem Checkpoint rund hundert Meter vor den Klostermauern erschossen. Fotografiert man die Manuskripte auch aus Angst, sie zu verlieren? Vater Justin geht darauf nicht näher ein, betont aber, dass das Kloster schon immer einen besonderen Status gehabt habe, derweil der ganze Nahe Osten im Verruf stehe, unsicher zu sein.

Wäre Covid-19 nicht, so würden fast täglich Touristen das Kloster besuchen. Zur Besichtigung des Klostergeländes und seiner berühmten Ikonensammlung gehört für die meisten Pilger auch der Aufstieg zum Berg Sinai, an dessen Fuss die Anlage liegt. Es heisst, Moses habe auf dem Gipfel dieses Berges die Zehn Gebote in Empfang genommen. Heute nehmen Wanderer zuoberst eine heisse Schokolade und vielleicht ein Bounty entgegen.