Vor rund 120 Jahren ist die Genizah von Kairo entdeckt worden. Ihre rund 300 000 Dokumente umfassen 1000 Jahre und 90 Prozent allen Wissens über das Leben der Juden im Mittelalter. Manche Experten sagen, dieser Fund sei wichtiger als die Schriftrollen vom Toten Meer.
Die Juden haben ihren eigenen Indiana Jones: Er heisst Rabbi Solomon Schechter. Dieser reale Gelehrte kann es mit dem fiktiven Archäologen spielend aufnehmen. Wie nach ihm Harrison Ford im Film „Raiders of the Lost Ark“ reiste Solomon Schechter einer heissen Spur folgend nach Kairo, um dort im ältesten Stadtteil Fustat einen Schatz zu bergen. An einem Wintertag im Jahr 1897 kletterte Rabbi Schechter in der Ben Ezra Synagoge eine Leiter hoch, um durch ein Loch in der Wand in ihren Stauraum zu gelangen. Drinnen entdeckte er unter einer dicken Staubschicht eine schier endlose Quelle an Wissen: Zehntausende von schriftlichen Dokumenten, die sich über eine Zeitspanne von mehr als 1000 Jahren hier angesammelt hatten. Die Kairo Genizah. Dieser Fund hat die jüdische ebenso wie die islamisch-mittelalterliche Geschichtsschreibung verändert und bereichert - und tut es bis heute.
Solomon Schechter bei der Arbeit in der Cambridge University Library, 1898 © Syndics of Cambridge University Library
Wo Gott draufsteht, ist die ganze Schrift heilig. So will es die rabbinische Tradition. Einmal ausser Gebrauch, kann man solche Dokumente nicht einfach in den Müll werfen. So kommt es, dass etwa abgenutzte Thorarollen rituell beerdigt oder, zumindest bis dahin, in einem Depot verstaut werden: in einer Genizah. Die mittelalterliche jüdische Gemeinde von Fustat hat diese Tradition offenbar ausgeweitet auf alles Schriftliche: Denn in ihrer Genizah fanden sich neben religiösen Schriften auch säkulare Alltagsdokumente. Wie durch ein Wunder ist diese Synagoge zudem seit ihrem Wiederaufbau um 1025 nie geleert, ausgeraubt oder zerstört worden. Es hiess, eine Schlange bewache den Eingang. Das mag geholfen haben.
Nach gut 1000 Jahren Gebrauch war die Genizah ganz schön vollgestopft. Als „Schlachtfeld von Büchern“ beschreibt Solomon Schechter, was er damals bei ihrem Betreten erblickte: „Die literarische Produktion vieler Jahrhunderte hat an dieser Schlacht teilgenommen, und ihre versehrten Glieder sind nun auf dem ganzen Gelände zerstreut. Einige Kriegsteilnehmer sind zu Staub zerrieben worden (…), während andere zu grossen, unansehnlichen Klumpen gepresst worden sind.“
Das Heilige und das Profane kamen sich hier ganz nah. Thoras, Talmude, Haggadas und Bibeln hatten sich vermischt mit Gerichtsurteilen, Heiratsverträgen, Schulheften, Geschäftsabschlüssen, Einkaufszetteln und Kochrezepten. Auf Pergamenten, Papyri und Papier. In Sprachen von Arabisch bis Ugaritisch - meist in hebräischen Buchstaben geschrieben. Manche Experten sagen, die Kairo-Genizah sei wichtiger als die bekannteren Qumranschriften, die 50 Jahre später am Toten Meer entdeckt worden sind. Denn die Genizah umfasst einen viel weiteren Raum: zeitlich, inhaltlich sowie geographisch. Ein Teil der Funde aus den Höhlen von Qumran, die Damaskusschrift, war bereits als Abschrift im Kairoer Fund enthalten.
Wer sich ein wenig im Judentum auskennt, weiss, dass jede Synagoge eine Genizah hat. Jahrhunderte lang hatte dieser papierene Schatz versteckt vor aller Augen dagelegen. Anscheinend hatte man dessen Existenz mit der Zeit verdrängt. Zwar hatten im 19. Jahrhundert bereits ein paar Interessierte vor Schechter den Raum erklommen und sporadisch Manuskripte mitgehen lassen. Doch erst der gelehrte Rabbi erkannte dessen wahren Wert. Er liess alles in Kisten packen und nach Cambridge, England, verschiffen. Die Wächter der Synagoge hätten ihm angeboten, mitzunehmen, was ihm gefalle - und ihm habe nun mal „alles gefallen“.
In einem klimakontrollierten Raum der Universitätsbibliothek Cambridge lagert deshalb bis heute der grösste Teil der Kairo-Genizah: 190 000 von insgesamt rund 300 000 Dokumenten. Ihr Gralshüter ist Professor Ben Outhwaite. Die Forschung sei immer noch daran, diesem Schlachtfeld von Büchern Herr zu werden: „Die Genizah enthält tatsächlich die ganze jüdische Welt!“, betont er. Und ironischerweise entspringe auch eines der besterhaltenen Archive für das muslimische Mittelalter derselben Synagoge. Das älteste undatierte Objekt der Genizah stamme vermutlich aus dem fünften Jahrhundert, das jüngste von 1880. Ihre Dokumente kommen gemäss Outhwaite aus so weit voneinander entfernt liegenden Ländern wie Spanien, Malaysia, Tajikistan oder Iran. Erst mit dem Fund der Genizah habe die Welt erfahren, wie im Mittelalter jüdisches Leben im arabischen Raum ablief, wie und wo gehandelt wurde, was für Gesetze galten, in welchen Sprachen schriftlich kommuniziert wurde oder wie Juden und Muslime damals zusammen auskamen - besser als angenommen. „Vor dem Fund wusste man über 10 Prozent der damaligen Juden Bescheid“, sagt Professor Outhwaite, „die Genizah füllte danach eine 90-prozentige Lücke.“
Der Hüter der Fragmente - Professor Ben Outhwaite © Susanna Petrin
Nach Kairo gelockt hatte Schechter ursprünglich ein Auszug aus einer originalen hebräischen Kopie der Ben Sira, einer seit tausend Jahren verloren geglaubten Sammlung weisheitlicher Sprichwörter. Seither sind viele weitere Höhepunkte hinzugekommen: erste, älteste, einzigartige. Die Genizah enthält die beiden ältesten Haggaddas der Welt, die erste musikalische Komposition für jüdische Liturgie, das älteste auf Jiddisch verfasste Dokument. Zum ersten Mal tauchten handschriftliche Dokumente von Maimonides auf; dieser grosse jüdische Philosoph lebte im Mittelalter in Fustat und leitete die jüdische Gemeinde Ägyptens.
Daneben zeugen Liebes- und Beschwerdebriefe davon, dass die Menschen vor 1000 Jahren sich in ihren Freuden und Nöten kaum von uns unterschieden haben. Eine Ehefrau bittet ihren Mann, zurückzukommen, nachdem dieser es nicht mehr länger ertragen hatte, mit ihr bei den Schwiegereltern zu wohnen – und überdies dort Miete zu bezahlen. Ein Lehrer beschwert sich bei den Eltern über deren Kind, das sich in der Schule daneben benommen habe.
Eine Sensation für christliche Wissenschaftler war der Fund einer hebräisch-griechischen Ausgabe des Alten Testaments, der Hexapla von Origenes. Blass versteckte sie sich unter einer anderen Schrift. Ein Palimpsest. Das heisst, jemand hatte das Pergament, auf dem die Hexapla geschrieben stand, für eigene Zwecke wieder verwendet. Doch weggeputzte Tinte scheint mit der Zeit wieder auf, die Hexapla war unfreiwillig gerettet. Zehn Jahre später wiederum kam jemand auf die Idee, den klar lesbaren Teil des Palimpsestes genauer zu untersuchen. Es stellte sich heraus, dass es sich dabei um die verloren geglaubten Gedichte des bekannten Poeten Jenai handelte.
Dieser Vorfall ist typisch für die Genizah; sie ist auch eine Geschichte des Übersehens von Offensichtlichem. Wieder und wieder wird etwas entdeckt, das die ganze Zeit vor einem gelegen hatte. Überhaupt hält dieser Schriftschatz nicht nur Professor Outhwaite noch bis zu seiner Pensionierung in etwa 25 Jahren beschäftigt. „Es liegen noch Jahrzehnte an Arbeit vor uns“, sagt er: „Vor über 100 Jahren wurden diese Dokumente in Cambridge deponiert, trotzdem sind erst 50 bis 60 Prozent katalogisiert.» Digitale Computerverfahren sollen das Entziffern und Zusammenführen von Dokumenten nun beschleunigen. Vorsichtshalber bewahren die Forscher nicht nur jedes briefmarkengrosse Stückchen Papier auf, sondern sogar jedes Staubkorn. Outhwaite hält ein Marmeladenglas voller Genizah-Schmutz in die Höhe. Man wisse ja nie, wozu die Technologie der Zukunft fähig sein werde.