Das marode ägyptische Bildungssystem soll reformiert werden: nach Medienberichten mithilfe der Einrichtung japanischer Schulen in Ägypten . Hundert „Japanische Schulen“ sind laut einem Kooperationsabkommen zwischen Ägypten und Japan vom Mai 2017 für die nächsten Jahre geplant, fünf davon arbeiten bereits.
Bei der Bezeichnung „Japanische Schule“ mag man zuerst an eine der zahlreichen internationalen Schulen in Ägypten denken, wie z.B. die englischen, französischen, amerikanischen und deutschen Schulen, die in Ägypten als private Bildungseinrichtungen ausländischen und ägyptischen Schülerinnen und Schülern offenstehen. Diese Schulen bilden nach den Curriculum der Ursprungsländer aus, in der jeweiligen Sprache und mit entsprechenden Bildungsabschlüssen, wie z.B. dem deutschen Abitur, dem American Diploma oder dem britischen IGCSE. Wegen der oft sehr hohen Schulgebühren stehen diese Einrichtungen neben ausländischen Kindern nur wohlhabenden Ägyptern zur Verfügung. Ca. 1 Million ägyptischer Schüler besuchen laut Al-Ahram online zur Zeit diese privaten Schulen.
Bildungsnotstand im öffentlichen Schulwesen
An den sogenannten „Japanischen Schulen“ in Ägypten wird jedoch kein Japanisch unterrichtet und sie sind auch keine Privatschulen. Sie gehören zum öffentlichen Schulwesen, an dem zur Zeit ca. 22 Millionen ägyptischer Kinder und Jugendliche beschult werden. Hier herrscht Bildungsnotstand: Es fehlt an Gebäuden und ausgebildeten Lehrkräften, in viel zu kleinen Klassenräumen drängen sich in Ballungsräumen manchmal mehr als 100 Kinder, bis zu vier Kinder hocken um kleine Pulte, in der Regel wird in Schichten unterrichtet. Laut Bericht des Schweizer World Economic Forum lag Ägypten 2015/16 bei der Qualität der Primarschulbildung auf Platz 116 von 140, und die Nichtregierungsorganisation CARE ermittelte, dass die Analphabetenrate in manchen Grundschulen 80 Prozent erreicht, d.h. dass diese Kinder trotz Schulbesuchs nach der 6. Klasse nicht lesen und schreiben können. Sogar in der weiterführenden Schule beklagt Hanaa el Quassem, die Leiterin der staatlichen Rechtschreibförderprogramme, fundamentale Lese- und Schreibschwächen bei 35 Prozent der Jugendlichen.
Experimental Schools plus Tokkatsu
Im öffentlichen Schulwesen Ägyptens haben lediglich die experimental schools einen guten Ruf: Die Klassengröße liegt bei 45 Schülerinnen und Schülern, sie sind mit besser qualifizierten Lehrkräften ausgestattet, die ägyptischen Curricula werden in einer Fremdsprache, zumeist Englisch, unterrichtet. Allerdings müssen Eltern auch ein mäßiges Schulgeld bezahlen. Die neuen sogenannten „Japanischen Schulen" werden zum großen Teil an bestehenden experimental schools eingerichtet. Ihr besonderes Merkmal ist, dass neben den ägyptischen Fachcurricula ein japanisches Erziehungsprogramm, das „Tokkatsu plus", umgesetzt wird. Dieser in Japan praktizierte ganzheitliche Erziehungsansatz zielt auf eine ausgewogene Entwicklung von Intellekt, Geist und Körper durch Förderung der akademischen Kompetenzen, der emotionalen Vielfalt und gesunden physikalischen Entwicklung. Auf der Homepage des Center for Excellence in School Education at the Graduate School of Education an der Universität Tokyo erfährt man, dass „Tokkatsu", das sich mit „besonderen Aktivitäten“ übersetzen lässt, zum offiziellen Curriculum der Schulen in Japan gehört. Hier würden außerfachliche Aktivitäten wie Mittagessen, Freizeitaktivitäten und Schülerräte angeboten.
Grundschülerinnen im Arabischunterricht © jica
Der Pressesprecher des ägyptischen Erziehungsministeriums, Ahmed Khairy, erklärt in Ahram online vom 30.09.2017, dass diese Schulen in Ägypten sich neben wissenschaftlichen Inhalten auf die Förderung der Schülerpersönlichkeit konzentrieren würden. Mit einem besonderen System würden kognitive Fähigkeiten und das Verhalten der Schüler gefördert und gleichzeitig Kreativität und Innovationsgeist gestärkt. Die Klassenstärke in den "Japanischen Schulen" liege bei 40-45 Schülerinnen und Schülern, der Unterricht dauere bis 17 Uhr, durchschnittlich drei Stunden mehr als in den herkömmlichen Schulen. Die Eltern verpflichten sich, mindestens 20 Stunden an Workshops mit ihren Kindern in der Schule teilzunehmen. Den Lehrkräften sei es vertraglich untersagt, Privatunterricht zu erteilen. Zur Ausstattung der Klassenräume würden ein Smartboard und eine Stoppuhr gehören, um den Schülerinnen und Schülern Zeitmanagement näherzubringen. Zu den Aktivitäten würden Kochstunden und das Säubern der Schule zählen. Das Schulgeld betrage jährlich 2000 - 4000 LE.
Schüler sollen für ihre Klasse Verantwortung übernehmen © jica
Für September 2017 war in einem ersten Schritt die Eröffnung von landesweit 28 Schulen geplant. Die Standorte reichen in ausgewogener Verteilung von Edfu im Gouvernorat Assuan, über weitere Städte in Oberägypten und den Sinai bis hin zum Delta und die Nordküste. Anscheinend bevorzugt man neue Wohngebiete. Ein unerwarteter Ansturm mit 22 000 Anmeldungen innerhalb kurzer Zeit konnte jedoch nicht bewältigt werden und machte für die meisten Schuleröffnungen eine Terminverschiebung um ein Jahr nötig. Lediglich fünf neue Schulen in Shorouk, Togama al chames, Assiut und El-Menia nahmen den Betrieb auf. Nach einer Anhörung im Parlament wegen schlechter Organisation der Auswahl und fehlender Kriterien erarbeitet nun ein Komitee aus Wissenschaftlern und Experten verschiedener Fachrichtungen ein transparentes und effizientes Auswahlverfahren für Lehrer und Schüler.
Gemeinsame Bewegungsspiele sind ein wichtiger Bestandteil der Aktivitäten © jica
Laut japanischer Botschaft, so schreibt Cairo scene am 26.07.17, sei es das Ziel, in vier Jahren das ägyptische Erziehungswesen zu reformieren. Dazu seien im letzten Jahr bereits 2500 Studenten zu einem fünfjährigen Studium nach Japan geschickt worden. Diese Maßnahme ist eine von verschiedenen japanischen Investitionen in Ägypten, neben Elektro- und Bauwesen.
Weitere Projekte
Die Adaptierung des japanischen Programms für Sozial- und Personalkompetenz ist nur ein Projekt unter vielen zur Sanierung des maroden ägyptischen Schulwesens. Es gibt weitere Beispiele: Seit 2012 werden mit Unterstützung von USAID in allen 27 Gouvernoraten sogenannte STEM-Schulen, Abkürzung für Science, Technology, Engineering and Mathematics , eingerichtet. Sie sollen sowohl die naturwissenschaftliche Ausbildung fördern als auch neue experimentelle Unterrichtsmethoden umsetzen. Seit Jahren ist auch das Goethe-Institut in der Lehrerfortbildung tätig, bietet in ganz Ägypten Kurse für Lehrer und Schulleitungen sowie Stipendien in Deutschland an. 2011 wurden landesweit Leseprogramme/Readership-Programme zur Verbesserung der Lesekompetenz von Grundschülern eingeführt. Durch eine Reform der Curricula soll eine Reduzierung von Stoff und Prüfungen erreicht werden. Auch staatliche Schulen sollen an der Digitalisierung des Unterrichts partizipieren: Über die Egyptian Knowledge Bank – eine elektronische pädagogische Informationsplattform – sollen mehr Schüler Zugriff zu aktuellem Wissen erlangen. Dadurch soll die Chancengleichheit verbessert werden. Seit Jahren erhitzt die Diskussion um eine Umstrukturierung des Schulwesens und der Hochschulzugänge in Ägypten die Gemüter, ohne dass es zu wesentlichen Veränderungen kommen konnte.
Grundrecht auf freie Bildung – ein Mythos
Der Verfall des ägyptischen Bildungswesens begann paradoxerweise mit den Reformen unter Gamal Abdel Nasser, der mit kostenloser Bildung für alle einen Grundpfeiler für soziale Gerechtigkeit setzen wollte. Mittlerweile sind 90 Prozent aller Kinder in Ägypten in der Grundschule registriert, wobei der Schulbesuch von Jungen und Mädchen im Primarbereich relativ gleich ist. Quantitativ liegt das ägyptische Schulwesen an der Spitze der afrikanischen Länder.
Die Qualität der Schulbildung hat jedoch durch die rapide Erhöhung der Schülerzahlen nach der Öffnung der Schulen und durch die demographische Entwicklung umfassend gelitten. Zudem wurde das öffentliche Schulwesen zu lange vernachlässigt, so dass alle Bemühungen zu Reformen allenfalls marginale Erfolge zeigen. Während der 30 Jahre dauernden Regierung durch Mubarak wurde das Land vor allem für private internationale Schulen mit ausländischen Curricula und Abschlüssen geöffnet. Auch das legendäre Mubarak-Kohl-Projekt zur dualen Ausbildung fällt in diese Phase von Bildungsimporten. Nach Ansicht des Bildungsforschers Kamal Moghith habe Mubaraks Regierung vor allem Begüterten gute Bildungsmöglichkeiten geboten, während fast 96 Prozent der Familien mit mittlerem und niedrigem Einkommen einem schlechten Schulwesen ausgeliefert blieben. Das Grundrecht auf freie Bildung sei in Ägypten für die Mehrheit der Bevölkerung eine Farce, bestätigt auch eine Carnegie-Studie. Die Familien litten unter den staatlichen Schulen, auf die sie angewiesen seien. Sie müssten für Nachhilfestunden und Tutorien bezahlen, damit die Kinder die Schule erfolgreich besuchen könnten. Studien belegen, dass über 20 Prozent der Ausgaben ägyptischer Haushalte für Privatstunden gezahlt werden. Die Quote der Schulabbrecher ist hoch: In der Mittel- und Oberstufe sind lt. Statistischem Jahrbuch 2015/16 des Ministeriums für Erziehung nur noch ca. 60 Prozent der Schüler an Schulen eingeschrieben, d.h. 40 Prozent der Jugendlichen ab 12 Jahren besuchen keine Schule mehr. Die Auswirkungen auf die nationale Gesundheit und Volkswirtschaft sind desaströs.
Vielfältige Herausforderungen
Auch wenn unter der aktuellen Regierung die Reform des Bildungswesens vorrangige Bedeutung hat, scheint eine schnelle Lösung wegen der tiefgreifenden Probleme nicht vorstellbar. Mangelnde finanzielle Ressourcen sind dabei das geringere Übel. Sehr viel problematischer ist die geringe Effizienz der eingesetzten Mittel. Mehr als achtzig Prozent des Schulhaushalts fließt in die Gehälter von Personal, wobei der Großteil an Angestellte der Erziehungsbehörden geht, während Lehrkräfte weiterhin wenig verdienen. Seit Jahrzehnten haben sich korrupte Strukturen im System verfestigt: Schlecht bezahlte, unmotivierte Lehrkräfte verrichten in überfüllten Klassen schlechten Unterricht und bessern ihr mageres Gehalt mit privaten Stunden am Nachmittag auf - oft in der Schule mit derselben Schülergruppe, die sie im regulären Unterricht haben. Für die Älteren existiert ein Parallelsystem von privaten Lerninstituten, in denen die Jugendlichen für die Adadeya in Klasse 9 und die Thanaweya – die Zugangsberechtigung für die Universität – vorbereitet werden, anstatt am Unterricht in der Schule teilzunehmen.
Als größte Herausforderungen zur Reform des ägyptischen Schulwesens gelten die Ausbildung von Lehrkräften und deren angemessene Bezahlung sowie die Entwicklung zeitgemäßer Curricula und Lernkulturen, weg vom Memorieren zu mehr Kreativität und selbsttätigem Denken. Leider hat der Lehrerberuf in Ägypten ein sehr niedriges Sozialprestige. Die Ausbildung ist altmodisch vor allem auf Fachwissen ausgerichtet und es ist sehr schwierig, geeignete Anwärter für diesen Beruf zu finden.
Hinzu kommen schlechte bauliche Voraussetzungen: Nach UNICEF- Schätzungen genügen ca. 80 Prozent der 30 000 Schulen nicht den sanitären und pädagogischen Anforderungen. Es fehlen mindestens 10 000 Schulneubauten. In entlegenen Gebieten wird teilweise sogar noch im Freien unterrichtet.
Auch wenn das öffentliche Schulwesen in Ägypten zur Chefsache erklärt ist, braucht es neben finanziellen und planerischen Mitteln einen sehr langen Atem, Stärke und Durchsetzungsvermögen im Kampf gegen korrupte Strukturen und eine veränderungsfeindliche Bürokratie. Wie bei allen Entwicklungsmaßnahmen in Ägypten braucht es vor allem eine Verringerung des Bevölkerungswachstums, damit überhaupt eine Chance für positive Veränderungen besteht. Ansonsten bleiben alle Maßnahmen, wie auch die Einführung japanischer Erziehungsaktivitäten, Tropfen im heißen Wüstensand!