Ist der Muezzinruf eigentlich „nur“ ein Ruf? Oder steckt auch noch Musik in ihm? Beides scheint unlösbar miteinander verwoben zu sein.
Minarett und Muezzin. Beide gehören zusammen wie Tag und Nacht und gelten als Inbegriff sicht- und hörbarer Wahrzeichen des Islams. Der fünfmal täglich erklingende und damit immer gegenwärtige Ruf des Muezzin prägt den gesamten islamischen Kulturkreis und gehört in Ägypten, insbesondere in Kairo, zu den intensiven auditiven Eindrücken. „In Ägypten gibt es die schönsten Rufe zum Gebet“, kommentiert ein You-Tube-Nutzer ein Videobeispiel eines Muezzinrufes.
Der Adhan - ein Ruf „von unvergleichlicher Schönheit“?
Der islamische Gebetsruf, der Adhan, fordert traditionell in arabischer Sprache fünfmal täglich zum gemeinschaftlichen Gebet (salat) auf. Adhan bedeutet so viel wie „zuhören“ oder „informiert sein“. Er wird von einem Gebetsrufer, dem Muezzin, live verkündet; früher gut hörbar vom Minarett aus, heutzutage immer mehr mit einem Mikrophon aus dem Moscheeraum in Lautsprecher, die in die vier Himmelsrichtungen am Minarett angebracht sind. Ohne diese technischen Hilfsmittel war das Rufen zum Gebet eine aufwändige Aufgabe, denn der Muezzin musste nicht nur fünfmal täglich das Minarett oder Dach der Moschee erklimmen, sondern jeweils viermal hintereinander, nämlich in jede Himmelsrichtung, seinen Ruf verkünden.
Unmittelbar vor Beginn des Gebets im Inneren der Moschee erklingt nochmals die Iqama, der mit dem Adhan fast identische Gebetsaufruf. Im Gottesdienst selbst gibt es keine liturgische Musik, wie sie etwa christliche Europäer kennen, sondern man beschränkt sich auf Koranrezitationen, wenige Dialoge zwischen Vorbeter und Gemeinde sowie die an melodischen Verzierungen reichen Gebetsrufe.
Die Institution des Muezzinrufs stammt der Sage nach aus der Zeit des Propheten Mohammed, der in der Stimme eines Muezzin ein Pendant zu den Glocken der Christen und der Trompete der Juden suchte, um die Leute zum Gebet aufzufordern. Der erste Muezzin soll der Abessinier Bilal al-Habashi gewesen sein, ein freigelassener Sklave und enger Vertrauter Mohammeds, dessen „Stimme von unvergleichlicher Schönheit gewesen sein soll“, so dass er „dem zweiten Kalifen … mit der Begründung, dass dessen Stimme zu rau sei“ vorgezogen wurde, wie der Islamwissenschaftler Elsayed Elshahed erklärt. So wurde der Sklave allein wegen seiner Stimme, „nur darum – und nicht etwa darum, welcher Klasse er angehörte – ging es“, so Elshahed, „der erste Muezzin mit dem Ehrentitel „Gebetsrufer des Propheten“ … Wer heute regelmäßig zum Gebet einladen will, muss deshalb noch immer über eine besondere Stimme verfügen. Schön und gefühlvoll muss sie sein.“
Leider wird dieser Grundsatz in der heutigen Praxis nicht durchgängig beachtet. Immer wieder hört man aus den Lautsprechern Stimmen, die nicht „von unvergleichlicher Schönheit“ sind, sondern eher eine verstörende Wirkung haben, wie der Beitrag „Misstöne vom Minarett“ der Deutschen Welle 2010 eindrucksvoll vorführt. Deshalb hat man in Ägypten den Gebetsruf seit 2009 zentralisiert. Dort wird seitdem der Adhan in den staatlichen Moscheen live per Radio verbreitet.
Der Muezzin ruft – er singt nicht
Die Stimme des Muezzin ist also von herausragender Bedeutung, um zum Gebet zu rufen. Er muss ein Naturtalent sein, denn man kann den „Beruf“ Muezzin nirgendwo erlernen oder gar studieren. Ein guter Muezzin, vom Mufti dazu ernannt, ist ein erfolgreicher Autodidakt, der eine islamische Schule besucht hat und sich ständig in Koranrezitation und dem Singen von Koranversen übt, manchmal auch musikalischen Unterricht bekommt, um sein Gehör und seine Stimme zu schulen, damit er den richtigen Ton trifft und der Ruf tatsächlich anlockt und nicht eher abschreckt. Darin erschöpft sich aber schon das musikalische Moment der Muezzinpraxis: Ein Muezzin soll mit einer schönen, kraftvollen Stimme emotional bewegt rufen, um die Gläubigen zum Gebet aufzufordern, er soll nicht singen, um den Gläubigen seine schöne Stimme und seine Intonationssicherheit zu vorzuführen. In ihrer Funktion unterscheiden sich folglich Muezzin und Sänger grundlegend. Auch wenn die Gebetsrufe von reichhaltigen melodischen Verzierungen geprägt und musikalisch anspruchsvoll sind, bleiben sie in ihrer Funktion ein Ruf im Allgemeinen und ein kultisches Ritual im Besonderen. Sie sind letztendlich eine traditionelle Form kultischer Rezitation ohne Instrumentalbegleitung. Sowohl die Koranrezitation als auch der Muezzinruf werden von den muslimischen Geistlichen auch nicht als „Musik“ oder „Gesang“, sondern als „Lesen mit schöner Stimme“ verstanden.
In europäischen Abhandlungen zum Adhan wird dagegen immer wieder von dem „unvergleichlichen Gesang“ eines „Sängers“, dessen „Gesangstechnik“ oder „Gesangsstil“ gesprochen. Auf You tube findet man unter den Stichwörtern „Muezzin Gesang“ zahlreiche Videobeispiele rufender Muezzins. Doch im Kern sind diese Begriffe nicht richtig. Allein die Stimmtechnik eines Muezzins lässt jeden klassisch ausgebildeten Sänger erschaudern: Denn der Muezzin ruft mit „einer gepressten Stimme, bei der der gesamte Atmungsapparat in Anspannung versetzt ist, um recht lange singen zu können; der Sänger schöpft für einen Atemzug Luft, presst und staut sie an, bis die Halsadern schwellen, das Gesicht rot anläuft und auf der Stirn über der Nasenwurzel senkrechte Falten entstehen“, so Dorit Klebe in ihrem Aufsatz „Musik im Islam“.
Heterophonie
Wurde der Adhan in Ägypten zwar für die staatlichen Moscheen zentralisiert, rufen ihn in den zahlreichen privaten Moscheen nach wie vor Muezzins unterschiedlicher Stimmqualität und Begabung gleichzeitig mit einem oft fragwürdigen Klangresultat.
Andererseits liegt in diesem Zusammenklang aber auch ein gewisser Reiz. Denn da jeder Muezzin unterschiedlich intoniert und dazu den Ruf nie auf die Sekunde genau mit dem für seine Moschee berechneten Zeitpunkt beginnt, entsteht in Orten mit mehreren Moscheen ein Vielklang, eine Art sogenannter Heterophonie, auch „unreines Unisono“ genannt. Diese klingt fast, aber eben nur beinahe, einstimmig, weil die einzelnen Stimmen sich nur in Nuancen oder Schwingungen unterscheiden. Echte Polyphonie, bei der mehrere eigenständige Stimmen gleichzeitig erklingen und wie sie für Epochen der europäischen Musikgeschichte wie der Renaissance und dem Barock so charakteristisch ist, gibt es in diesem Kulturraum nicht. Dort sind selbst instrumentale Melodien gesanglich und vokal gedacht.
Die Heterophonie der Muezzins, also diese charakteristische, verzerrte Einstimmigkeit, beruht auf den individuellen Abwandlungen und Interpretationen der eigentlich gleich gedachten Melodie des jeweiligen Adhan durch die einzelnen Muezzins mit ihrer unterschiedlichen Stimmqualität und Interpretation des Rufes. Sie fügen Varianten und Verzierungen ein, manchmal sogar improvisatorische Abschnitte, und gehen so individuell sowie spielerisch mit diesem Ruf um.
Die Musik im Adhan - Verwandtschaft mit der Maqam-Praxis
Kann man den Muezzinruf aufgrund seiner Funktion und seiner stimmlichen Aufführungspraxis also von einem musikalischen Klangerlebnis in eigentlichem Sinne abgrenzen, so ist er aus musikalischer Sicht formal mit der sogenannten Maqam-Praxis verwandt. Der Maqam ist das zentrale Element der arabischen, persischen als auch osmanisch/türkischen traditionellen Kunstmusik, sogar einzelner Bereiche religiöser Musik.
In der Maqam-Praxis ist der Musiker gleichzeitig Komponist und Interpret. Er begnügt sich damit, traditionelle, allgemein bekannte Melodien improvisatorisch immer wieder neu zu entfalten. Die Besetzung ist mit einem Sänger, einem Lauten- oder Zitherspieler, einem Flötisten und einem Trommler klein. Ein Maqam ist eine Art Melodiemodell, das die Oktave früher in 17, heute sogar in 24 Stufen unterteilt. Dadurch entsteht ein viel differenzierteres tonales System mit minimalen Intervallschritten als wir es aus unserem europäischen zwölfstufigen System, das nur mit Halb- und Ganztonschritten arbeitet, kennen. Innerhalb dieses komplexen Gesamtmaterials gibt es dazu zahlreiche Tonleitern, aus denen jeweils sieben Tonstufen und -beziehungen ausgewählt und hervorgehoben werden, wodurch die Melodiegestaltung ihren ganz eigenen Charakter bekommt.
Die Form der Maqam-Praxis ist immer gleich: In einer rhythmisch freien, improvisierten Einleitung, taqsim genannt, führt der Sänger oder einer der Instrumentalisten den gewählten Maqam in seinen individuellen tonalen Elementen ein und bereitet so sich selbst und die Zuhörer auf das Kommende vor. Der Taqsim ist noch ohne Trommelbegleitung. Diese setzt bei den folgenden Sätzen und Liedern ein, die immer wieder denselben Maqam variieren. So entsteht eine Reihe von einzelnen Stücken, die sogenannte Nauba. Sie ist eine Art Suite, die langsam beginnt, dann aber immer schneller wird und Musiker und Publikum sogar in eine Art Rausch versetzen kann. So eine Aufführung kann mehrere Stunden dauern. Dann folgen mehrere Suiten mit verschiedenen Maqamat hintereinander.- In der Heterophonie unterschiedlicher Muezzinrufe schwillt der Klang an und entwickelt sich zu einem musikalischen Höhepunkt, der meist den höchsten Ton der gewählten Skala erreicht, um dann wieder zum Ausgangston, dem Basiston der Maqam-Skala, absteigend zurückzukehren und auszuklingen.
Der Muezzin-Ruf ist vom Musikalischen her betrachtet also eine Art vokaler Taqsim, d.h. aus der ursprünglich individuellen, improvisierten Einleitungsmelodie der Maqam-Aufführung ist ein feststehender, ritualisierter Ruf geworden. Die traditionellen Melodiekompositionen der weltlichen Maqam-Praxis sind in den kultisch-religiösen übernommen worden, zu einem feststehenden, unveränderlichen Bestandteil mutiert und dadurch umfunktionalisiert worden. Hier findet sich die Erklärung für die Zwittergestalt des Muezzinrufs als Ruf mit gleichzeitig musikalischen Elementen, indem diese nämlich, aus dem Bereich der Musik kommend, in die nichtmusikalische Funktion des religiösen Rufes übergegangen sind.
Okzident versus Orient
Das funktionale Verständnis des Adhan als bedeutender Ruf zum Gebet entspricht insbesondere der islamischen Sichtweise, für die die musikalischen Elemente des Muezzinrufes bedeutungslos sind. Dies steht ganz im Gegensatz zu einer abendländischen Betrachtung:
„Das Verständnis von Musik und der Musikbegriff im Allgemeinen im Islam unterscheidet sich in einigen Aspekten erheblich von dem westlich/abendländischen; dies betrifft vor allem die Bereiche Mikrotonalität, komplexe rhythmische Zyklen (bis weit über 100 Zählzeiten) und spezielle Strukturen der Aufführungspraxis mit strengem Regelwerk einerseits und großen interpretatorischen Freiräumen andererseits. … Begriffe wie kultische, liturgische, geistliche und weltliche Musik, wie sie für die christliche Religionsgemeinschaften annähernd definiert werden können, sind in den muslimischen Kulturbereich nur bedingt zu übertragen“, schreibt Dorit Klebe. Damit trifft sie den Kern des Problems, den zwischen kultischer Funktion und musikalischem Ausdruck schwankenden Muezzinruf einordnen zu wollen. Denn der Muezzinruf, wie auch die Koranrezitation, wird aufgrund seiner bestimmten Klangart nach europäischen Maßstäben als Musik bezeichnet, die muslimische Hörer dagegen deutlich abgrenzen. Charakteristisch für diese Schwierigkeit sind z.B. Bestrebungen, die Melodien der Adhan mit unserem abendländischen Notationssystem erfassen zu wollen, so wie es Kurt Reinhard Anfang der 80er Jahre in mühevollen Transkriptionen versucht hat. Gerade unser Notationssystem, das auf der nur zwölftönigen Tonskala basiert, ist mit dieser Aufgabe schlichtweg überfordert. Kleinere Tonschritte als Halbtöne hat Reinhard etwa mit Kreuzen über entsprechenden Tönen zu markieren versucht, oder er verzichtete auf Taktangaben. Dem improvisatorischen Charakter der Musik, geschweige denn dem Original konnte er damit aber kaum gerecht werden. Er konnte aber beweisen, dass der Muezzinruf in seiner rein kultischen Funktion melodisch-musikalische Elemente enthält, die uns immer wieder aufhorchen und zuhören lassen.
Besonders eindrucksvoll kann man dieses Phänomen in Kairo von der Terrasse des Restaurants im Azhar-Park erleben: Die Muhammad Ali-Moschee auf der Zitadelle erstrahlt dann in der beginnenden Dunkelheit in ihrem alabasterblau festlich beleuchtet jenseits des Parks. Ihr Muezzin fängt an zu rufen und gibt damit das Startsignal für alle Muezzins der umliegenden Moscheen, auch mit dem Ruf zu beginnen. Die Muezzins setzen ringsum ein, es entsteht eine Art Wechselgesang. In der Heterophonie verschmelzen ihre Stimmen ineinander, und es entsteht ein faszinierender, aufgrund des feinstufigen Modalsystems obertonreicher Klangteppich, der einen umfängt und eine ganz besondere Atmosphäre herbeizaubert. Manchmal ist der Adhan eben doch „von unvergleichlicher Schönheit“